Читать книгу Dem dunklen Rächer verfallen - Inka Loreen Minden - Страница 6
Kapitel 3 – Unter Beobachtung
ОглавлениеMiles’ Herz raste immer noch wie verrückt, als er durch die dunkle Bibliothek hinaus in den mit Fackeln und Feuerkörben beleuchteten Garten schlich. Seine Knie waren so weich, dass er sich auf die nächste Steinbank fallen ließ. Zum Glück hielt sich niemand in seiner Nähe auf, denn er musste sich dringend sammeln. Tief sog er die lauwarme Nachtluft ein und lockerte sein Krawattentuch, damit die Hitze aus seinem Hemd entweichen konnte.
Es hatte ihn schockiert, den jungen Mann wiederzusehen. Auch wenn sich Miles gewünscht hatte, dem kleinen Dieb erneut zu begegnen, hatte er dennoch niemals damit gerechnet – und dann lief er ihm ausgerechnet hier, auf der Feier seines besten Freundes, über den Weg!
Wenn Hastings erfuhr, was sich zwischen Cole und ihm abgespielt hatte … Verflucht! Das könnte ihre jahrelange Freundschaft beenden, was Miles auf keinen Fall riskieren wollte. Hastings war der Einzige, bei dem er sich beinahe wie er selbst geben und ihm auch einmal etwas anvertrauen konnte – zumindest »normale« Dinge.
Doch seine Sorgen schienen gerade ein wenig zu verblassen, weil Cole den ganzen Raum in seinem Kopf beanspruchte. Jetzt hatte Miles wenigstens einen Namen zu dem jungen, aber männlichen Gesicht mit der zarten Narbe auf der sinnlichen Unterlippe. Miles schätzte ihn auf zwanzig Jahre, also längst alt genug, um eine Familie zu gründen. Ob er verheiratet war? Cole hatte zumindest ein bisschen nach Frau gerochen, was Miles irgendwie ärgerte. Doch der Rosenduft passte zu ihm.
Vielleicht ließ er sich aber auch von einer vermögenden Witwe aushalten, die sich zum Vergnügen einen Jungspund ins Bett holte und ihn gut dafür entlohnte? Doch würde er dann hier arbeiten?
Es sollte Miles wirklich egal sein, mit wem Cole das Bett teilte. Schließlich durfte er selbst nicht einmal daran denken, den Streuner in sein Heim zu holen …
»Ich weiß, dass du ebenfalls Männer begehrst«, hatte Cole zu ihm gesagt. Ebenfalls … Dieses Wort ging ihm nicht aus dem Kopf. Der leichtsinnige Grünschnabel hatte seine krankhafte Neigung regelrecht zugegeben! Seine Direktheit hatte Miles einerseits schockiert, andererseits bekam er den Kleinen nun überhaupt nicht mehr aus seinen Gedanken.
Was hatte sich Cole bloß dabei gedacht, ihm solch ein offensichtliches Angebot zu machen? Fast hätte Miles ihn an sich gerissen, gierig geküsst und mit zu sich nach Hause genommen!
Er sprang von der Steinbank auf, um ruhelos zwischen den Beeten umherzuwandern. Zum Glück besaß Hastings hinter seiner prunkvollen Stadtvilla einen ausladenden und kunstvoll gestalteten Garten mit Rosenbüschen und Hecken, hinter denen sich Miles verbergen und unauffällig in die Fenster zum großen Salon spähen konnte. Zwar würde ihn von drinnen bestimmt keiner in der Dunkelheit erkennen, doch er fühlte sich einfach sicherer, wenn er völlig mit der Nacht verschmolz.
Auf dem Weg zum Brunnen blieb er stehen und reckte den Hals. Es dauerte eine kleine Unendlichkeit, bis er Cole durch die Scheibe hindurch in dem überfüllten Raum entdeckte. Er stand an der Wand und balancierte ein Tablett mit Gläsern in der Hand. Leider huschten immer wieder Leute an ihm vorbei oder blieben in Miles’ Blickfeld stehen. Ihm entging jedoch nicht, dass sich Cole ständig unauffällig umschaute. Suchte der Kerl nach ihm? Oder hielt er nach potentiellem Diebesgut Ausschau?
