Читать книгу Dem dunklen Rächer verfallen - Inka Loreen Minden - Страница 5
Kapitel 2 – Eine Party mit Überraschungen
ОглавлениеCole versicherte sich, dass seine Livree perfekt saß und die weißen Handschuhe makellos sauber aussahen. Anschließend schnappte er sich das Tablett mit den Häppchen vom Küchentisch und ging aufrecht zum Ballsaal, als hätte er einen Stock im Arsch, genau wie die anderen Angestellten. Dazu setzte er eine stoische Miene auf, weshalb ihn sicher keiner beachten würde. Zumindest keiner der Adligen. Die ignorierten für gewöhnlich alle, die ihnen unterstellt waren, außer, sie wollten bedient werden. Cole bewirtete an diesem Abend jedoch nicht nur die hohen Herrschaften, sondern spionierte sie zugleich aus.
Daniel Appleton – bekannt als der Earl of Hastings – und seine Frau Emily gaben eine Feier zur Geburt ihres drei Monate alten Sohnes, der im Mai zur Welt gekommen war. Der kleine Richard würde sowohl einmal den Titel als auch das Vermögen seines Vaters erben und nicht täglich ums Überleben kämpfen müssen, so wie er. Privilegierte Bastarde! Keiner von ihnen wusste, wie gut sie es hatten.
Nur die engsten Freunde der Familie und ein paar der wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten Londons waren geladen worden. Der kleine Kreis aus nicht einmal hundert Gästen blieb deshalb überschaubar. Cole war schon auf ganz anderen Feierlichkeiten gewesen. Dennoch schrie um ihn herum alles nach Geld. Er musste nur danach greifen!
Einige Adlige, die von weiter her kamen, wollten hier übernachten, und dann würde Cole zuschlagen. Er verstand es perfekt, mit der Dunkelheit zu verschmelzen und nicht aufzufallen. Schon jetzt überlegte er, welchen Schmuck er welcher Lady, welche Manschettenknöpfe, Krawattennadeln oder Taschenuhren er welchem Herrn entwenden wollte. Im Schein der zahlreichen Kerzen und Leuchter funkelten die Kostbarkeiten einladend.
Außerdem standen überall in dieser prächtigen Stadtvilla wertvolle Einrichtungsgegenstände herum, die er versetzen könnte: poliertes Silberbesteck, vergoldete Kerzenleuchter, edles Porzellan. Cole rechnete schnell zusammen, welches Vermögen ihm die ganzen Schätze einbringen würden, wenn er sie beim Pfandleiher eintauschte oder seinen nicht ganz so seriösen Kontakten in schmutzigen Hinterhöfen feilbot. Es würde auf jeden Fall reichen, um eine ganze Weile über die Runden zu kommen. Mehr Geld hatte außerdem den Vorteil, dass er sich nicht zu oft als Diener beschäftigen lassen musste. Das half vor allem dabei, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, da er die Gäste immer erst »erleichterte«, wenn die gebuchten Angestellten längst das Haus verlassen hatten. Ohne diese zusätzliche Einnahmequelle würde er verzweifeln, denn das Dienstjungendasein allein reichte nicht aus, um zu zweit zu überleben. Deshalb hatte er seine Fähigkeiten trainiert, die er sich auf der Straße angeeignet hatte – wie seine flinken Finger –, um an Extrageld zu kommen.
Cole marschierte mit dem Tablett durch alle Räume, um sich erneut einen Überblick zu verschaffen. Alles war noch genau wie zuvor. Im Rauchersalon bediente der hauseigene Dienstbote Henry, im Salon der Ladys das Dienstmädchen Becky. Da sie die Chatelaine trug – eine Brosche, an der zahlreiche Ketten mit Schlüsseln und anderen praktischen Utensilien hingen – war sie das oberste Dienstmädchen, dem alle anderen Mädchen unterstanden. Sie kannte sicher sämtliche Geheimnisse innerhalb dieser Wände. Cole hatte mit ihr geflirtet, um an weitere Informationen zu kommen, aber das gerissene Biest hielt sich bedeckt. Vielleicht würde er später noch zu ihr durchdringen.
Der grauhaarige, leicht gebeugt gehende Butler Smithers überwachte im großen Saal mit Argusaugen die Arbeit der männlichen Dienstboten, aber Cole schätzte, dass der steinalte Greis nicht mehr alles mitbekam, was um ihn herum passierte.
