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Kapitel 4 – Ins Herz gestohlen

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Zwei Tage später war Cole immer noch erzürnt darüber, dass der Lord sein »Einkommen« geschmälert und es geradezu genossen hatte, ihm zu zeigen, auf welcher Seite der Gesellschaft er stand und wo Coles Platz war. Der Marquess hatte sich an den Getränken und Speisen bedient, als würde er kurz davorstehen, zu verhungern. Dabei hatte der feine Herr Lord gewiss noch nie erfahren, was es bedeutete, tagelang nicht mehr in den Magen zu bekommen als ein bisschen alten Käse oder einen halben Apfel.

Zusätzlich hatte Cole das Getratsche der weiblichen Gäste geärgert, die »Lord Rochford« in den höchsten Tönen gelobt und immer wieder betont hatten, was für eine hervorragende Partie und wie vermögend er wäre, sogar noch reicher als der Earl of Hastings. Cole beschloss, sich seinen »entfallenen Lohn« von Rochford persönlich zu holen … heute Nacht. Es war auch nicht schwer gewesen, herauszufinden, wo genau der hohe Herr wohnte: am Cavendish Square, natürlich. Dort reihte sich ein nobles Stadthaus an das andere.

Annie erzählte Cole wie immer, wenn er nachts unterwegs war, dass er arbeiten musste. Meist fragte sie gar nicht mehr nach, was er genau tat, vielleicht, weil sie wusste, dass er sie ohnehin anschwindelte. Doch das machte er nur, damit sie sich nicht zu sehr um ihn sorgte.

Sie war jedes Mal froh, wenn er wohlbehalten zu ihr zurückkehrte und er ihr versicherte, dass sie auch noch in der nächsten Woche ein trockenes Dach über dem Kopf und ausreichend zu essen hatten. Doch die Angst um ihn stand ihr immer ins Gesicht geschrieben, wenn er sich von ihr verabschiedete.

Zum Glück fand sie genug Zerstreuung, weil auch sie alles gab, damit sie leichter über die Runden kamen. Im Waisenhaus – mit dem Cole keine guten Erinnerungen verband – hatte sie Sticken, Stopfen und andere nützliche Dinge gelernt. Sie führte kleinere Reparaturen an Gewändern der Damen aus der Mittelschicht durch, die ihre Kleidungsstücke in einem Laden an der Percy Street abgaben. Annie hatte dort angefragt, ob sie als Näherin arbeiten dürfte, doch der Besitzer hatte sie zuerst mit gerümpfter Nase angeblickt und gesagt, er würde »solche Leute wie sie« nicht einstellen, und ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Damals hatte Annie noch ein viel zu kurzes, schmutziges und löchriges Kleid getragen.

Die Frau des Besitzers hatte sich jedoch erbarmt und schusterte ihr seitdem täglich etwas Arbeit zu. Annie verdiente so wenig, dass Cole der alten Pfennigfuchserin am liebsten den Hals umdrehen wollte! Doch Annie liebte ihre Arbeit – wohl auch, weil diese sie von ihrer finsteren Vergangenheit ablenkte.

Cole wünschte, dass er sie eines Tages aus dem Kellerloch holen und ihr das Leben bieten konnte, das sie verdiente.

Kurz nach Mitternacht hatte er fast den Cavendish Square erreicht. Ein paar Betrunkene torkelten durch die Gassen, hier und da stand eine Prostituierte, um ihm lächelnd zu winken.

Sah er so aus, als hätte er Geld, sie zu bezahlen? Wenn er etwas übrig hätte, wäre er vielleicht längst einmal zu einem Mann gegangen. Außerdem hatte er sich auch schon überlegt, seinen Körper zu verkaufen. Doch das würde er bloß aus allergrößter Verzweiflung tun! Das Risiko, geschnappt zu werden, war immens. Und wollte er wirklich, dass ein Wildfremder ihn berührte? Cole schüttelte sich und hatte immer noch vor Augen, was Annie im Heim passiert war …

Mit dreizehn Jahren war er dort mit Annie gelandet oder besser gesagt: hatte er dort an die Tür geklopft, in der Hoffnung, für sie beide ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu bekommen. Das war ihm auch gelungen, aber sie hatten dafür einen hohen Preis gezahlt. Schon ein Jahr später war er mit ihr von dort geflohen. Sie war doch erst elf gewesen, als sich dieses Schwein an ihr vergriffen hatte! Warum war es normal, dass Männer mit Mädchen und Frauen alles tun durften, was ihnen beliebte? Wenn er an seine Mutter dachte … Coles Magen verkrampfte sich. Solch eine Zukunft wünschte er Annie niemals.