Sein Magen zog sich unangenehm zusammen. Hoffentlich behielt der Kerl seine Finger bei sich. Miles würde es sich nie verzeihen, wenn Cole seinen besten Freund Hastings bestahl, bloß weil er selbst einen Moment der Schwäche gezeigt hatte. Aber er hätte es nicht übers Herz gebracht, den jungen Mann auf die Straße zu setzen. Dort draußen kämpften unzählige Menschen täglich hart ums Überleben, viele erreichten nicht einmal sein Alter! Miles hatte Coles Angst gespürt. Natürlich war dem Kleinen nichts anderes übrig geblieben, als ihn zu erpressen. Miles war sich jedoch sicher, dass Cole niemals etwas sagen würde, da er im selben Boot saß. Das könnte auch ihn Kopf und Kragen kosten.
Die Wangen des jungen Mannes sahen leicht gerötet aus; das schwarze Haar wirkte etwas durcheinander. Zwischendurch schoben sich Coles Brauen zusammen und sein Blick wurde nachtschwarz.
Miles schmunzelte. Da ärgerte sich wohl jemand, weil sein Vorhaben vereitelt worden war. Garantiert hatte Cole hier auf den fetten Fang gehofft. Es kam schließlich nicht selten vor, dass Gäste von Bediensteten bestohlen wurden.
Miles, hingegen, wollte dem jungen Mann am liebsten einen Kuss stehlen, ihn aus seiner steifen Dienstuniform schälen, Stück für Stück den in seiner Vorstellung makellosen, strammen Körper freilegen und mit der Zungenspitze über diese sündhaft schönen Lippen mit der feinen Narbe darauf fahren. Woher er die winzige Verletzung wohl hatte?
Coles Rosenduft schien Miles immer noch in der Nase zu haben – wobei der natürlich auch von den unzähligen Rosenbüschen herrühren könnte, die ihn gerade umgaben. Bei diesem zarten Aroma wäre Miles beinahe schwach geworden. Was hatte der Kerl bloß an sich, dass er ihn begehrenswert fand? Er wusste fast nichts über Cole, außer dass er fantastisch küssen konnte und wahrscheinlich ein Dieb war. Er roch gut, obwohl er vermutlich in ärmlichen Verhältnissen lebte und nicht einfach nach einem Dienstboten rufen konnte, wenn er ein Bad nehmen wollte. Im Gegenteil, er arbeitete als Diener. Diese Bruchstücke, die scheinbar nicht zusammenpassten, machten Miles gegen seinen Willen neugierig.
Ich bin nur ein einfacher Junge von der Straße. Ich habe nichts …
Musste Cole hungern? Fror er im Winter?
Plötzlich sah Miles den Mann bei sich im Bett liegen. Dicke Schneeflocken stupsten von außen gegen die Fenster, im Kamin loderte ein Feuer, und Miles würde Cole zudecken und fest an seinen Körper ziehen, damit ihm nie mehr kalt war. Und falls er sich einfach nicht aufwärmen ließ, würde Miles für ihn die Wanne mit heißem Wasser füllen lassen …
Es zog heftig in seiner Brust, als er diese Bilder vor Augen hatte. Es wäre traumhaft, sein privilegiertes Leben mit einem anderen Menschen teilen zu dürfen. Seit Mutters Tod und vor allem seit Hastings kaum noch mit ihm boxte, fühlte er sich einsamer denn je. Oft blieb er bis mittags im Bett liegen, saß danach ganz allein an seinem großen Tisch im gelben Salon und las die Tageszeitung. Schließlich musste er informiert sein, was sich in London tat. Besonders die Artikel über die Body Snatcher interessierten ihn aktuell.
Ansonsten kümmerte er sich um die Verwaltung seiner Ländereien oder zog durch die Clubs. Das Parlament hatte nun geschlossen, sodass er sich politisch gerade nicht einbringen musste. Die meisten seiner Freunde und Bekannten reisten jetzt mit ihren Familien auf ihre Landgüter. Miles schaute oft nur wenige Male im Jahr in Essex vorbei, wo er Grund und ein Anwesen besaß, verweilte dort höchstens ein paar Tage, um nach dem Rechten zu sehen, und blieb sonst lieber in London. Er liebte es jedoch, ausgedehnte Ausritte über seine Felder und durch die Wälder zu machen. Allerdings wurde er sich in der Stille der Natur seiner Einsamkeit nur noch bewusster.