Dann gab es noch das hausinterne Mädchen Janett, das in der Küche mithalf. Die meisten anderen Angestellten, die hier herumhuschten, beschäftigte Lord Hastings nur für diesen Abend.
Coles Kartei wurde gleich in drei der besten Agenturen Londons geführt. Er hatte Glück, dass er sowohl gesund als auch ansprechend aussah und ihm noch alle Zähne im Mund saßen. Penibel achtete er auf sein Äußeres und pflegte sich. Mittlerweile konnte er einige Referenzen vorweisen und wurde fast jedes Mal ausgewählt, wenn er sich für einen Job bewarb.
Cole grinste innerlich, während er einer Lady das Tablett mit den Häppchen vor die Nase hielt, denn sie trug eine Kette mit dicken Smaragden um den Hals. Diesen Klunker brauchte er unbedingt! Schnell senkte er den Blick, machte eine leichte Verbeugung und beobachtete weiter die Menschen im Raum. Alle schienen gute Laune zu haben, begrüßten sich freudig, tauschten Neuigkeiten aus. Noch roch es angenehm nach Puder und Duftwässerchen; später würde der penetrante Gestank von Schweiß überall im Raum hängen. Doch Cole war Schlimmeres gewohnt als üble Gerüche. Für ihn zählte außerdem nur, dass er nicht auffiel.
Die persönlichen Angestellten von Lord Hastings waren alle abgelenkt, beschäftigt. Sehr gut. Damit waren die oberen Etagen vermutlich menschenleer – bis auf eine Ausnahme: das Zimmer der Nanny Lizzy. Die hatte sich vor einer Weile mit den Kindern in deren Schlafgemächer zurückgezogen. Cole brauchte nur auf eine perfekte Gelegenheit zu warten, um sich unauffällig von der Party zu entfernen, und konnte dann in aller Ruhe die ungenutzten Räumlichkeiten des großen Stadthauses auskundschaften.
Leider ließ ihn seine Konzentration in letzter Zeit ein wenig im Stich. Es waren zwar bereits ein paar Tage vergangen seit der Begegnung mit dem geheimnisvollen, gutaussehenden Fremden, aber Cole musste immer noch an ihn denken. Beinahe ununterbrochen! Der große Unbekannte, der ihn am Lagerhaus völlig überrascht hatte, konnte niemand anderes als dieser berüchtigte dunkle Rächer gewesen sein, daran bestand für Cole kein Zweifel. Wer sollte sonst nachts freiwillig Jagd auf Diebe machen? Cole wusste zwar nicht, was dieser Kerl für ein Motiv hatte, aber irgendetwas würde ihn schon antreiben.
Die Sache mit dem Kuss war ihm spontan eingefallen, weil er sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Immerhin hatte der Kerl ihn regelrecht in den Staub gepinnt!
Der ansehnliche Gesetzeshüter hatte verdammt gut geschmeckt und sauber gerochen, doch am meisten hatten Cole dessen Küsse gefallen. Der Kerl wusste seinen Mund verteufelt gut einzusetzen. Cole spürte fast immer noch die fremden, weichen Lippen auf seinen eigenen …
Sein ursprünglich geplantes Ablenkungsmanöver wäre beinahe gehörig in die Hose gegangen, denn er hatte sich regelrecht in den Zärtlichkeiten verloren. Niemals zuvor war er auf diese erregende Weise geküsst worden! Nur der Gedanke an Annie hatte ihn schließlich zur Vernunft gebracht, und er war aus dem süßen Traum aufgetaucht. Doch Cole würde nie das Gesicht seines attraktiven Angreifers vergessen.
Völlig versunken in seinen Erinnerungen brauchte Cole einen Moment, um zu erkennen, dass er nicht halluzinierte: Der Kerl, der ununterbrochen durch sein Hirn geisterte, kam gerade durch die Menschenmenge auf ihn zu.
Fuck!