Keiner durfte je erfahren, was Cole in jener Nacht, bevor sie aus dem Waisenhaus geflohen waren, getan hatte und was Annie zugestoßen war. Er würde ins Gefängnis kommen und sie niemals einen ehrbaren Mann finden – falls überhaupt jemand ein ehemaliges Straßenmädchen heiraten wollte.

Deshalb musste sich Cole um sie kümmern. Annie hatte nur ihn! Ihretwegen riss er sich zusammen und versuchte, so viel ehrbare Arbeit zu ergattern, wie er finden konnte. Aber das gelang ihm eben nicht immer …

Auch auf den letzten Metern zu seinem Ziel blickte er sich ständig um, gefangen zwischen Hoffnung und Sorge, dem dunklen Rächer zu begegnen. Aber der hielt sich wohl bestimmt nicht in dieser noblen Gegend auf.

Immer noch war sich Cole unsicher, ob wirklich Lord Rochford hinter der geheimen Identität steckte oder Cole ihn aus anderen Gründen am Lagerhaus angetroffen hatte. Aktuell wäre es ihm sehr recht, wenn der Lord dieser geheime Rächer wäre, denn dann würde er wahrscheinlich nicht zu Hause sein, wenn er bei ihm herumstöberte. Andererseits wollte er ihn wiedersehen, verdammt! Er schaffte es einfach nicht, den Mann zu vergessen.

Aber nur, weil er der unerreichbare Märchenprinz ist, schalt er sich in Gedanken und wünschte, er selbst würde die Figur einer heldenhaften Geschichte sein und in einem Land leben, in dem Männer zusammen sein durften, ohne Tod und Verfolgung befürchten zu müssen. Lord Rochford wäre der dunkle Rächer, Cole sein wagemutiger Begleiter. Zusammen würden sie die verrücktesten Abenteuer erleben und sich danach jedes Mal wild lieben …

»Ts«, machte Cole. Er war immer noch ein Träumer, genau wie früher.

Bevor er mit Annie aus dem Waisenhaus geflohen war, hatte er dort so gut wie alle Bücher gelesen, an die er herangekommen war. Oft musste er sich die Romane heimlich »ausleihen«, weil er ständig irgendwelche Strafaufgaben aufgebrummt bekommen hatte. Er hatte sich eben nur schlecht unterordnen können und vor allem die zahlreichen Ungerechtigkeiten nicht ertragen. Allein wenn er an den Heimleiter dachte, packte ihn solche Wut, dass er am liebsten etwas zerstören wollte! Ohne die Geschichten und seiner eigenen kleinen Gedankenwelt, in der alles so ablief, wie er es sich vorstellte, wäre er wohl verrückt geworden.

Dass er ein Träumer war, hatte er wohl von seiner Mutter geerbt. Und wohin hatte es sie gebracht?

Da es zu sehr schmerzte, an sie zu denken, konzentrierte er sich lieber auf seine Mission und entspannte sich ein wenig, weil er sich nun in einem vornehmeren Viertel befand. Die Straßen waren breiter und gefegt, es stank kaum nach Unrat, und Laternen säumten die Wege.

Als er an dem hohen, quadratischen Bau mit den vielen Fenstern vorbeiging, in dem Lord Rochford wohnen sollte, bemerkte er erfreut, dass nirgendwo Licht brannte. Leider war es wegen der Gaslaternen in diesem Viertel gar nicht so einfach, ungesehen irgendwo hineinzuschleichen. Würde er sich am Haupteingang zu schaffen machen, könnte ihn jeder dabei beobachten. Er müsste außerdem erst das Türchen in dem niedrigen Zaun passieren, der das Grundstück von der Straße trennte. Doch zum Glück gab es immer eine Hintertür. Also marschierte Cole selbstbewusst, als würde er hier arbeiten, in die Einfahrt, die zwischen Rochfords Haus und dem seines Nachbarn zu den Ställen auf der Rückseite führte.