Leider begann die neue »Season« mit ihren Bällen und Veranstaltungen erst gegen April, wenn auch das Parlament wieder öffnete, sodass er wohl viel Zeit auf Londons Straßen verbringen würde, um das Verbrechen zu bekämpfen. In seinem großen Stadthaus am Cavendish Square war es ihm ansonsten ebenfalls zu still, schließlich lebte er allein. Bei ihm wohnten auch nur wenige Angestellte, und zu denen pflegte er natürlich kein engeres Verhältnis.
Miles besuchte jedoch seinen drei Jahre jüngeren Bruder und dessen Familie so oft er konnte. Thomas besaß ein kleines Häuschen in der Nähe des Regent’s Parks in einer vorzüglichen Wohngegend. Leider hatten sie beide nie ein enges Verhältnis gehabt, weil sich ihre Wege früh trennten. Während Miles auf ein Leben als Marquess vorbereitet worden war, hatte sich Thomas Geld und Ruhm auf dem Schlachtfeld verdient. Sie redeten fast immer nur über Politik und selten über private Dinge. Thomas war niemand, dem sich Miles anvertrauen würde, doch er war ein guter Kerl und sein Sohn ein freundlicher, kleiner Bursche, aus dem gewiss ein ehrbarer Mann wurde. Charles stellte einen akzeptablen Erben dar, falls er selbst niemals einen Sohn zeugen würde, dem er sein Geld und die Ländereien vermachen konnte.
Wenn er so über sein Leben nachdachte, musste er sich eingestehen, dass ihn weder die ausgedehnten Besuche in den Herrenclubs oder das Boxtraining mit Hastings noch die nächtlichen Streifzüge durch London wirklich zufriedenstellten. Im Grunde wollte er genau das, was so ziemlich jeder normale Mann wollte: dass zu Hause jemand auf ihn wartete. Und er wollte mehr über diesen Cole erfahren, der nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Herz auf seltsame Weise berührte.
Lass die Finger von dem Dieb, ermahnte er sich ständig, aber der Kerl schien nicht nur seine Klinge, sondern längst auch sein Herz gestohlen zu haben.
Miles schnaubte belustigt. Oh je, was war denn mit ihm los? Bloß weil er in den Genuss eines himmlischen Kusses gekommen war, gingen die Gäule mit ihm durch.
Der Garten füllte sich langsam mit Gästen, die der Enge und Hitze der Salons entfliehen wollten, sodass Miles nicht mehr lange allein bleiben würde. Als Hastings und Kenneth aus der Terrassentür traten, schlug er den entgegengesetzten Weg ein. Er brauchte Zeit, um nachzudenken, musste sich noch abkühlen. Doch sein Plan ging nicht auf, denn er lief beinahe in Hastings’ Frau Emily und ihre Freundin hinein. Es war zu erwarten gewesen, dass sich Emily in der Nähe ihres Ehemannes aufhielt. Die beiden klebten meist zusammen wie Pech und Schwefel.