Geschmeidig wie ein Panther bewegte sich der große, schlanke Mann, der – seiner edlen Kleidung nach zu urteilen – unverkennbar dem Adel angehörte, durch die Leute. Immer, wenn er den Zylinderhut abnahm, um zu grüßen, glänzte das dichte dunkelbraune Haar im Kerzenschein auf, das er im Nacken zusammengebunden hatte. Wenn er lächelte, bildeten sich leichte Grübchen in seinen Wangen und helle, gerade Zähne blitzten auf. Cole schätzte ihn auf knapp dreißig, er war also im besten Alter. Aber eine Frau sah er nicht an seiner Seite. Der Mann fiel jedoch auch ohne Schnatterliese auf, denn er überragte sogar den relativ großen Gastgeber Lord Hastings noch um ein Stück.
Hastig wandte Cole den Blick von dem faszinierenden Kerl ab und suchte eine Fluchtmöglichkeit durch die Menschenmassen. Warum schienen sich plötzlich alle Gäste in diesem Raum aufzuhalten? Und was machte sein Angreifer ausgerechnet hier? Der Kerl durfte ihn auf keinen Fall zu sehen bekommen!
Noch schien der Adlige ihn nicht bemerkt zu haben, denn er flirtete mit den Ladys und nickte einigen Herren zu.
»Wo steckt Rochford bloß?«, rief Lord Hastings plötzlich dicht neben Cole, sodass er leicht zusammenzuckte und beinahe das Tablett fallen ließ. Schnell stellte er es auf einem Beistelltischchen ab und bemerkte, wie seine Hände leicht zitterten. Sofort verbarg er sie hinter seinem Rücken und schlich an der Wand entlang Richtung Ausgang. Dabei donnerte sein Herz laut in seinen Ohren.
Eine korpulente Lady, die ein sehr ausladendes Kleid trug, stand in der Tür und versperrte seine einzige Fluchtmöglichkeit. Verdammt noch mal!
Ein anderer Mann neben Lord Hastings lachte. Cole sah nur dessen breite Schultern, über die sich sein Frack spannte, und das hellbraune Haar. Das musste Kenneth Bloombury sein, wie Cole bereits herausgefunden hatte. Er stammte nicht vom Adel ab und war der Gatte von Claire Bloombury, der besten Freundin von Lady Hastings. »Rochford ist sicher längst hier, um auszuspionieren, welche heiratsfähigen Damen sich unter den Gästen befinden.«
»Glaubst du ernsthaft, er möchte jetzt schon unter die Haube?« Lord Hastings schmunzelte. »Dafür liebt er seine Freiheiten zu sehr.«
»Und die Frauen!«, setzte Kenneth hinzu, bevor er Coles Angreifer winkte. »Ah, da ist Rochford ja!«
Cole schluckte und blieb wie erstarrt stehen. Der dunkle Rächer war Miles Dunmoore, der Marquess of Rochford?
Der trat zu den beiden Männern und nickte ihnen zu. »Hastings, Kenneth.«
Eiskalt lief es Cole den Rücken herunter, und er starrte atemlos zu jenem Mann, der ihn vor ein paar Tagen überwältigt und geküsst hatte. Das konnte eigentlich nicht sein, doch Cole vergaß niemals ein Gesicht! Aber … ein Adliger? Unmöglich! Vielleicht irrte er sich, denn was suchte ein Aristokrat mitten in der Nacht am Hafen? Und warum hatte er Cole angegriffen?
Das würde er wohl nie erfahren. Er musste hier raus! Für die Agentur würde er sich eine Ausrede einfallen lassen müssen und sicher bekäme er für diesen Abend keinen Lohn. Verflucht, was hatte er bloß verbrochen, dass er ständig vom Pech verfolgt wurde? Zu allem Unglück blockierte immer noch die korpulente Henne den Ausgang.
»Hast du dich beim Rasieren geschnitten, Rochford?«, fragte Lord Hastings den Marquess grinsend. »Das Messer war wohl zu scharf.«
»Verdammt scharf«, antwortete der mit demselben frechen Grinsen, und Cole stand das Bild vor Augen, als er diesem Mann die im Mondlicht aufblitzende Klinge an die Wange gedrückt hatte. Cole hatte ihn nicht verletzen wollen, bloß ein wenig einschüchtern. Jetzt hatte er jedoch Gewissheit: Das war tatsächlich derselbe Kerl wie in jener Nacht, der ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Verflucht!
Lord Hastings klopfte Rochford kameradschaftlich auf die Schulter. »Wird Zeit, dass du dir endlich einen Kammerdiener zulegst. Du wirst alt.«
Der Saal drehte sich vor Coles Augen, er bekam immer schlechter Luft.
