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Kapitel 1 – Ein entwaffnender Kuss

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LONDON, ENGLAND

Juli 1835

Eingehüllt in einen schwarzen Kapuzenmantel, schlich Miles kurz nach Mitternacht durch London. Meistens sah er kaum die Hand vor Augen, denn dicke Wolken schoben sich immer wieder vor den Vollmond. Sehr gut. Dann konnte er hervorragend mit der Dunkelheit verschmelzen.

Normalerweise bevorzugte Miles bei seinen Streifzügen die Stadtteile, in denen sich die Fabriken befanden und die Armut am schlimmsten war, wie zum Beispiel Whitechapel. In dem berüchtigten Viertel trieben sich die meisten Verbrecher herum. Heute musste er jedoch nicht über ungepflasterte Straßen mit ihren nach Unrat stinkenden Pfützen wandern, denn er lief durch Covent Garden. Dieser Bezirk befand sich nicht ganz so weit weg von dem noblen Stadtteil Marylebone, in dem er wohnte. Doch die Armut machte auch hier nicht Halt.

Er huschte vorbei an den leeren Marktkörben, unter denen Kinder – Jungen wie Mädchen – zwischen Huren und Straßenhunden schliefen. Einige umklammerten eine Flasche Gin, mit dem sie versuchten, Hunger und Schmerzen zu betäuben.

Miles dankte Gott jeden Tag dafür, dass ihm dieses Schicksal erspart geblieben war. Hier draußen zu überleben, war die Hölle.

Auf leisen Sohlen eilte er zu den Lagerhäusern an der Themse. Er kam gerade aus dem Brooks’s in der St. James’s Street – einem der vielen Clubs, in denen er sich tagsüber gerne die Zeit vertrieb. Deshalb war er heute ausnahmsweise einmal nicht maskiert, sondern lediglich das Cape verhüllte seine wahre Identität. Miles schnappte bei einer Partie Whist oder Hazard oft jede Menge Gerüchte auf, die ihm bei seinen Vorhaben halfen. Aber nicht nur aus diesem Grund suchte er diese Etablissements auf, sondern auch, um dort das Verhalten der Männer zu beobachten, vor allem, ob sie heimlich jemanden anstarrten … auf ganz besondere Weise. Womöglich konnte er dadurch herausfinden, ob derjenige vielleicht dieselbe Neigung besaß wie er. Ob er sich trauen würde, einen Mann darauf anzusprechen, wusste er nicht. Es war einfach zu gefährlich.

Beim Kartenspiel vorhin hatte er zufällig Gespräche vom Nachbartisch belauscht – einer der Herren war mit einem Commissioner der Metropolitan Police befreundet, die, genau wie Miles, nach den Body Snatchern suchten. Es wurde vermutet, dass die Verbrecher ihre gefesselten und geknebelten Opfer zuerst in leerstehende Lagerhäuser an der Themse schafften, um sie von dort aus mit Booten oder Kutschen an ihre Zielorte zu bringen. Zumindest waren vier Kinderleichen, versteckt in zugenagelten Fässern, in zwei Lagerhäusern gefunden worden.

Miles erhoffte sich, endlich einen oder am besten alle dieser widerlichen Banditen stellen zu können. Für gewöhnlich verschnürte er danach die Täter und gab der Polizei anschließend einen anonymen Tipp, wo sie ein besonderes Präsent abholen konnte. Doch heute wollte er erst einmal spionieren. Außer seinen zwei langen Klingen hatte er keine weiteren Waffen dabei. Diese verbarg er im Schaft seiner Stiefel, allerdings kamen sie nur selten zum Einsatz, denn er war ein Meister des Faustkampfes. Hoffentlich konnte er seine beiden »Kraftrammen«, wie sein Freund Hastings seine Fäuste nannte, heute einsetzen, denn es zerriss ihn innerlich beinahe vor Sehnsucht nach etwas, das er nie haben durfte. Dabei fehlte ihm doch eigentlich nichts … fast nichts.