Ihre Freundin Claire, deren blonde Locken um ihr Gesicht schwangen, hatte sich bei ihr eingehakt und drückte sich eine Hand an die Brust. »Himmel, haben Sie mich erschreckt!« Schnell machte sie einen Knicks. »Mylord.«
»Miles!« Emily lächelte ihn offen an. Sie war die Einzige, die ihn bei seinem Vornamen nannte. »Warum spazierst du ganz allein durch den Garten? Ist alles in Ordnung?«
»Natürlich.« Galant verbeugte er sich vor ihr und Claire. »Ich genieße nur ein wenig die Nachtluft.«
Sie lachte. »Ich glaube eher, du bist auf der Flucht.«
Kurz durchdrang es ihn heiß und kalt, bis er sich gewahr wurde, dass sie unmöglich etwas über sein geheimes Treffen mit Cole in der Bibliothek wissen konnte. Zu seiner Erleichterung setzte sie hinzu: »Die Ladys nehmen dich heute wohl wieder besonders in Beschlag?«
Er grinste schief. »Ja, ich bin geflohen, du hast mich erwischt.«
»Kein Wunder, du bist schließlich der begehrteste Junggeselle auf unserer Feier. Aber es darf nicht sein, dass du ganz allein hier draußen bist. Ich habe doch Lady Rowena Sauthersby versprochen, euch beide miteinander bekannt zu machen.«
Er lächelte schelmisch, obwohl es ihm widerstrebte, dass es sich Emily an diesem Abend wohl zur Aufgabe gemacht hatte, ihn unter die Haube bringen zu wollen. Bereits am Tag zuvor hatte sie angedeutet, eine passende Frau für ihn zu finden.
Emily zwinkerte. »Claire und ich werden natürlich in deiner Nähe bleiben, um sofort an deine Seite zu eilen, sollte ich an deinem Gesicht ablesen, dass dich Lady Sauthersby langweilt.«
Miles schmunzelte und räusperte sich leise. »Dann wollen wir die Gute nicht warten lassen.« Auf diese Weise könnte er vielleicht auch Cole aus der Nähe beobachten.
Er ging voran, und die beiden Frauen folgten ihm. Miles konnte der charmanten Emily einfach keinen Wunsch abschlagen und freute sich sehr für seinen Freund Hastings, dass er sie gefunden hatte. Er gönnte ihm sein Glück mit Emily von Herzen. Sie war gerade einmal sieben Jahre jünger als sein Freund, aber eine rothaarige Schönheit, die alle anderen Frauen in diesem Haus allein durch ihre Präsenz zu überstrahlen schien, dazu klug, redegewandt und großherzig. Sie hatte Hastings aus einem tiefen Loch geholt – in dem er, Miles, wohl für immer gefangen bleiben würde. Doch er wollte deshalb nicht den Kopf hängen lassen, schließlich war er ein Marquess, ihm fehlte es sonst an nichts. Cole hingegen … Verdammt, er bekam den jungen Mann einfach nicht aus seinen Gedanken.
Natürlich hatte Miles längst versucht herauszufinden, ob seine Zuneigung zu Männern nur eine vorübergehende Laune der Natur war. Als junger Kerl an der Universität hatte er mit seinen Kommilitonen ständig über Frauen geredet und den jungen Damen bei Ausflügen in die Stadt schöne Augen gemacht. Den einen oder anderen Kuss hatte er sich auch von einer Bedienung der Dorfschänke oder einem Bauernmädchen gestohlen, allein schon deshalb, weil unter seinen Kameraden ein Wettstreit entbrannt war, wer am Jahresende die meisten Küsse auf seinem Konto zu verbuchen hatte. Die Burschen hatten ihn nie aus den Augen gelassen. Miles hingegen hatte die Jungs bereits damals interessanter gefunden. Beim Baden im See hatte er sie heimlich beobachtet und nachts von den knackigen Körpern geträumt. Es war die Hölle gewesen, seine Erregung zu verbergen, manchmal hatte nicht einmal mehr kaltes Wasser geholfen.
Um sicherzugehen, dass er immer noch genauso empfand wie früher, hatte er vor ein paar Jahren mit der jungen, hübschen und recht freizügigen Witwe Elinor Hogarth geschlafen, die sich ihm auf einer Soiree regelrecht an den Hals geworfen hatte. Kurz hatte er überlegt, ob er sie zur Frau nehmen sollte. Doch allein die Vorstellung, jeden Morgen mit einer Frau an einem Tisch zu sitzen oder mit ihr das Bett teilen zu müssen, hatte sich für ihn völlig falsch angefühlt. Mit ihr intim zu werden, hatte erst geklappt, als er sich einen Männerkörper unter sich vorgestellt hatte, und der Akt war dadurch auf gewisse Weise sogar erregend für ihn gewesen – aber dennoch nicht das, was er für den Rest seines Lebens für sich wollte.