Mach jetzt keinen Fehler!, schalt er sich, um bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Marquess durfte ihn auf keinen Fall erkennen! Bestimmt hatte er die besten Beziehungen zu allen möglichen Leuten, die in London etwas zu sagen hatten. Ein Wort würde genügen, und Cole landete im Gefängnis. Schließlich kannte er die geheime Identität des Adligen! Und der würde bestimmt nicht wollen, dass sie ans Licht kam …
Coles Panik wuchs. Er hatte zuvor natürlich die Gästeliste studiert und besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Der Name Rochford war ihm bekannt vorgekommen, denn im Laufe der Jahre hatte Cole auf den Veranstaltungen fast über jeden Londoner mit Rang und Namen Geschichten gehört. Lord Rochford sollte sich gerne in diversen Herrenclubs herumtreiben, Karten spielen und ein Frauenheld sein.
Er scheint auch ansonsten keine Chance auszulassen, um ein wenig Spaß zu haben, dachte Cole angesäuert und erinnerte sich an die leidenschaftlichen Küsse. Kein Mann, der sich lediglich nach Frauen verzehrte, küsste auf diese Weise einen anderen Kerl, oder? Begehrte der Lord vielleicht nicht nur das weibliche Geschlecht, sondern auch Männer? Auf Sodomie stand die Todesstrafe durch Erhängen!
Erst vor zwei Jahren, ebenfalls im August – Cole erinnerte sich so genau daran, weil Annie gestern Geburtstag gehabt und er ihr damals ein rosa Seidenband gekauft hatte, mit dem sie ihren alten Hut verzieren wollte –, war ein berühmter Kapitän deswegen hingerichtet worden. Es traf also auch durchaus bekannte Persönlichkeiten. Über diesen Inhaftierten hatte ein ganzer Artikel im »London Courier« gestanden:
Captain Henry Nicholas Nicholls wurde am vergangenen Samstag in Croydon nach den klarsten Beweisen eines Kapitalverbrechens überführt und wegen Sodomie verurteilt. Der Gefangene war während des gesamten Prozesses vollkommen ruhig und ungerührt, selbst als das Todesurteil gegen ihn verhängt wurde. Um 9 Uhr morgens wurde das Urteil, Tod durch Erhängen, in Kraft gesetzt. Der fünfzigjährige Täter war ein gutaussehender Mann und hatte im Krieg heldenhaft gegen Napoleon gekämpft. Er war mit einer hoch angesehenen Familie verbunden, aber seit seiner Festnahme besuchte ihn kein einziges Mitglied davon …
Cole wurde es schwarz vor Augen. Er hatte den Lord zuerst geküsst, und der würde es vor dem Richter beschwören, von ihm verführt worden zu sein. So lief es doch immer! Wer von der Straße kam, hatte keine Rechte.
Würde Annie ihn im Gefängnis besuchen kommen, bevor er gehängt wurde? Oder so tun, als würde sie ihn nicht kennen?
Sie wusste nichts von seiner Neigung. Niemand wusste das. Cole war sich lange Zeit selbst nicht sicher gewesen, obwohl er lieber Männern als Frauen hinterher sah und sogar schon einmal mit einem Jungen herumgemacht hatte. Doch als der Lord ihn geküsst hatte, war ihm schlagartig klar geworden, dass er für eine Frau nie dasselbe fühlen würde wie für einen Kerl. Wie für … den Marquess.
Plötzlich traf ihn Rochfords Blick, als hätte Cole ihn allein mit seinen Gedanken an die heißen Küsse auf sich aufmerksam gemacht. Dessen Gesicht verlor unversehens sämtliche Farbe, und er starrte Cole an, als wäre er ein Toter, der in das Reich der Lebenden zurückgekehrt war.
Der Lord hatte ihn erkannt. Fuck!
Die wunderschönen braunen Augen schienen eine Nuance dunkler zu werden, als sich sein Gesicht verdüsterte, und Cole schluckte schwer. Er musste schleunigst hier weg!
Urplötzlich war es ihm egal, ob er die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich lenkte. Beinahe rüpelhaft quetschte er sich an der fülligen Frau vorbei, wobei er eine Entschuldigung murmelte, und schlängelte sich so schnell er konnte zwischen den anderen Gästen hindurch. Sein Ziel war die Küche. Dort würde er aus dem Hinterausgang huschen und die Beine in die Hand nehmen. Er konnte jetzt nur noch um sein Leben rennen – ansonsten würde er kämpfen müssen. Der Marquess wirkte ziemlich aufgebracht.
