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Kapitel 1 – Eine Frau für Lord Lexington
ОглавлениеLondon, England
Mai 1835
Einer der größten Nachteile als ungebundener Adliger war, dass stets irgendwelche Mütter versuchten, ihn mit ihren Töchtern zu verkuppeln. Ashton konnte kaum drei Schritte durch den stickigen und völlig überfüllten Saal machen, ohne von einer Fregatte belagert zu werden, die ihren herausgeputzten Spross im Schlepptau hatte. Dabei war er lediglich hergekommen, um dem türkischen Ambassador, der als Ehrengast zu Lady Billingtons Ball geladen war, zu treffen – nicht, um sich in Tanzkarten einzutragen. Doch alle alleinstehenden jungen Damen, die Rang und Namen besaßen, schienen an diesem Abend hier zu sein und ihn anzuhimmeln. Bloß erregte keine Frau seine Aufmerksamkeit, obwohl sie fast alle wunderhübsch anzusehen und nach der neusten Mode gekleidet waren. Allein die leckeren Häppchen und die außerordentlich köstlich schmeckende Bowle verlockten ihn, länger zu bleiben.
Lady Billington war die Frau eines Marquess – einem der reichsten Männer von ganz England. Sie hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um diesen Abend zu einem besonderen Ereignis zu machen. Außerdem hatte sie nur die Crème de la Crème des bon ton geladen – sowie jede Menge alleinstehender Herren, um ihre jüngste Tochter unter die Haube zu bringen. Lady Billington und ihr Gatte, der die Siebzig bereits überschritten hatte, hatten früher ein paar Jahre in der Türkei gelebt. Deshalb war es ihnen eine Ehre gewesen, auch den türkischen Botschafter, der gerade in London weilte, einzuladen. Ashton hatte diese perfekte Gelegenheit genutzt, um dem Mann während eines wie zufällig wirkenden Zusammenstoßes einen vertraulichen Brief seines Auftraggebers zuzustecken. Wenn der Ambassador später das Dokument in seiner Tasche fand, würde er nicht wissen, von wem es stammte, bis er den Inhalt las – den Ashton nicht kannte. Schließlich war er nur »der Bote«, wie er in gewissen Kreisen genannt wurde. Er arbeitete diskret; die Informationen, die er überbrachte, gingen ihn nichts an.
Die Musiker machten gerade eine Pause, danach stand eine Quadrille auf dem Programm. Ashton mochte diesen Tanz und hätte durchaus Lust, mal wieder über das Parkett zu wirbeln. Doch wenn er eine Frau aufforderte, würden alle anderen danach bei ihm Schlange stehen. Und müsste er nicht zuerst anstandshalber mit der Tochter der Gastgeber tanzen? Lady Billington lächelte ihn auffordernd an, wann immer sich ihre Wege kreuzten, und versuchte, ihre Tochter und ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Ashton wusste, dass er auf ihrer Liste der potenziellen Heiratskandidaten für ihr Töchterchen ganz oben stand.
Er seufzte resigniert, murmelte Entschuldigungen und eilte an den Ladys vorbei. Er hatte seinen Auftrag ausgeführt und überlegte, ob er nach Hause gehen sollte. Dort würde er allerdings nur in sein Brandyglas starren und auf einen weiteren Geheimbefehl warten. Hoffentlich ließ die nächste Mission nicht zu lange auf sich warten.
Ob er doch noch bleiben sollte? Vielleicht schnappte er das eine oder andere Gerücht auf, das ihm oder seinem Auftraggeber nützlich sein konnte. Diese speziellen Dienste, die er hin und wieder ausführte, lenkten ihn wenigstens von seinem ansonsten monotonen Leben ab. Nur in seiner Londoner Villa oder seinem Landgut in Nottinghamshire herumzusitzen oder das Parlament zu besuchen, würde ihn schrecklich langweilen. Da war er lieber Wochen oder sogar Monate im Ausland unterwegs.
Er genoss es, zu reisen, die Welt zu sehen! Deshalb hatte er bisher überhaupt keine Zeit gehabt, sich eine englische Lady zu suchen.