Interessanterweise hatte das Abenteuer seinen Ruf als guter Liebhaber und Frauenversteher gefestigt, obwohl er im Grunde völlig unerfahren war, was Intimitäten anbelangte.
Kaum hatte Miles den Salon durch die Terrassentür betreten, wehten ihm warme Luft und der Geruch von Essen sowie diverser Körperausdünstungen entgegen. Normalerweise machten ihm diese Düfte nichts aus, doch heute schlugen sie ihm auf den Magen. Vielleicht deshalb, weil Cole ihn mit Ignoranz strafte, sobald sich ihre Blicke kreuzten. Miles wollte nicht, dass der junge Mann ihn verachtete. Der kleine Dieb sollte ihm sogar dankbar sein, nicht den Job verloren zu haben! In Cole steckte anscheinend ein richtiger Rebell.
Emily führte ihn schnell und sicher durch die Leute zu Lady Rowena Sauthersby. Die Siebzehnjährige war die erste Tochter eines Dukes und keine Schönheit im klassischen Sinne, weil sie mit ihrer mageren Figur und den viel zu fülligen Lippen nicht dem antiken, griechischen Ideal entsprach. Dennoch fand Miles sie mit ihrem vollen braunen Haar, der makellosen Haut und dem eher burschikosen Gesicht nett anzusehen. Er hatte nur das Beste von ihr gehört, sie aber bisher nie persönlich zu Gesicht bekommen, da sie erst vor Kurzem in die Gesellschaft eingeführt worden war. Verehrer schien sie genug zu haben, denn ihre Tanzkarte war bereits, bis auf einen Platz, voll, wie Emily mehrfach auf dem Weg durch den Garten betont hatte. Die Quadrille hatte die junge Frau jedoch extra für Lord Rochford freigehalten.
Er würde wohl nicht umhin kommen, sowohl Lady Rowena Sauthersby als auch Emily diesen Wunsch zu erfüllen, und trug sich in die Karte ein, gleich nachdem er die junge Frau begrüßt hatte. Miles lächelte und nickte an den hoffentlich passenden Stellen, als sie ihm euphorisch etwas über Porzellanteller erzählte, die sie mit Blumenmotiven bemalte, denn er konnte sich kaum auf ihre Ausführungen konzentrieren. Ständig versuchte er, Cole zu erspähen, der die Gäste mit Getränken und Häppchen versorgte. Intensive grüne Augen funkelten ihn jedes Mal wütend an, wenn sich ihre Blicke trafen. Miles wollte dann immer grinsen, nur um den Mann zu ärgern. Doch natürlich hielt er sich bedeckt. Das Risiko, jemand könnte etwas über seine wahre Natur erfahren, war einfach zu groß.
Nachdem er mit der jungen Lady die Quadrille getanzt hatte, war er leicht außer Atem und durstig. Deshalb holte er sowohl für sich als auch für seine Tanzpartnerin eine Limonade von Coles Tablett – wobei Miles ihn diesmal mit Nichtachtung strafte – und verabschiedete sich anschließend von ihr, um sich mit anderen Gästen zu unterhalten.
Natürlich musste er sofort Emily Bericht erstatten und erklärte ihr, dass ihm Lady Rowena Sauthersby zu jung sei – obwohl sie sich im Grunde im besten heiratsfähigen Alter befand.
Cole war bloß ein paar Jahre älter, doch seine Gesellschaft würde er definitiv bevorzugen. Bestimmt hatte er viele aufregende Geschichten zu erzählen, in denen es sich nicht ums Sticken oder Tellerbemalen drehte. Schade, dass Miles bis auf seinen Namen noch nichts von ihm wusste.
So soll es auch bleiben, ermahnte er sich, aber der Kerl zog ihn an wie eine Jahrmarktsattraktion!
Statt auf seine Vernunft zu hören, ertappte sich Miles dabei, sich ausgerechnet von Coles Tablett mit Köstlichkeiten zu versorgen. Das ist nur Hunger, redete er sich ein, während er sich mehrere Häppchen direkt vor Coles Augen genüsslich in den Mund schob und sie provokant langsam kaute. Beim letzten leckte er sich den Daumen ab und ignorierte Coles geradezu mörderischen Gesichtsausdruck.