Fuck!
Cole war kein Feigling, aber der Adlige war viel größer als er. Und sollte er wirklich der dunkle Rächer sein, dann Gnade ihm Gott! Zwar hatte das der Lord vehement geleugnet, doch Cole wollte nicht darauf vertrauen.
Zum Glück hatte er das Messer mitgenommen, das er unter seiner Livree verbarg. Während er davoneilte, zog er sich die Handschuhe aus und stopfte sie in eine Tasche seiner Uniform. Nun würde die Klinge besser in seiner Hand liegen. Er wollte sie aber noch nicht herausholen, solange er sich im Haus befand.
Als er zügig durch die große, geflieste Eingangshalle marschierte, rief ihm ein Mädchen, das von derselben Agentur beschäftigt wurde wie er, zu: »Cole, was ist los?«
»Muss dringend neue Häppchen holen!«
»Janett hat gerade wieder welche angerichtet«, sagte sie und verschwand in einem Flur.
Hektisch warf er einen Blick über die Schulter. Verdammter Mist! Der Lord befand sich direkt hinter ihm. Auch der hatte seine Handschuhe abgelegt, und schon schoss dessen Arm hervor. Cole wurde hinten am Kragen gepackt und durch die nächste Tür gestoßen. Das alles ging so schnell, dass er kaum reagieren konnte.
Die Tür flog wieder zu, und Dunkelheit umgab ihn. Nur durch die großen Fenster, die zum Garten zeigten, drang schwach das Licht von Fackeln und Feuerkörben. Das gelbliche Schimmern offenbarte deckenhohe Regale voller Bücher. Sie befanden sich in einer riesigen Bibliothek.
Cole wollte sein Messer ziehen, aber der Marquess gab ihm keine Gelegenheit dazu, denn prompt wurde er mit dem Rücken gegen die Tür gedrückt. Fast schon panisch hob er die Fäuste, um sein Gesicht abzuschirmen, und stieß dabei den Zylinderhut vom Kopf des Adligen. Mit einem dumpfen Laut landete er irgendwo auf dem Boden.
Cole erwartete den ersten glühenden Schmerz irgendwo an seinem Bauch oder den Rippen. Doch der Lord schlug ihn nicht, sondern packte mit Leichtigkeit seine Handgelenke und pinnte sie über seinem Kopf an die Tür. »Was suchst du hier?«, grollte er. »Spionierst du mir nach?«
»Sei vorsichtig, die Uniform gehört mir nicht!« Er wollte keinen Kampf, denn wer kümmerte sich um Annie, falls er verletzt wurde?
Rochfords Nase berührte fast seine, als der zischte: »Bist du mir das letzte Mal nach Hause gefolgt?«
»Nein«, hauchte Cole, obwohl er tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt hatte. Die Nähe zu dem großen Mann machte ihn wehrlos und schwindelig.
Was war das nur zwischen ihnen? Sein Herz raste, aber nicht nur aus Angst. Denn es fühlte sich auch irgendwie gut an, von dem attraktiven Adeligen bedrängt zu werden – was ihm eigentlich Furcht einjagen sollte, wenn er an seine und Annies Vergangenheit dachte. Er hatte so etwas noch nie empfunden, und das verwirrte ihn.
»Cole heißt du also, du diebischer Bastard«, knurrte der Lord. »Und wie noch?«
Cole musste sich beruhigen, einen klaren Kopf bekommen. Aber wie konnte er das, wenn dieser Kerl, der so verteufelt gut nach einem parfümierten Rasierwasser duftete, fast in ihn hineinkroch? Und warum war er bloß so unglaublich sauer?
Sogar die spürbare Wut seines Gegenübers erregte ihn, obwohl er sich besser gefürchtet hätte. Fast instinktiv entschloss sich Cole zu einem sinnlichen Angriff, schließlich hatte ihm das schon einmal geholfen.