Bestimmt beschäftigte der Lord unzählige Angestellte, die allein für ihn da waren. Deshalb würde sich garantiert niemand wundern, was Cole hier suchte, da er mit seiner Kappe, dem einfachen Hemd – unter dem er einen leeren Beutel verbarg –, den kniehohen Stiefeln und der braunen Hose ohnehin wie ein Stallbursche daherkam.

Hinter dem Gebäude war es beinahe stockdunkel; es brannte nur eine Laterne in der Nähe des Stalles. Daneben stand eine geschlossene Kutsche, auf der ein Familienwappen angebracht war. Cole konnte es wegen der Finsternis jedoch nicht genau erkennen. Womöglich war es blau und silberfarben und … zeigte einen feuerspuckenden Löwen?

An der Hintertür des Stadthauses gab es kein Licht. Im Schutze der Dunkelheit schlich Cole an der Mauer entlang und zog seinen Dietrich – einen gebogenen Nagel – aus der Hosentasche. Kaum war er bei der Tür angekommen, hatte er das Schloss auch schon geknackt. Vorsichtig spähte er in die Küche und atmete auf, weil kein Knecht am Kamin schlief. In diesem Haus hatte der wohl eine eigene Kammer.

Das Feuer war fast ganz heruntergebrannt, doch durch den schwachen Schein, den die Glut verbreitete, fand er sich gut zurecht. Es duftete nach leckerem Gebäck, das abgedeckt unter einem Tuch auf dem Tisch stand. Cole konnte nicht widerstehen, da ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er hob einen Stoffzipfel an und entdeckte helle, runde Kekse. Cole schnappte sich einen und schob ihn sich in einem Stück in den Mund. Herzhaft kaute er, woraufhin sich noch mehr Speichel bildete. Verdammt, schmeckte der köstlich! Buttrig und zuckersüß und auch ein bisschen nach Zimt. Zuletzt hatte er so etwas Gutes gegessen, als seine Mutter noch gelebt hatte, doch das schien Ewigkeiten her zu sein. Sofort nahm er sich noch einen Keks, den er diesmal etwas langsamer kaute. Solche Leckereien bekam der Herr Lord bestimmt jeden Tag und wusste es gewiss nicht einmal zu schätzen.

Ein wenig zog es in Coles Magen, wenn er an die Vergangenheit dachte und alles, was er verloren hatte. Wenn der Plan seiner Mutter aufgegangen wäre – wo würden sie heute wohnen? Sicher ginge es ihnen besser als gerade. Er vermisste ein gemütliches, sauberes Zuhause. »Gemütlich« war es bei ihnen allerdings selten zugegangen, seinem Vater sei Dank. Aber Cole musste nach vorne sehen und wollte hart daran arbeiten, für Annie und sich ein akzeptables Leben zu schaffen. Vielleicht würde er eines Tages in einem Haus wie diesem arbeiten dürfen. Ja, das wäre nicht übel. Zumindest fror er sich hier im Winter nicht die Finger und Zehen halb ab.

Schnell huschte er durch die Küche und drückte die Tür zum Flur auf. Dort herrschte völlige Dunkelheit. Cole brauchte für sein Vorhaben jedoch Licht. Also nahm er die Kerze, die er auf dem Küchentisch entdeckte, entzündete sie an der Glut im Kamin und schlich weiter. Er musste absolut leise sein, denn hier unten befanden sich bestimmt die Räume des Butlers. Diese besonderen Bediensteten schienen allgemein einen leichten Schlaf zu haben, um stets für ihre Herren zur Stelle sein zu können.

Durch seine Arbeit für die Agentur wusste Cole, wie die Dienerschaft in einem adligen Haushalt organisiert war. An der Spitze stand der Butler, auf den immer Verlass sein musste. Außerdem war er verpflichtet, über alles, was in der Familie passierte, Stillschweigen zu bewahren.