Heute wäre eine hervorragende Gelegenheit dazu, dachte er, kurz bevor er den Ausgang erreichte, und ließ möglichst unauffällig seinen Blick schweifen. Die zahlreichen ungebundenen Damen, die sich auf Männerschau befanden, erinnerten ihn daran, dass er sich tatsächlich langsam nach einer Ehefrau umsehen sollte. Schließlich war er ein Earl, und als solcher brauchte er früher oder später einen Erben. Er wurde zwar erst dreißig und war im Grunde noch längst nicht zu alt, um sich für immer zu binden. Doch eine Frau an seiner Seite würde ihm die lästigen Mütter vom Hals halten und ihm auch sonst Vorteile verschaffen. Ja, er könnte mit einer Heirat zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: einen Erben zeugen und diesen gut versorgt wissen, während er weiterhin seinen speziellen Diensten nachging und ab und an ins Ausland reiste. Seine Gattin würde sich solange zu Hause mit der Erziehung der Kinder und der Führung des Haushaltes beschäftigen und würde nie erfahren, was er wirklich trieb.
Ich brauche ja nur eine einzige Frau auszusuchen und muss nicht mit jeder tanzen, überlegte er. Wozu besaß er ein geschultes Auge und eine hervorragende Menschenkenntnis? Es wäre für ihn ein Leichtes, die perfekte Braut auszuwählen – sofern sie sich hier befand. Leider wirkte jede wie die andere und sie schnatterten ihm zu viel. Wenn er sich schon verheiratete, wollte er eine, die seinen Vorstellungen entsprach. Politisch unerfahren sollte sie sein – was wohl auf die meisten zutraf – aber vor allen Dingen brav und fügsam, damit sie keine neugierigen Fragen stellte, wenn er zu seinen Missionen aufbrach. Je weniger sie über sein Doppelleben wusste, desto besser. Seine Einsätze bargen auch gewisse Risiken, und mehr als einmal hatte er sein Leben verteidigen müssen. Doch mit seinen zuweilen waghalsigen Missionen hätte seine zukünftige Gattin nichts zu tun, im sicheren Zuhause in England.
Seine Ehefrau sollte bloß deshalb nichts von seinem Zweitleben erfahren, weil es einerseits streng geheim – und nicht immer gesetzkonform – war, was er tat, und er andererseits Angst hatte, sie würde ihm ansonsten diese Tätigkeit ausreden. Denn Ashton brauchte sie, damit er vor seiner Gattin davonlaufen konnte. Für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte, würde er sie mit einem speziellen Testament finanziell absichern.
Ja, er war ein Feigling und wollte eine engere Bindung auf keinen Fall zulassen. Jahrelang hatte er mitansehen müssen, wie die Liebe seinen Vater zugrunde gerichtet hatte. Nachdem Ashtons Mutter wegen einer Infektion viel zu früh gestorben war – Ashton war erst acht gewesen –, hatte sich sein Vater zurückgezogen, zu viel Alkohol getrunken und gelitten wie ein Hund. Ashton hatte er kaum noch beachtet.
Er hatte die meiste Zeit mit seiner Nanny und den Hauslehrern verbracht, bevor er ins Internat und danach ins College abgeschoben worden war. Erst spät hatte er kapiert, dass sich sein Vater totgesoffen hatte. Er war an seiner eigenen Kotze erstickt. Das war vor zwölf Jahren gewesen.
Wenn nicht mehr erwiderte Liebe einen Menschen zugrunde richtete, wollte Ashton nicht lieben. Aber das musste er auch nicht. Er würde seinen Job weiterhin erledigen, um seine Gattin auf Abstand zu halten, damit gar nicht erst tieferen Gefühle zwischen ihnen aufkeimen konnten. Ehen funktionierten ohne Liebe genauso. Die meisten Verbindungen, die unter Adligen eingegangen wurden, waren Zweckehen. Das wussten alle. Solch eine Beziehung reichte ihm vollkommen aus.
Trotzdem wollte er eine hübsche Frau, mit der er sich gut verstand. Er war kein Kostverächter und hatte schon einige Schönheiten in seinen Armen gehalten. Doch sobald er verheiratet war, wäre das leichte Leben vorbei. Gerade deshalb wollte er sich nachts an den Körper einer attraktiven Lady schmiegen. Denn niemals würde er sich nach seiner Hochzeit woanders Befriedigung holen und seine Gattin betrügen. Er war kein rücksichtsloser Bastard. Außerdem würde er dafür sorgen, dass es seiner Zukünftigen an nichts fehlte. Nun ja, an fast nichts. Eine zu enge Bindung durfte sie nicht erwarten. Ashton ging jedoch davon aus, dass die meisten jungen Damen wussten, worauf sie sich einließen. Liebe stand nur selten auf dem Programm.
Aber in diesem stickigen Saal würde er die für ihn perfekte Frau nicht finden. Nicht heute. Keine der anwesenden jungen Damen sprach ihn wirklich an. Wobei er leider nicht wusste, was eine Frau haben musste, um ihm dauerhaft zu gefallen. Das hatte er bisher nicht herausgefunden. Auf jeden Fall sollte sie geistig auf seiner Höhe sein, schließlich wollte er kluge Kinder.