»Willst du mich diesmal richtig verführen?«, fragte er süffisant, aber seine Stimme zitterte vor Aufregung. Als würde sein Körper ein Eigenleben führen, rieb er seinen Unterleib an den Lenden des Lords. »Hast du mich deshalb hierher gebracht?«
Blitzschnell ließ der Mann ihn los, wich jedoch kaum zurück, sodass Cole die Hände gegen die breite Brust seines Angreifers drücken konnte. Er wollte ein wenig Abstand zwischen ihnen schaffen, solange er nicht wusste, was hier wirklich gespielt wurde, und säuselte: »Ich werde dir sicher nicht verraten, wer ich bin … Miles.« Nur allerengste Freunde nannten Adlige beim Vornamen oder benutzten den Ortsnamen seines Titels, in dem Fall »Rochford«. Aber Coles Kampfgeist war mit einem Mal erwacht, und er wollte den Kerl provozieren. Mit ihm spielen. Noch einmal von ihm gegen die Tür gedrängt werden. »Oder ist es dir lieber, ich sage Mylord, dunkler Rächer?«
Ein fast schon animalisches Knurren drang an Coles Ohren, das ihm bis tief in den Bauch fuhr. »Hör auf, mich so zu nennen.«
»Mylord?«, fragte Cole frech und fluchte innerlich. Er hatte keine Ahnung, warum er sich plötzlich derart leichtsinnig verhielt und den Mann auch noch herausforderte. Cole würde wirklich noch am Galgen baumeln, wenn er nicht sofort damit aufhörte!
Der Adlige strahlte eine unglaubliche Hitze aus und schwitzte bestimmt unter den zahlreichen Stofflagen. Unter seiner schicken Weste trug er jedoch kein Korsett. Er hatte offenbar von Natur aus eine schmale Taille, einen flachen Bauch und … Coles Finger glitten nicht nur über edle Seide, Musselin und feinstes Leinen, sondern auch über jede Menge harter Muskeln.
»Beeindruckend für einen Gentleman, der sich überwiegend in Herrenclubs herumtreibt, wie man so hört«, raunte Cole und strich mit der Hand knapp an den Lenden vorbei, um sie auf einen harten Oberschenkel zu drücken. »Oder ist dein lasterhaftes Leben nur die Tarnung für deine nächtlichen Aktivitäten, dunkler Rächer?«
Der keuchte leise gegen seine Lippen und grollte: »Mit deinen Verführungskünsten kannst du mich nicht mehr ablenken.« Er schlug Coles Arm weg, knöpfte blitzschnell dessen Livree auf und fuhr mit beiden Händen darunter.
Nun keuchte Cole selbst auf, weil sich die großen, warmen Männerhände, die ihn abtasteten, verdammt gut anfühlten. Doch dann fluchte er, als der Adlige die Klinge hervorzog, die er ihm vor ein paar Tagen gestohlen hatte.
Diesmal wurde ihm die scharfe Schneide an den Hals gedrückt. »Lord Hastings ist mein Freund. Wolltest du ihn töten?«, knurrte der Marquess.
»Natürlich nicht!« Cole grub die Finger in den Arm des Mannes, doch der gab keinen Millimeter nach. »Ich wurde von ihm als Dienstjunge eingestellt. Alles hat seine Ordnung!«
»Und warum trägst du meine Klinge mit dir herum?«
»Ich wollte sie nicht zu Hause liegen lassen. Leider habe ich keine Bediensteten, die auf meine Sachen aufpassen, solange ich weg bin.«
Der Lord ließ die Hand sinken, verringerte jedoch weiterhin kein bisschen den Abstand zwischen ihnen. »Wenn hier auch nur eine Gabel fehlt, dann …«
»Weiß dein Freund, was du nachts so treibst? Oder wen du küsst?«, unterbrach Cole ihn hastig. Falls der Adlige ihn des Diebstahls bezichtigte, würde Cole das nicht nur den Job kosten!
»Du hast mich zuerst geküsst!«
»Das war bloß zu meiner Verteidigung, was ja auch wunderbar funktioniert hat. Aber dann hast du mich plötzlich zurückgeküsst! Ich habe gespürt, wie sehr es dich erregt hat.« Cole streckte den Hals und flüsterte dicht an den schönen Lippen des Lords: »Du bist übrigens ein verdammt guter Küsser.«
Der Mann wich blitzartig ein Stück zurück, so als ob er geschlagen worden wäre, schob die Klinge in einen seiner Stiefel und starrte ihn schweigend an. Was ging in ihm vor?