Der nächste wichtige männliche Angestellte war der Kammerdiener, der sich um viele persönliche Belange des Hausherren kümmerte; das Gegenstück war die Lady’s Maid, die der Frau des Hauses zur Seite stand. Beide Bediensteten mussten für ihre Vorgesetzten ständig verfügbar sein.

Cole hatte auf der Feier gehört, Rochford würde keinen Valet beschäftigen. Der Lord hatte also niemanden, der ihm beim Ankleiden half, private Besorgungen für ihn erledigte oder ihn außerhalb der Essenszeiten bediente? Das konnte sich Cole kaum vorstellen!

Wobei … wenn ein Herr zu einem Diener solch ein intimes Verhältnis pflegte, könnte schnell auffallen, wie Rochford wirklich tickte.

Dass er Männer begehrte.

So war wie er.

Coles Herz schlug kräftiger. Der attraktive Marquess faszinierte ihn. Er schien voller Geheimnisse und Überraschungen zu stecken.

Wie von selbst führten Coles Beine ihn die ausladenden Treppen in der Eingangshalle nach oben, und er öffnete eine Tür nach der anderen, bis er Rochfords Schlafzimmer gefunden hatte. Es enttäuschte ihn ein wenig, das riesige Bett leer vorzufinden. Doch nun konnte er sich wenigstens in Ruhe umsehen. Falls es hier Wertsachen zu holen gab – und davon ging Cole aus – würde er sie bestimmt in den ganz privaten Räumen des Mannes finden.

Cole holte den Beutel unter seinem Hemd hervor, in dem er sein Diebesgut verstauen wollte, und stellte die Kerze auf dem Waschtisch ab. Daneben entdeckte er ein Parfümfläschchen. Er roch daran, und sein Herz schlug wild, weil es genau wie Rochford duftete. Schnell steckte er die kleine Flasche ein.

Danach zog er eine Schublade nach der anderen auf, spähte hinein und schloss sie wieder. Er fand einen Stapel Briefe in einem kleinen Sekretär und eine Schmuckschatulle. Als er diese öffnete, funkelten ihm silberne Ohrringe und eine Kette entgegen, in der zahlreiche blaue Steine eingearbeitet waren, womöglich Aquamarine. Wahrscheinlich stammte der Schmuck von Rochfords Mutter. Cole hatte gehört, dass die alte Lady vor ein paar Jahren nach einem Fieber verstorben war. Sie hatte ebenfalls in diesem Haus gelebt.

Cole überlegte, die Schatulle in seinen Beutel zu stecken, brachte es aber nicht übers Herz. Vielleicht war der Schmuck für den Lord ein bedeutendes Andenken an seine Mum. Ob die beiden ein gutes Verhältnis gehabt hatten?

Er beschloss, die Schatulle zurückzulegen und das Ankleidezimmer nach Manschettenknöpfen, Ringen oder Krawattennadeln durchzusehen. Bestimmt hatte der Lord eine ganze Sammlung davon und würde womöglich nicht einmal bemerken, wenn ein paar fehlten. Beim Rausgehen würde sich Cole nach wertvollen Vasen und anderen Accessoires umsehen. Das Silberbesteck war gewiss weggeschlossen, danach brauchte er gar nicht erst zu suchen.

Er nahm die Kerze sowie seinen Beutel, um die zweite Tür im Raum zu öffnen. Sie führte in ein kleineres Zimmer, in dem viele Kommoden und ein schmales Bett standen. Dort schlief normalerweise der Kammerdiener. Jetzt lagen ein paar Hemden darauf.

Sanft ließ Cole die Finger über den edlen Stoff gleiten und stellte sich vor, wie der Lord darin aussehen würde … bevor Cole ihn auszog. Er konnte den Mann einfach nicht vergessen. Dessen Küsse verfolgten ihn sogar bis in den Schlaf. Verdammt!

Er sollte sich beeilen und endlich von hier verschwinden. Bloß wollte ihm sein Körper nicht gehorchen. Insgeheim hoffte er, noch einmal von Rochford übermannt zu werden. Doch diesmal würde Cole nicht weglaufen …

Dem dunklen Rächer verfallen

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