Tagsüber war er Miles Dunmoore, der Marquess of Rochford, und ein ganz gewöhnlicher Adliger. Nachts befreite er als der maskierte »dunkle Rächer« – wie ihn mittlerweile halb London nannte – die Straßen der Stadt vom gröbsten Abschaum. Er brauchte dieses geheime Doppelleben, ansonsten würde er wohl durchdrehen. Zwar lenkte ihn auch das Boxen von seiner abnormalen Natur ab, doch seit Hastings wieder geheiratet hatte und zum zweiten Mal Vater geworden war, fanden ihre geheimen Treffen im Herrenclub und die damit verbundenen sportlichen Betätigungen kaum noch statt.

Niemand wusste von seinen nächtlichen Aktivitäten, nicht einmal Hastings. Der hatte allerdings auch keine Ahnung, dass sich Miles zu Männern hingezogen fühlte. Es wäre vielleicht das Aus für ihre jahrelange Freundschaft, wenn Hastings davon erführe!

Miles murmelte einen Fluch, weil er sich so gerne jemandem anvertrauen würde, es aber nicht konnte. Geschickt mied er sämtliche Laternen, hielt Augen sowie Ohren offen und huschte von Gasse zu Gasse im Schutz der Dunkelheit weiter. Außer ihm streunten nur Katzen auf der Suche nach Mäusen, Ratten oder Essensresten durch die Stadt, und ein paar Huren verkauften ihre Körper.

Miles wusste von den Ecken, in denen auch Männer »Arbeit an der Hintertür« anboten. Die meisten verkleideten sich als Frauen, um nicht gleich aufzufallen. Aber in gewissen Kreisen war bekannt, dass man ihnen überwiegend in der Burlington Arcade, der Regent Street, Fleet Street, in der Strand und der Umgebung von Charing Cross begegnete. »Kreaturen« wurden diese geschminkten und kostümierten Männer abwertend von der normalen Bevölkerung genannt.

Ja, genau so fühlte er sich oft: wie eine Kreatur.

Warum musste ausgerechnet er von dieser krankhaften Neigung befallen sein? Dabei könnte doch alles perfekt sein! Als Adliger kannte er die schönen Seiten des Lebens, durfte prunkvolle Bälle besuchen, musste nicht hungern und auf sonst nichts verzichten – zumindest auf keine materiellen Dinge. Er führte ein privilegiertes Leben an einem der interessantesten Orte. Aber London war nicht nur eine der größten und wohlhabendsten Städte der Welt, sondern auch finster und unruhig. Armut, Krankheiten und Verbrechen hielten die Metropole fest in ihrem Griff. Zehntausende Obdachlose kämpften täglich ums Überleben und versuchten sich vor allem am Hafen als Tagelöhner durchzuschlagen. Oft kam es zu Plünderungen und Tumulten. Die Bevölkerung machte sich Luft wegen der ständigen Preiserhöhungen und der hohen Kindersterblichkeit und allgemein wegen der schlechten Lebensbedingungen.

Diese armen Menschen waren für gewöhnlich nicht sein Ziel. Wenn jemand einen Apfel stahl oder sich ein Kleidungsstück von einer fremden Wäscheleine zog, ließ er ihn laufen. Miles interessierte der wahre Abschaum. Menschen, die anderen wirklich ein Leid zufügten, sie verletzten, ausbeuteten, töteten. Aktuell hatte er es auf die »Body Snatcher« abgesehen. Vor einigen Jahren wurden so Leichenräuber bezeichnet, die heimlich Gräber öffneten oder die noch fast warmen Körper aus Krankenhäusern stahlen, um sie zu verkaufen.

Unzählige Medizinstudenten lernten an den neu gegründeten Universitäten, doch ihnen fehlte damals das »Übungsmaterial«. Offiziell standen ihnen nur gehängte Verbrecher zur Verfügung, aber es waren zu wenige, um die vielen hundert angehenden Ärzte zu versorgen, die täglich Nachschub an Anschauungsobjekten brauchten. Auch Zahnärzte und Perückenmacher gehörten zu den Kunden der Body Snatcher. Je frischer der Körper war, den die Snatcher den Medizinern oder anderen Interessenten brachten, desto mehr Geld gab es – und hier hatte damals das Problem gelegen. Anstatt die Friedhöfe zu plündern, wurden hinterrücks überwiegend junge Männer oder sogar Kinder getötet. Unzählige von ihnen lebten schließlich allein oder in Gangs auf der Straße; niemand würde sie vermissen.