Cole wünschte, er könnte sein Gesicht besser sehen, doch dazu war es einfach zu dunkel in der Bibliothek. Genau diese Dunkelheit machte ihn auch wagemutig und … leichtsinnig. Am liebsten wollte er noch einmal von dem süßen Mund seines Angreifers kosten. Doch was, wenn der nicht so empfand? Er brachte sich noch in Teufelsküche! Aber er konnte die heißen Küsse dieses Mannes einfach nicht vergessen. Das würde er niemals.
Cole durfte jetzt bloß nicht weich werden, sondern musste sich überlegen, wie er den Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. Erneut fragte er: »Weiß dein Freund, dass du Männer begehrst? Oder der dunkle Rächer bist?«
»Beides ist nicht wahr!«
»Dann bin ich auch kein Dieb.«
»Außerdem warst du nicht weniger erregt!«
Ah, jetzt kamen sie der Wahrheit schon näher. Cole hatte schließlich gespürt, dass der Lord dem eigenen Geschlecht nicht abgeneigt war und ihr überraschendes Stelldichein genossen hatte. Leider blieb ihm keine Zeit, dieses Thema zu vertiefen, denn der Kerl murmelte: »Wir sollten diese Sache nie mehr erwähnen.«
Das konnte er nicht, aber eine unglaubliche Idee manifestierte sich in ihm. Der Adlige war nicht verheiratet, schien jedoch ein wenig Vergnügen nicht abgeneigt zu sein. Cole könnte sein Lustknabe werden. Er hatte von solchen geheimen Beziehungen unter Männern gehört. Ihm würde es an nichts fehlen, er könnte Annie ein besseres Leben bieten und für sich herausfinden, ob er wirklich nur sein eigenes Geschlecht begehrte.
Gerade als er überlegte, wie er diesen heiklen Vorschlag am diplomatischsten vorbringen konnte, sagte der Lord ungehalten: »Verschwinde sofort von hier.« Allerdings rückte er keinen Millimeter von ihm ab, sondern kam wieder so nah, dass Cole dessen Körperwärme spüren konnte.
Sein Herz raste wild drauf los. Er brauchte diesen Job! Als Dienstbote für die Agentur zu arbeiten war tausend Mal besser, als wenn er sich als Tagelöhner verdingte. »Du kannst mich nicht rauswerfen, du bist nicht der Hausherr!« Wütend bohrte er ihm einen Finger in die harte Brust. »Oder ist es dir lieber, dass ich in Lagerhäuser einbreche? Damit du mich wieder hinterrücks überfallen und küssen kannst?« Cole seufzte innerlich. Er konnte es einfach nicht lassen, den Mann zu reizen.
»Was hast du dort gesucht?«, fragte der Lord mit bedrohlich dunkler Stimme und schloss Coles Finger in seiner großen, warmen Hand ein.
»Nur das, was mir zusteht. Das habe ich dir aber schon mal erklärt.« Cole hatte eine Woche lang für Mr Burke am Hafen geschuftet, und der Bastard hatte ihm anschließend nicht den abgemachten Lohn bezahlt, obwohl sich Cole nichts hatte zuschulden kommen lassen. Also hatte er sich den Rest in Form von Naturalien geholt.
Atemlos starrte er auf die Hand, die seine hielt, und traute sich nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Leider ließ der Marquess ihn abrupt los und starrte ihn schweigend an.
Cole wüsste zu gerne, was in dem attraktiven Kopf vor sich ging. Würde der Adlige seinem Freund von ihm und seiner nächtlichen Beutetour erzählen? »Wie ich das sehe, haben wir eine Pattsituation«, begann Cole vorsichtig. »Du hältst mich für einen Dieb und Sodomiten, und ich weiß, in wen du dich nachts verwandelst und dass du ebenfalls Männer begehrst.«
Als der Lord keuchend den Mund öffnete, ließ Cole ihn nicht zu Wort kommen.