Ashton atmete tief durch, als er in die warme Nacht trat und die Stufen der Villa hinabstieg, die am Rande des Regent’s Park lag. An der mit Bäumen gesäumten Straße wartete seine Kutsche auf ihn, doch er überlegte, die kurze Strecke bis zu seinem Haus, das ebenfalls im Stadtteil Marylebone lag, zu gehen. Die Nacht war angenehm warm und er brauchte Luft. Die ganzen Duftwässerchen und Schweißgerüche hatten sein Gehirn vernebelt.
Er wollte soeben seinem Kutscher Bescheid geben, als ein leises, aber glockenreines Lachen, das sich wie das Lied eines Engels anhörte, seinen Blick auf einen Zweispänner lenkte, der nur ein paar Meter weiter parkte. Fackeln säumten die Straße zusätzlich zu den Laternen und erhellten die Gestalten zweier Frauen. Die eine schätzte er auf vierzig, die andere gerade einmal halb so alt. Sie standen vor der kleinen Kutsche dicht beieinander und tuschelten miteinander. Es war die jüngere der beiden, die lachte. Als sie sein Starren bemerkte, schloss sie sofort den Mund, senkte den Blick und versteckte ihr Gesicht hinter ihrem Fächer.
Ashton musterte sie ungeniert, während er kurz seinen Zylinderhut anhob, um seine wirren Strähnen darunter zu richten. Ihr schwarzes Haar, das sie zu einem kunstvollen Knoten trug, schimmerte mysteriös im Feuerschein, und die Flammen der Fackeln zauberten orangefarbene Muster auf ihren weißen Umhang sowie das zartviolette Kleid.
Als sie den Fächer sinken ließ, blickte sie scheu in seine Richtung, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Sie war eine Grazie, wunderschön und anmutig wie eine römische Göttin, besaß ein perfekt geschnittenes, herzförmiges Gesicht und sinnliche Lippen. Sie überragte ihre Begleiterin um eine halbe Haupteslänge, war aber immer noch kleiner als er.
Warum war sie ihm bisher nicht aufgefallen? Sie schien geradezu unsichtbar gewesen zu sein, obwohl sie ihm nun direkt ins Auge stach. Ihre schüchterne Art reizte ihn, und er wollte unbedingt mehr über sie erfahren.
Wer war sie?
»Sie wollen den Ball schon verlassen, meine Damen?«, fragte er die beiden, während er auf sie zuschlenderte. »Ich hoffe, Sie sind wohlauf?«
Die ältere der beiden, in deren Haar sich erste graue Strähnen zeigten, wandte den Kopf und sah ihn unverwandt an. Ihre Gesichtszüge ähnelten der jüngeren. Sie war unverkennbar ihre Mutter oder eine nahe Verwandte. »Uns geht es ausgezeichnet«, antwortete sie freundlich. »Vielen Dank.«
Ashton gesellte sich zu ihnen und verbeugte sich galant. »Verzeihen Sie meine Rüpelhaftigkeit. Aber das liebliche Lachen hat mich auf Sie beide aufmerksam gemacht und mich meine Manieren vergessen lassen. Ich bin Lord Lexington.«
»Oh.« Die ältere Dame machte einen Knicks und strahlte ihn an. »Sehr erfreut, Lord Lexington. Ich bin Lady Clearwater, und das ist meine Tochter Penelope.«
Ashton verbeugte sich erneut und grinste Penelope verschmitzt an, sodass sie gleich noch röter wurde. Als sie nichts sagte, sondern ihn nur mit einem Knicks begrüßte, wandte er sich wieder an ihre Mutter. »Ihr Gatte ist Phillipe Clearwater?«
Sie nickte. »So ist es, Lord Lexington. Kennen Sie ihn persönlich?«
»Leider hatten wir noch nicht das Vergnügen.« Ashton kannte so gut wie alle Adligen aus London mit Rang und Namen, zumindest vom Hörensagen. Lady Clearwater war also die Frau eines Barons, der ein passables Stadthaus in Mayfair und ein prächtiges Landgut in der Grafschaft Kent besaß, nahe der Stadt Rochester, soweit er wusste. Die Familie war angesehen, nahm in der Gesellschaft jedoch keinen allzu hohen Bekanntheitsgrad ein und sollte sich überwiegend auf dem Landsitz aufhalten. Je unsichtbarer seine Zukünftige war, je weniger politische Verbindungen ihre Familie besaß, desto besser.