Miles hatte alles getan, um diese Mörder zur Strecke zu bringen, bis vor drei Jahren ein Anatomiegesetz verabschiedet wurde, das es heute den Ärzten erlaubte, die Verstorbenen aus den staatlichen Arbeitshäusern zu Sektionszwecken zu benutzen. Die illegalen Obduktionen hatten endlich ein Ende, denn den Studenten standen nun mehr Leichen zur Verfügung, als sie brauchten, da in den Arbeitshäusern menschenunwürdige Bedingungen herrschten. Doch leider war der Beruf des Body Snatchers mit dem neuen Gesetz nicht ausgestorben, wie sich viele erhofft hatten. Die finsteren Gesellen hatten sich einfach neuen, noch grausameren Tätigkeitsfeldern zugewandt. Miles wusste zwar noch nicht genau, was sie mit ihren Opfern anstellten, aber er ahnte, dass sie ein schrecklicheres Schicksal erleiden mussten als den Tod.

Wie er heute gehört hatte, sollten die Body Snatcher in alten Lagerhäusern zusammenkommen, bevor sie ihre Menschenraubzüge planten. Stunden später kehrten sie wieder dorthin zurück, um ihre »Fänge« einzusperren, zu betäuben und zum Weitertransport auf Kutschen oder Booten vorzubereiten. Dabei handelte es sich – soweit Miles bisher wusste – in der Regel um halbe Kinder, die in leere Fässer oder Kisten gezwängt wurden. Den traurigen Beweis dafür lieferten die vier kleinen Leichen, die man in Hafennähe gefunden hatte. Ein Detail allerdings erschien nur wenigen bemerkenswert: Drei der Toten stammten offensichtlich ursprünglich nicht aus England, sondern wiesen die etwas dunklere Haut und die schwarzen Haare von Südländern auf.

Seit Jahren schleusten Menschenhändler überwiegend italienische Jungen in die Stadt, beinahe fünfzehntausend obdachlose Kinder sollten Schätzungen zufolge bereits hier leben. Meist stammten sie aus ärmlichen Verhältnissen und wurden ihren Eltern gegen ein Handgeld abgekauft. Für gewöhnlich sah man diese Jungs an den Straßenecken stehen. Sie boten neugierigen Passanten für ein paar Pennys oder wenige Shilling einen Blick auf ihre »Kuriositäten« – die sie bei ihren Herren mieten mussten –, wie uniformierte Äffchen, tanzende Hunde in Kostümen oder aus Wachs geformte Siamesische Zwillinge.

Diese jungen Menschen stellten ein leichtes Ziel für die Body Snatcher dar, denn sie waren nirgendwo registriert, und keiner außer ihren Herren – die gewiss nicht zur Polizei gingen – würde sie vermissen.

Miles presste den Rücken gegen die Wand eines Lagerhauses, als die dicken Wolken am Himmel weiterzogen und der Vollmond sein kaltes Licht auf das Hafenviertel warf. Es roch nach vergammeltem Fisch und Kloake, und kein anderer Adelige würde sich jemals in diese Gegend wagen. Aber Miles war an Dreck und Gestank gewöhnt, das machte ihm alles nichts aus. In seinem luxuriösen Zuhause wartete außerdem eine Wanne auf ihn, die seine Dienerschaft mit warmem Wasser füllte, wann immer er ein Bad nehmen wollte, auch mitten in der Nacht.

So viel Luxus – und er hatte niemanden, mit dem er ihn teilen konnte.

Vielleicht sollte Miles endlich heiraten und einen Erben zeugen, dem er seine Besitztümer eines Tages überlassen konnte. Die Damenauswahl war formidabel; die angesehensten Ladys standen bei ihm Schlange. Er hatte bereits mit einer jungen, wunderschönen Witwe geschlafen, so schlimm war es nicht gewesen. Doch es hatte nicht geholfen, seine krankhafte Neigung zu verdrängen, im Gegenteil. Die Nähe zu einer Frau hatte seine Sehnsucht nach rauen, kraftvollen Männerhänden, die ihn nicht mit Samthandschuhen anfassen würden, leider nur vergrößert. Aber er sehnte sich nicht nur nach Sex, sondern vor allem nach Geborgenheit und Liebe …

Wie versteinert blieb er stehen, als er in der Nähe eine Bewegung wahrnahm, und ließ nur seine Blicke schweifen. Vor ihm lag ein kleiner Platz, an dem sich alte Kisten und sonstiger Müll stapelten, den die Händler hier abgestellt und wohl vergessen hatten. Dahinter befand sich ein weiteres, fensterloses Lagerhaus aus Holz. Darauf schlich jemand zu!