»Natürlich werden die Behörden einem hochangesehenen Mitglied der Gesellschaft eher glauben als einem armen, jungen Mann, solltest du meine Aussage dementieren. Aber dein Ruf wäre dennoch ruiniert, wenn ich ihnen alles haarklein berichte. Deine nächtlichen Ausflüge könntest du dann außerdem vergessen. Jeder wird dich im Auge behalten, um herauszufinden, ob du nicht doch der dunkle Rächer bist. Sicher hast du einiges zu verlieren. Ich bin nur ein einfacher Junge von der Straße. Ich habe nichts.« Die Lüge kam ihm leicht von den Lippen, schließlich musste er sich da draußen im rauen London tagtäglich gegen alle Feindseligkeiten des Lebens behaupten. Zum Glück wusste der Adlige nichts von Annie, der wichtigsten Person in seinem Leben. Sie war seine Achillesverse …
Langsam hatten sich Coles Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er sah, wie sich die schönen, schmalen Brauen des Lords zusammenschoben. »Du drückst dich viel zu gewählt aus für einen Straßenjungen. Außerdem riechst du nicht nach Gosse.« Als die Nase des Mannes seinen Hals berührte und der Kerl auch noch geräuschvoll die Luft einzog, wurde Cole halb hart. »Sondern nach Rosenseife, wie eine Frau«, setzte der Lord in einem leicht verächtlichen Ton hinzu.
»Vielleicht habe ich mir die Seife ja auch von jemandem ausgeliehen«, flüsterte Cole atemlos. Dieser Kerl brachte ihn bald um den Verstand!
»Hast du ein Mädchen?«, fragte der Lord kühl.
Verdammt, er durfte nichts von Annie erfahren! Schnell lenkte Cole wieder auf das eigentliche Thema zurück. »Wir haben uns also gegenseitig in der Hand. Ich brauche diesen Job, deshalb werde ich bleiben. Du wirst mich weder davon abhalten noch Lord Hastings berichten, was du glaubst über mich zu wissen. Dafür werde ich niemandem erzählen, was du nachts so treibst. Oder mit wem …«
Der Lord stützte eine Hand neben seinem Kopf ab, lehnte sich nah zu ihm und sagte bedrohlich leise: »Ich werde dich den ganzen Abend nicht aus den Augen lassen, du mieser, kleiner Erpresser.«
»Aber verliebe dich nicht in mich, Mylord«, flüsterte Cole nah an den wunderschönen Lippen des Mannes. Vielleicht hatte er doch noch Chancen bei ihm. Der Kerl stand ununterbrochen viel zu dicht bei ihm, als würde er seine Nähe suchen.
Der Lord schnaubte. »Bist du eigentlich lebensmüde? Flirtest du mit jedem?«
»Nur mit dir«, wisperte Cole und wollte einen Schritt weitergehen. Als er die Hand in Rochfords Nacken schob, machte der einen Satz zurück. »Lass die dämlichen Spielchen. Oder willst du, dass man dich hängt? Ab an die Arbeit!«
Der Adlige drückte ihn zur Seite, damit er die Tür öffnen könnte, spähte in die Eingangshalle und schubste ihn anschließend regelrecht hinaus.
»Sachte, Mylord«, knurrte Cole und drehte sich um – da wurde ihm die Tür vor dem Gesicht zugeschlagen. Er stand allein in der Halle.
»Ts!« Cole schnaubte, wütend und enttäuscht zugleich. Dieser Schnösel sollte der berühmt-berüchtigte dunkle Rächer sein? Er machte sich wie ein kleines Mädchen in die Hose!
Natürlich unterschätzte auch Cole die Gefahr nicht, die eine vom Gesetz verbotene Liaison mit sich bringen würde. Aber sollten Männer wie sie nicht zusammenhalten? Niemand müsste etwas erfahren! Doch wahrscheinlich war er dem Herrn Aristokraten nicht gut genug. Schließlich besaß der den zweithöchsten Adelsrang innerhalb der Peerage und rangierte gleich nach dem Duke. Rochford stand sogar über dem Gastgeber, dem Earl of Hastings! Und Cole war nur ein Niemand.
Mit hängendem Kopf schlich er in die Küche und richtete dabei seine Kleidung. Es enttäuschte ihn, dass sein überaus attraktiver Angreifer offenbar nichts von ihm wollte. Dennoch war er erleichtert, dass sie zu einer unblutigen Übereinkunft gekommen waren. Außerdem durfte er bleiben. Das gab ihm die Gelegenheit, Miles Dunmoore, den Marquess of Rochford, genauer zu studieren. Auch wenn sich der Mann stur gab, wollte Cole unbedingt mehr über ihn erfahren. Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass er einen Gleichgesinnten traf.