Ashton sagte zu Lady Clearwater: »Es wäre mir eine Ehre, Ihren Gatten kennenzulernen«, und wandte sich danach an ihre Tochter. »Was hat Sie gerade so sehr erheitert, Miss Clearwater?«
»Es war nichts, Mylord«, antwortete sie leise.
Er mochte ihre Stimme. Sie klang weder schrill noch aufdringlich. »Es hat sich alles andere als nach nichts angehört.«
Prompt wurde sie wieder rot und senkte erneut den Blick. Ashton wollte sie nicht länger quälen, obwohl er durchaus den Grund für ihre Fröhlichkeit erfahren wollte, um sie noch einmal lachen zu hören. Stattdessen fragte er: »Warum verlassen Sie den Ball zu dieser frühen Stunde, Miss Clearwater?«
Bevor sie antworten konnte, verkündete ihre Mutter stolz, dass an diesem Abend so viele Herren Interesse an Penelope erkundet hatten, dass sie sich vor Heiratskandidaten kaum retten konnte und sie sich deshalb rar machen wollten, um das Interesse der Adligen noch mehr zu befeuern. Munter redete sie drauf los, als würde sie ihn schon ewig kennen. »Im letzten Jahr, zu Penelopes erster Saison, schien sie keiner haben zu wollen. Aber nun ist sie zu einer wahren Schönheit erblüht. Finden Sie nicht auch, Lord Lexington?«
»In der Tat«, raunte er und räusperte den Kloß aus seinem Hals. Er hatte heute wohl zu viel geredet, oder warum versagte ihm nun beinahe die Stimme?
Dass Penelope von der Rede ihrer Mutter überhaupt nicht angetan war, erkannte er selbst in der Dämmerung. Sie grub die Finger in ihr Retikül und ein Muskel in ihrer Wange zuckte. Außerdem blitzte Unmut in ihren Augen auf. Sie schien Feuer im Blut zu haben, jedoch eine unterwürfige Art zu besitzen. Wahrscheinlich verbot es ihr die gute Erziehung, mit den Augen zu rollen oder ihrer Mutter zu widersprechen.
»Haben Sie sich schon für einen Kandidaten entschieden?«, fragte er sie, bevor ihre Mutter sie noch mehr in Verlegenheit brachte.
Penelope schüttelte den Kopf und schien nun nicht mehr ganz so stark zu erröten. Allerdings kam ihr immer noch kein Wort über die hübschen Lippen.
Ashton glaubte nicht, dass sie einen einfachen Verstand besaß. Schließlich hatte sie sich zuvor angeregt mit ihrer Mutter unterhalten, und ihre Körpersprache zeigte ihm deutlich, wie es in ihr arbeitete. Offenbar war sie bloß schüchtern oder sehr zurückhaltend.
Perfekt. »Gut, dann werde ich Ihnen morgen einen Besuch abstatten, wenn Ihnen das recht ist.«
»Das ist uns außerordentlich recht, Lord Lexington!«, antwortete Lady Clearwater euphorisch. »Wir freuen uns sehr. Nicht wahr, Penelope?«
Sie nickte und lächelte zittrig.
Ihre Mutter gab ihm die Adresse des Stadthauses, und er verabschiedete sich bei den beiden. Als er sich vor Penelope verbeugte, musterte er sie erneut eindringlich und versuchte, etwas von ihrem Geruch zu erhaschen. Wenn er sich nicht irrte, duftete sie nach Jasminblüten. Er kannte dieses Aroma von seinen zahlreichen Reisen und mochte es sehr.
Diesmal wandte sie nicht den Blick ab, zumindest nicht in den ersten Sekunden. Ashton meinte, eine gewisse geistige Reife hinter ihren Pupillen aufblitzen zu sehen, obwohl sie bestimmt noch keine zwanzig war. Gleichzeitig wirkte sie unerfahren, sehr gut erzogen und unterwürfig. Er würde sie gewiss nach seinen Vorstellungen formen können. Wunderschön war sie außerdem. Diese Mischung reizte ihn sehr.
Penelope Clearwater verkörperte auf den ersten Blick all das, was er suchte. Sie wäre die perfekte Ehefrau für ihn, und er würde alles daransetzen, sie zu bekommen. Als Nächstes würde er gleich einmal herausfinden, wer seine Nebenbuhler waren und wie er sie loswurde. Außerdem überlegte er fieberhaft, wie er seine Zukünftige überzeugen konnte, dass er der einzig in Frage kommende Heiratskandidat für sie war.