Miles duckte sich und lief ein Stück weiter, um hinter einem halb zersplitterten Fass in Deckung zu gehen. Von seinem Versteck aus beobachtete er, wie sich ein Mann an der Tür zu schaffen machte. Zumindest ging Miles davon aus, dass es ein Mann war, denn er besaß breite Schultern, trug ein helles und etwas zu großes Hemd, das über der Hose hing, Stiefel und eine Kappe. Der Kerl hielt einen leeren Sack in der einen und eine Stange in der anderen Hand, mit der er versuchte, die seitliche Tür des Lagerhauses aufzubrechen. Dabei schaute er ständig über seine Schulter.

Ob das einer der Body Snatcher war, der einen neuen Unterschlupf auskundschaftete?

Miles wusste es nicht. Aber dieser Kerl hatte definitiv etwas zu verbergen!

Kaum hatte der Mann die Tür aufgebrochen und war hineingehuscht, verließ Miles sein Versteck, um geduckt und möglichst geräuschlos über den kleinen Platz zu eilen. Jetzt war er froh über das Mondlicht, denn nun konnte er den Gegenständen ausweichen. Doch leider würde der Kerl ihn dadurch sofort bemerken. Miles musste rasch handeln.

Er stellte sich neben die aufgezogene Tür und lugte hinein. Aber er erkannte nichts als Schwärze. Dafür hörte er leise Geräusche, wie metallisches Klappern und ein Schaben.

Der Einbrecher machte kein Licht. Entweder hatte der Mann ihn bemerkt und hoffte, Miles würde ihm folgen, damit er ihn in völliger Dunkelheit übermannen konnte, oder der Dieb kannte sich aus und wusste genau, wo es etwas zu holen gab. Miles blieb nichts anderes übrig, als draußen hinter der Tür zu warten.

Es dauerte keine Minute, da tauchte der Mann wieder auf. Gerade, als der Kerl die Tür zudrücken wollte, stieß dieser einen Fluch aus und drehte sich herum. Er hatte Miles gesehen! Doch der Dieb bekam keine Chance zur Flucht, Miles war schneller und stürzte sich von hinten auf ihn.

Sie gingen zu Boden, der gefüllte Sack landete scheppernd neben ihnen. Es klang, als würden sich Metallwaren darin befinden. Vielleicht Werkzeug, Silbergeschirr oder Konservendosen, die hier möglicherweise für die Armee und die Kriegsmarine gelagert wurden.

Der Mann war unglaublich flink und ließ Miles keine Chance, ihn auf dem Boden zu fixieren. Er wurde abgeschüttelt, der Kerl sprang auf – wobei er seine Kappe verlor – und wollte sich sein Diebesgut schnappen.

Da boxte ihm Miles seitlich in die Nieren.

Stöhnend und »Verdammter Hurensohn« murmelnd ging der Dieb auf die Knie.

Miles zögerte nicht länger: Er zog eines seiner Messer aus einem Stiefel und hielt es dem Fremden an den Hals. »Was suchst du hier? Gehörst du zu den Body Snatchern?«

»Zu wem?«, knurrte der Kerl ungehalten und blickte wütend zu ihm auf. Doch er würde Miles unter der Kapuze nicht erkennen können. Dafür sah er das Gesicht des Diebes umso besser. Es wirkte im Mondlicht jung, aber männlich, mit markanten Wangenknochen und einer geraden Nase. Die Haarfarbe konnte er nur raten: dunkelbraun oder schwarz. Einzelne Strähnen, die sich aus seinem am Nacken zusammengebundenen Haar gelöst hatten, reichten dem Dieb bis zum Kinn. Er war vielleicht zwanzig Jahre alt, eventuell ein wenig älter. Aber bestimmt zehn Jahre jünger als Miles – und einen Kopf kleiner als er. Der junge Mann sah kräftig aus – oder besser gesagt: nicht ausgehungert. Kein leichter Gegner. Doch er selbst fühlte sich großartig und trainierte viel. Der Kleine hätte wohl kaum eine Chance gegen ihn.