Das Spiel war so verboten wie erregend. Sie beide wussten, dass es längst nicht mehr um die kleinen Leckereien ging. An Coles Schläfe bildete sich eine Schweißperle, und er floh regelrecht aus dem Raum, als sein Tablett leer war.
Enttäuscht schaute Miles ihm hinterher. Am liebsten hätte er Cole in der intimen Atmosphäre seines Schlafzimmers mit den Kanapees gefüttert, sie ihm direkt in den Mund geschoben. Bestimmt hatte der junge Mann nie zuvor so etwas Leckeres gekostet. Falls Cole ihn einmal besuchen würde, wollte er ihn verwöhnen so gut er konnte und dem Mann jeden Wunsch von den schönen Augen ablesen.
Als Cole mit einem Tablett voller Champagnerkelche zurück in den Salon kam, begab er sich zielstrebig in eine entfernte Ecke, nicht ohne Miles einen vernichtenden Blick über die Menge hinweg zuzuwerfen.
Der unterdrückte ein Grinsen. Plötzlich fühlte er sich unfassbar durstig. Gemächlich schlenderte er durch die Gäste, plauderte hier ein wenig und grüßte dort einen Bekannten, wobei er sich Cole so geschickt näherte wie ein Jäger der Beute.
Der konnte nicht fliehen, weil sich gerade eine Matrone von seinem Tablett bediente und ein Glas nach dem anderen leerte. Artig wartete Miles hinter der Lady, wobei ihm auffiel, wie dicht und lang Coles Wimpern waren. Wenn er sich umblickte und die anderen Gäste betrachtete, gab es keinen schöneren Mann als Cole. Hastings war zwar auch nicht zu verachten, und es hatte eine kurze Zeit gegeben, als Miles geglaubt hatte, in seinen Freund verliebt zu sein. Doch das war schon ewig her. Wo Hastings eine Saite in ihm zum Klingen gebracht hatte, ließ Cole eine ganze Symphonie erschallen. Seit Jahren überlegte er, gewisse Straßen und Viertel in London aufzusuchen, in denen sich männliche Prostituierte anboten. Bisher hatte Miles widerstehen können, doch niemals zuvor war das Verlangen größer gewesen als heute. Vielleicht sollte er es riskieren. Nur ein einziges Mal, um diesen unglaublichen Druck in seinem Inneren loszuwerden …
Da er nun wusste, dass Cole genauso fühlte wie er, fand er den Mann noch anziehender. Doch es musste bei der Erinnerung an diesen einen Kuss bleiben. Zu viel stand auf dem Spiel.
***
Erst zwei Stunden vor Sonnenaufgang löste sich der Rest der Gesellschaft auf und die letzten fuhren nach Hause oder gingen zu Bett. Die Dienstboten, darunter auch Cole, waren mit Aufräumen beschäftigt und boten keine Häppchen oder Getränke mehr an. Damit gab es für Miles leider keinen Grund mehr, sich in Coles Nähe aufzuhalten.
Aber er fühlte sich noch kein bisschen müde, als er sich von Hastings verabschiedete – Emily war längst nach oben gegangen – und zu seiner geschlossenen Kutsche eilte, die vor der Stadtvilla stand. Sein Fahrer, der mit vierzig Lenzen zwar nicht mehr der jüngste war, aber seine Sache immer noch hervorragend machte, war auf dem Kutschbock eingenickt, doch nach einem kurzen Ruf sofort zur Stelle, um ihm die Tür zu öffnen.
»Godric«, sagte er zu dem leicht ergrauten Mann. »Bring mich so schnell nach Hause, wie du kannst.«
»Sehr wohl, Mylord.« Godric verbeugte sich, stieg zurück auf den Bock und schon fuhren sie los.
