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Kapitel 1 – Kyrian
ОглавлениеKyr riss die Augen auf. Die Laken klebten an seinem schweißnassen Körper, der Puls klopfte hart in den Ohren und hämmerte schmerzhaft in seinem Schädel. Wie so oft, wenn er aus dem immer wiederkehrenden Grauen erwachte, von dem er seit über zwei Jahrzehnten träumte, wusste er für einige Sekunden nicht, wo er sich befand.
Das war nicht gut.
Menschenwelt … Seufzend massierte er sich die Schläfen und blinzelte. Ein Zimmer. Sein Zimmer, sein karg eingerichtetes Apartment im obersten Stockwerk eines gläsernen Hochhauses in London. Dort besaß die Hexe Noir Hadfield eine Detektei für übersinnliche Fälle, die sie vor ein paar Monaten gegründet hatte. Hier lebten auch Vincent, Noirs Partner und Kyrians Klanführer, sowie drei andere ihrer Bruderschaft: Nicolas, Dominic und Akilah. Der Bruderschaft der Ausgestoßenen. Derjenigen, die keiner haben wollte. Weil sie anders waren. Nichts Halbes, nichts Ganzes oder einfach unerwünscht. Daher nannten sich die Hybriden auch Goyles, nicht Gargoyles.
Kyr streckte sich, bis seine Gelenke knackten, und rieb seine Stirn. Diese verdammten Kopfschmerzen hatte er immer nach den Träumen. Reflexartig griff er an sein Steißbein, wo sein Schwanzstummel unangenehm pochte. Er hasste das daumendicke Überbleibsel, das ihn daran erinnerte, wer er war. Außerdem sah es lächerlich aus.
Schwerfällig stand er auf, schnappte sich eine schwarze Cargohose sowie ein T-Shirt und ging ins Badezimmer.
Als er eine halbe Stunde später aus der Wohnung lief, stieß er im Flur beinahe mit Noir zusammen, obwohl sie kaum zu übersehen war. Kyr sprang zur Seite, um sie nicht umzustoßen, und rannte dafür fast in ihren Jagdhund. Papiere, Dokumentenmappen und seine Sonnenbrille flogen zu Boden.
Noir bückte sich. Sie war sehr groß für einen Menschen, so groß wie er, und ihr silberweißes Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Unter ihrem engen Shirt wölbte sich ein Babybauch.
Der graue Hund stellte sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf seine Oberschenkel.
»Hey, Räuber«, murmelte Kyr und kraulte das Tier hinter den Schlappohren. Schließlich wollte er vor der Hexe nicht auffallen. Normalerweise gab Kyr nichts auf Streicheleinheiten.
Noir grinste und sammelte die Akten auf, die sie bei ihrem Beinahe-Zusammenstoß fallengelassen hatte. Dabei reichte sie ihm auch seine Sonnenbrille, die seine lichtempfindlichen Augen schützte. »Immer mit der Ruhe, Cowboy. Du hast erst in einer Stunde einen Auftrag, mein Klient hat mich versetzt.«
Gut, er hatte also nicht verschlafen. Kyr schob die Brille in sein Haar und versuchte, nach einem Dokument zu greifen, um so zu tun, als würde er der Hexe beim Aufsammeln helfen. Eigentlich wollte er einen Blick auf den Namen werfen, aber der temperamentvolle Hund ließ ihn nicht in Ruhe. Räuber sabberte ihm auf die saubere Einsatzhose und schleckte über seine Hand. Kyr hatte keine Ahnung, warum der Köter ihn mochte. Er war sehr verspielt und hielt sich gern in seiner Nähe auf. Dummes Vieh, es müsste eigentlich spüren, dass er seinem Frauchen und ihren Kunden an den Kragen wollte, doch so schöpfte die Hexe wenigstens keinen Verdacht.
Die Brauen nach oben gezogen, blickte Noir ihn an. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Hm.« Er vermied es, viele Worte zu wechseln. Außerdem musste er sich ständig zurückhalten, sich nicht zu translozieren, denn er hatte sich an diese Art der Fortbewegung gewöhnt.
Ein weiterer Stich durchzuckte sein Gehirn. Ob die Hexe versuchte, seine Gedanken zu lesen? Sie konnte das, allerdings nur bei Menschen. Mit zwei Fingern rieb er sich über die Schläfen.
»Hast du Kopfweh?« Noir stand auf und balancierte den Stapel Akten in der Hand. Akten, die er zu gern durchsehen wollte.
»Geht schon«, erwiderte er.
»Komm mal mit in mein Büro. Ich geb dir ein Pulver dagegen.«
Hexenmagie – damit wollte er nichts zu tun haben. Dennoch folgte er ihr. Sie brachte ihn dorthin, wo er bereits ewig hineinwollte. Allein.
Die Tür war mittels eines Scanners und Zahlencodes gesichert. Noirs Freund, der Magier Magnus Thorne, hatte die oberste Etage des Hauses in eine Hochsicherheitszone verwandelt. Kein Dämon konnte hier ein Portal erschaffen, und die einzelnen Wohnräume ließen sich nur mit Daumenscan öffnen. Um in Noirs Büro zu kommen, musste man zusätzlich einen Code eingeben.
»Kannst du die mal kurz halten?«
Die Hexe drückte ihm den Stapel in die Hand, dann tippte sie auf das Bedienfeld. Räuber strich um ihre Beine, sodass sie anscheinend vergaß, das Eingabefeld mit ihrem Körper abzuschirmen. Kyr lugte an ihr vorbei. 23 – 5 – 99 – 2. Einen Fingerabdruck hatte er längst nachgebildet, jetzt kannte er auch den Code.