Der Dieb wich nicht zurück, zeigte keine Angst vor dem Messer. Stattdessen keuchte er überrascht auf und fragte erstaunt: »Bist du der dunkle Rächer?«

Verdammt! Er trug heute die Maske nicht. Der Kerl durfte sein Gesicht auf keinen Fall sehen! »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Miles mit düsterer Stimme. »Was suchst du hier?«

»Nur das, was mir zusteht«, erwiderte der Bursche, jetzt wieder wütend, und ließ sich blitzschnell auf den Rücken fallen.

So entwischte er vielleicht Miles’ Klinge, aber nicht ihm selbst. Noch bevor der Kerl sich herumdrehen und davonlaufen konnte, warf Miles sich auf ihn und begrub den fremden Körper unter seinem.

Der Mann keuchte auf und rammte ihm die Faust gegen das Schulterblatt. Miles verlor sein Messer, doch er konnte beide Arme des Angreifers packen und neben dessen Kopf in den Staub pinnen. »Hör endlich auf, dich zu wehren, Kleiner. Du hast keine Chance gegen mich!«

»Weil du der dunkle Rächer bist?«, knurrte der junge Mann.

»Nein, verflucht!«, rief Miles.

»Schade«, murmelte der Bursche schwer atmend und grinste frech. Helle und einigermaßen gerade Zähne kamen zum Vorschein.

Verflixt, jetzt hatte der Kerl seine Aufmerksamkeit erregt. »Warum?«, fragte Miles möglichst kühl.

»Ich wäre ihm gerne mal begegnet. Er ist ein Held.«

Miles schnaubte. »Du verehrst ihn, obwohl du selbst ein Dieb bist?«

Die Lider des jungen Mannes verengten sich. »Der dunkle Rächer jagt die echten Verbrecher. Ich bin nur jemand, der sich geholt hat, was ihm zusteht.«

Sie maßen sich mit Blicken – wobei sich Miles sicher war, dass der Bursche ihn unter der Kapuze nicht wirklich erkennen konnte – und Miles musste fast die ganze Zeit auf dessen leicht geöffneten, sinnlich geschwungenen Mund starren. Eine feine Narbe zog sich durch die Unterlippe, und die keuchenden Atemzüge, die gegen Miles’ Kinn schlugen, bewirkten etwas in ihm. Etwas, das er jetzt absolut nicht gebrauchen konnte!

Der junge, muskulöse Körper, der sich immer noch leicht unter ihm wand, erregte ihn. Das war erbärmlich und fühlte sich falsch an … und doch so richtig.

Sein Herz raste – einmal noch wegen des Kampfes, aber auch aus anderen Gründen. Wild klopfte sein Puls bis tief in den Bauch.

»Was hast du jetzt mit mir vor, Fremder?«, fragte der Kerl herausfordernd. »Was wirst du tun?«

»Ich werde dich dem Commissioner übergeben.« Er überlegte, ob er das Bürschchen persönlich bis zum Gefängnis schleifen sollte. Meistens fesselte er die Verbrecher ordentlich und versteckte sie in der Nähe des Tatorts, um anschließend der Polizei einen anonymen Hinweis zu geben. Doch heute hatte er kein Seil dabei. Bestimmt würde Miles in dieser Gegend etwas finden, womit er den Kleinen verschnüren konnte. Aber er wollte ihn nicht wehrlos hier liegen lassen. Ihm könnte sonst etwas passieren. Doch im Gefängnis würde es ihm nicht besser ergehen. Dagegen war das Leben auf der Straße das Paradies.

Gerade als Miles den Kerl fragen wollte, was er überhaupt gestohlen hatte – um abzuschätzen, ob er ihn laufen lassen sollte –, fragte der frech: »Übergibst du deine Trophäen immer dem Commissioner, dunkler Rächer?«

Miles wollte protestieren und dem Kleinen erneut klarmachen, dass er sich irrte, als dieser einfach den Kopf hob, um die Lippen auf seinen Mund zu drücken.

Miles keuchte auf und erstarrte, völlig schockiert über den unerwarteten Angriff. Er ließ den Mann allerdings nicht los, sondern wollte zurückweichen. Aber er schaffte es nicht. Stattdessen senkte sich sein Kopf wie von allein tiefer, und Miles gab sich den überwältigenden Zärtlichkeiten hin. Der junge Mann wusste seine Zunge zu benutzen, verflucht!