Vom Stadtviertel Mayfair bis zu seinem Haus am Cavendish Square in Marylebone war es zum Glück nicht weit. Er wollte sich rasch umziehen, um im Schutz der Morgendämmerung Cole zu verfolgen. Wie Miles von Emily erfahren hatte – denn natürlich hatte er sie unterschwellig befragt –, befand sich die Agentur, die den jungen Mann beschäftigte, in der Mortimer Street. Miles war die »Servants Agency« bekannt, bei der Dienstjungen und -mädchen für einige Stunden oder Tage gebucht werden konnten, weil seine Mutter dort früher für ihre ausufernden Feiern selbst Personal geordert hatte. Zu dieser Adresse würde der Kutscher der Agentur die Angestellten bringen, damit sie die Dienstkleidung zurückgeben und ihren Lohn abholen konnten. Cole würde sich also von dort aus auf den Weg nach Hause machen.
Weil die Straßen zu dieser Zeit noch frei waren, erreichten sie bereits nach wenigen Minuten Miles’ vierstöckiges Stadthaus, das in einer Reihe mit anderen prächtigen Bauten am Cavendish Square stand. Die einzelnen Gebäude trennte jeweils eine Durchfahrt, um mit der Kutsche in den Hinterhof zu gelangen. Miles sprang aus der Kabine, noch bevor Godric in der Nähe des kleinen Stalles angehalten hatte, und huschte durch die Küchentür ins Haus. Flink zog er sich seinen Frack, die Weste sowie die edle Oberkleidung aus, schlüpfte in ein altes Hemd sowie seinen schwarzen Kapuzenmantel, und verließ sein Heim auf demselben Weg, wie er es betreten hatte.
Im Schutze der Dunkelheit marschierte er zügig in die Mortimer Street, die nur einen Katzensprung von seinem Zuhause entfernt lag. Dort verharrte er zwischen zwei Gebäuden, verborgen in den Schatten, und wartete auf die Ankunft der Agenturkutsche. Miles’ Herz raste, als diese knapp zwanzig Minuten später vor dem gegenüberliegenden Haus stehen blieb und neben all den weiblichen und männlichen Bediensteten auch Cole ausstieg. Es dauerte nicht lange, da trat er bereits wieder ins Freie – nun in derselben Kleidung, die er in der ersten Nacht ihrer Begegnung getragen hatte. In der einen Hand hielt er einen kleinen Beutel, die andere schob er in die Hosentasche.
Als Cole in südlicher Richtung davon spazierte, heftete sich Miles an seine Fersen. Er wollte wissen, wo der Kerl wohnte. Natürlich nur zur Sicherheit, falls der Mann vorhatte, ihn zu erpressen. Miles kannte die Gesetze der Straße, schließlich trieb er sich selbst seit vielen Jahren hier draußen herum. Jedes Wissen, jeder Vorteil, wurden genutzt, um sich zu bereichern. Vielleicht spielte Cole mit dem Gedanken, von ihm Schweigegeld zu fordern. Deshalb war es nicht verkehrt, sich zu informieren. Miles verbot es sich streng, über andere Motive nachzudenken, aus denen er dem jungen Mann hinterherspionierte.
Während sich Cole Soho näherte, blickte er ständig über die Schulter, als wüsste er, dass er verfolgt wurde. Dabei schob er seine Hand noch tiefer in die Hosentasche. Wahrscheinlich bewahrte er dort seinen Lohn auf und hatte Angst, überfallen zu werden. Oder er spürte womöglich Miles’ Blicke in seinem Rücken. Er musste deshalb noch vorsichtiger sein, vergrößerte den Abstand und bewegte sich von Deckung zu Deckung, immer im Schatten der Häuser. Doch es wurde kontinuierlich heller, die Straßen füllten sich langsam mit Leben. Sie durchstreiften nicht gerade die übelste Gegend, dennoch wünschte sich Miles, er hätte Cole sein Messer überlassen, damit der sich im Notfall verteidigen konnte.
Er schnaubte amüsiert. Der Dieb weckte seinen Beschützerinstinkt? Miles war wirklich verflucht.
Geschätzte zwanzig Minuten später bog Cole im Stadtteil Soho in die Little Pulteney Street. An den Hauptstraßen wohnte die Arbeiterschicht, in den Nebenstraßen die ärmeren Bürger. Deren winzige Behausungen befanden sich meist zwischen den Brauereien, die sich hier angesiedelt hatten. Der süßliche Geruch von Hopfen und Malz hing in jeder Gasse, und das Feuer unter den großen Kupferkesseln schien nie auszugehen. Überall dampfte und rauchte es und die ersten Fässer des Tages wurden zur Auslieferung auf Kutschen geladen.