Die Tür ging auf. Räuber bellte ein Mal, wedelte und sah zu Kyrian auf, bevor er sich ins Büro trollte. Noir winkte ihn herein. Verdammt, die Frau vertraute ihm wirklich, wie all ihren Angestellten. Wenn sie wüsste, wer er war, hätte sie ihn längst getötet oder der Magiergilde ausgeliefert. Bisher war er nicht aufgeflogen und so sollte es noch eine Weile bleiben. Seit er vor ein paar Monaten in Vincents Klan gekommen war, hatte er sich unauffällig verhalten, Noirs Aufträge gewissenhaft ausgeführt und nebenher Namen von Hexen und Magiern gesammelt.
Noir bedeutete ihm, vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen, und Kyr stellte den Aktenstapel darauf ab, bevor er sich setzte. Sie ging zu einem Metallschrank, der ebenfalls mit einem Code gesichert war. Nachdem sie ihn geöffnet hatte, erkannte Kyrian allerhand Fläschchen und Beutel darin. Während Noir ihm etwas zusammenmischte, blickte er sich unauffällig im Büro um. An einer langen Wand reihte sich ein Aktenschrank an den anderen. Sie waren nicht abgesperrt. Einige Schubladen standen offen und enthielten zahlreiche Ordner. Noir hatte seit der Eröffnung ihrer Detektei vor fast einem Jahr schon sehr viele Kunden gewinnen können. Das Geschäft lief gut, besonders Suchaufträge – verlorene Artefakte, Schätze oder Dinge von rein persönlichem Wert – kamen oft herein. Vincents Goyles besaßen verschiedene Eigenschaften, die Noirs Arbeit erleichterten. Sie beschäftigte die Außenseiter und die hatten ein Dach über dem Kopf und profitierten vom Leben in einer Gemeinschaft.
Kyrian würde, sobald die Hexe wieder einmal zu ihrer Vorsorgeuntersuchung ging, hier eindringen und sich alle Namen und Adressen einprägen.
Sie schloss den Schrank und reichte ihm ein braunes Papiertütchen.
»Danke.« Er schob das Tütchen in eine hintere Hosentasche. Bei der nächsten Gelegenheit würde er es entsorgen.
»Eine Messerspitze voll in etwas Flüssigkeit gerührt, nach dem Aufstehen getrunken, müsste dir helfen«, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Du siehst furchtbar aus. Bist du krank? Mir ist schon öfter aufgefallen, dass du morgens recht zerknautscht aussiehst.«
Er schüttelte den Kopf. »Das hab ich bereits fast mein ganzes Leben.«
»Falls es nicht besser wird, lass dich lieber mal untersuchen.«
Noir drehte einen Bilderrahmen herum, der auf ihrem Schreibtisch stand. Das Foto zeigte sie und eine Frau mit blondem Haar, die fast zwei Köpfe kleiner war als Noir. Ihre Augen leuchteten so blau wie Lapislazuli. Ein weiterer Stich fuhr durch sein Gehirn und er sah Bilder von Personen, die er sich hatte einprägen müssen, weil er sie ausliefern musste. Sie war dabei: Isla. Blondes Haar, blaue Augen, spitzes Kinn – eine elfenhafte Schönheit.
Verdammt, wäre er doch zu dieser blöden Erstuntersuchung erschienen, zu der Noir all ihre Goyles bat, dann hätte er Isla längst gefasst und hätte mit ihr ins Dunkle Land zurückkehren können.
Seine Gedanken verschwammen, weil er den Blick nicht von ihr losreißen konnte. Was war nur los mit ihm? Mühsam unterdrückte er ein Zittern. Normalerweise zeigte er keine Regung, wenn ihm eine gesuchte Person unterkam, aber diese Frau war vielleicht seine und Myras Karte in die Freiheit. Jahrelang war er als Sucher durch die Menschenwelt gestreift und hatte es schon als glücklichen Zufall gesehen, dass Noirs Freund Magnus ihn für Vincents Klan aufgespürt hatte, doch nie hätte er geglaubt, hier Isla zu finden. Sein König wollte sie haben, um jeden Preis.
Noir stellte den Rahmen an seinen Platz zurück. »Das ist meine Freundin Jenna Fairchild. Sie ist Ärztin.«
»Jenna?« Er schluckte. Da musste ein Irrtum vorliegen, das war Isla. Wenn er sich einen Namen und ein Gesicht einprägte, dann war das unwiderruflich in sein Gehirn eingebrannt. Dafür hatten sie gesorgt. Er war einer ihrer besten Jäger, ein Meisterspion. Er irrte sich nie.
»Ja, das ist diejenige, zu der du nicht wolltest.« Offen lächelte sie ihn an.
Kyr hatte sich erfolgreich vor der Einstellungsuntersuchung drücken können. »Ist sie auch eine Hexe?«, fragte er verwirrt, weil er dachte, die Antwort längst zu kennen. Er konnte sich unmöglich täuschen, sein Gedächtnis war zuverlässiger als ein Computer.
Noir nickte. »Sie arbeitet mit ihrem Vater in seiner Schönheitsklinik.«
»Sie ist Chirurgin?« Isla war Heilerin …
»Angehende. Sie assistiert ihrem Dad.«
Interessant. Vielleicht irrte er sich und diese Ärztin war nicht die Person, für die er sie hielt. Dennoch erschien sie ihm äußerst nützlich. Sie konnte ihm bei einem persönlichen Problem helfen und er käme über sie an weitere Namen von Hexen und Magiern. Vielleicht sollte er ihr einen Besuch abstatten.