Miles verlor sich in dem Mund des sündhaften Betörers, schnappte nach den weichen Lippen und stieß dem Dieb seine Zunge entgegen. Sie duellierten sich regelrecht, als wäre das ein Wettkampf … und gleichzeitig spürte Miles die Leidenschaft, die sich zwischen ihnen aufbaute. Nicht nur er wurde hart, seinem Verführer ging es ebenso!

Miles musste verrückt sein. Was machte er hier? Er sollte auf der Stelle aufhören, diesen Fremden zu küssen. Doch der schmeckte unglaublich gut, wie ein süßes Karamellbonbon. Die bisher nie gefühlte Leidenschaft, die zwischen ihm und diesem Unbekannten aufblühte, überwältigte Miles völlig. Erst lockerte er den Griff um die Gelenke des Mannes, danach nahm er sogar eine Hand weg, um in dessen Haar zu fahren. Wie Seide glitt es zwischen seinen Fingern hindurch.

Der junge Kerl wusste, was er tat, und genoss die Liebkosungen zwischen ihnen offensichtlich ebenso sehr wie Miles, denn er stöhnte leise in seinen Mund.

Genau so sollte sich das anfühlen, echt und feurig. Das war es, wovon Miles all die langen, einsamen Jahre geträumt hatte.

Er wusste erst, dass er einen gewaltigen Fehler gemacht hatte, als ihm der Fremde die Faust mit voller Wucht in die linke Niere rammte.

Stöhnend vor Schmerzen rollte sich Miles von dem Bastard herunter, um kurz darauf dessen Knie in die Weichteile gerammt zu bekommen.

Verflucht noch mal! Nun zog es nicht mehr köstlich zwischen seinen Beinen, sondern höllisch. Er bekam kaum noch Luft!

Während er sich auf dem staubigen Boden zusammenkrümmte, schnappte sich der junge Mann Miles’ kostbares Messer, sprang auf und stellte einen Fuß auf seine Brust, mit dem er ihm zusätzlich den Atem raubte. Wie ein siegessicherer Feldherr starrte er zu Miles herab, während er genauso schwer atmete wie er selbst.

Verdammt! Was hatte ihn nur geritten, sich dem Kuss hinzugeben? Das war ein Ablenkungsmanöver gewesen!

Nun konnte der Fremde auch noch sein Gesicht erkennen – das der offensichtlich ausgiebig im Mondlicht studierte. Immer tiefer beugte sich der junge Kerl zu ihm herab und presste ihm schließlich die scharfe Klinge an die Wange, sodass die Spitze bloß Millimeter von seinem Auge entfernt war. Wenn Miles auch nur zuckte, würde sich die Schneide in seinen Augapfel bohren.

Der sündhafte Verführer wirkte plötzlich verdammt gefährlich und drohte ihm mit leiser, aber energischer Stimme: »Wenn du dein hübsches Gesicht behalten willst, kommst du mir das nächste Mal besser nicht in die Quere.«

Abrupt trat er zurück, hob seine Kappe auf und verbeugte sich galant. Etwas freundlicher sagte er: »Ich wünsche dir noch eine erfolgreiche Nacht, dunkler Rächer«, und rannte davon. Er warf noch einen kurzen Blick über die Schulter, rief frech: »Und Danke für das Messer!« Dann verschluckte ihn die Dunkelheit.

Miles blieb völlig perplex auf dem Boden liegen und konnte kaum begreifen, was soeben geschehen war. Es war ihm noch nie passiert, dass ihn jemand überwältigt hatte, und schon gar nicht mit einem Kuss!

Gerissenes Bürschchen, dachte er und musste gegen seinen Willen schmunzeln, während er aufstand, um sich den Staub von seinem Cape zu klopfen. Eine Verfolgungsjagd war überflüssig, der Kerl längst verschwunden. Miles hätte den Kussdieb jedoch gerne wiedergesehen … aber nur, um ihm ordentlich die Leviten zu lesen! Noch einmal würde er sich von dem Kleinen nicht überrumpeln lassen. Doch wahrscheinlich sah er ihn ohnehin nie wieder. Schade.

Dem dunklen Rächer verfallen

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