Miles hatte erst vor Kurzem in der Times gelesen, London wäre die Bierhauptstadt Europas. Er musste zugeben, dass er ein herbes Porter nach dem Boxtraining mit Hastings immer zu schätzen wusste. Ansonsten bevorzugte er liebliche Weine oder Brandy.
Als Cole eine Treppe hinablief, die zum Souterrain eines Gebäudes führte, wartete Miles einen Moment, um ihm anschließend zu folgen. Eine Holztür am unteren Ende der Stufen führte in ein Kellerzimmer, das nur ein einziges Fenster besaß. Licht gab es hier keines, die Stufen lagen in völliger Dunkelheit und verschluckten auch Miles’ Silhouette.
Der Vorhang hinter der schmutzigen Scheibe war nicht ganz zugezogen, weshalb Miles hineinspähen konnte. Er sah Cole, der auf einem kleinen Tisch neben einer Waschschüssel eine Kerze entzündete und den Beutel daneben abstellte. Daraus zog er etwas – vielleicht ein übrig gebliebenes Häppchen von der Feier – und schob es sich in den Mund. Während er kaute, holte er Geld aus der Hosentasche, bückte sich neben dem Tisch, entfernte einen losen Ziegelstein aus der Wand und verbarg seinen Lohn dahinter. Anschließend streifte er sich das Hemd ab, um sich schnell das Gesicht und unter den Armen zu waschen.
Leider bekam Miles nicht viel zu sehen. Das Licht war zu schwach und das Fenster zu schmutzig. Doch als Cole die Kerze neben ein Bett stellte, erkannte er sehr wohl, dass noch jemand darin lag: eine junge Frau! Sie trug eine weiße Haube, unter der eine blonde Locke hervorspitzte, und lächelte Cole an, als sie kurz die Lider öffnete.
Rasch schlüpfte er zu ihr unter die Laken, gähnte und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann löschte er das Licht – und Miles erkannte nichts mehr.
Schnell zog er sich vom Fenster zurück und setzte sich auf eine Stufe. Seine Hände und Knie zitterten wie verrückt und in seinem Magen rumorte es. Er ließ sich zwar nicht von einer reichen Witwe aushalten, wie Miles wegen des Rosenduftes vermutet hatte, aber er lebte mit einer Frau zusammen. Bedeutete das, Cole besaß doch nicht dieselbe krankhafte Neigung wie er selbst? Hatte der Kerl ihm nur etwas vorgespielt? Wieso?
Miles zuckte zusammen, als über ihm auf der Straße mehrere Männer Fässer vorbeirollten. Wie konnten die beiden bei diesem Lärm bloß schlafen? Das hier war wahrlich keine ruhige Gegend.
Prompt fiel ihm eine Geschichte ein, die er mit etwa zwölf Jahren gehört hatte. Ganz London redete damals über die katastrophale Bierüberschwemmung, die sich in der Gemeinde St. Giles ereignete. In einer Brauerei an der Tottenham Court Road platzten nacheinander unzählige Fässer Bier, sodass schließlich mehr als 323.000 imperiale Gallonen Ale in die Straßen strömten. Die Welle zerstörte Häuser und Kneipen, und mehrere Leute wurden unter eingestürzten Mauern begraben. Da sich das Lager mitten in den Slums von St. Giles befand, wo viele Familien in Kellern lebten, ertranken die Menschen jämmerlich, weil sich die unterirdischen Räume schnell füllten.
Cole lebte auch im Keller, umgeben von mehreren Brauereien …
Das sollte ihm egal sein! Doch Miles schluckte schwer und sein Herz klopfte hart, als er sich vorstellte, Cole würde solch ein grausamen Schicksal ereilen.
Vergiss ihn endlich!, befahl er sich harsch, warf einen letzten Blick durch das trübe Fenster, obwohl er ja doch nichts mehr erkennen konnte, und ging nach Hause.