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Kapitel 3 – Hitzewallungen
ОглавлениеRochester, England
Trenton House
Oktober 1835
Penny seufzte glücklich, während sie am Rande der Tanzfläche auf einem Stuhl saß, sich am geöffneten Fenster frische Luft zufächerte und auf ihre Freundin wartete. Obwohl sich Penny vor fünf Monaten wie eine Idiotin benommen und geglaubt hatte, Lord Lexington vergrault zu haben, war sie nun mit ihm verlobt. Bald würden sie sogar heiraten! War das zu fassen? Sie konnte es immer noch nicht glauben. Ihr Märchenprinz hatte sie erwählt.
Heute war er extra aus London gekommen, um mit ihr gemeinsam die Veranstaltung im Hause ihrer besten Freundin Izzy – eigentlich Isabella Norwood – zu besuchen. Izzys Stiefmutter hatte gut vierzig Gäste – darunter einige gut betuchte Junggesellen – geladen, in der Hoffnung, ihre einundzwanzigjährige Stieftochter endlich unter die Haube zu bringen. Izzy, die ihre Freiheiten liebte und in vielen Belangen völlig anders war als Penny, hatte vor wenigen Minuten, als die Musiker eine Pause angekündigt hatten, das Weite gesucht. Ja, sie war regelrecht aus dem Saal gestürmt – angeblich, um sich die Nase zu pudern. Doch Penny kannte ihre Freundin in- und auswendig. Sie war eher vor den anwesenden Herren geflohen, die ein Auge auf sie geworfen hatten und alle mit ihr tanzen wollten.
Seltsam, dass auch ihr neuer Nachbar Henry Griffiths, der Marquess of Wakefield, verschwunden war. Womöglich war er auch schon nach Hause gegangen. Die meiste Zeit machte er den Eindruck, als würde er sich nicht wohlfühlen. Was vielleicht daran lag, dass er von allen nur »der unheimliche Lord« genannt und ständig angestarrt wurde. Mit der Narbe, die seine halbe Wange entstellte, sah er tatsächlich etwas gruselig aus, aber ansonsten schien er ganz nett zu sein. Allerdings hatte Penny kaum Blicke für andere Männer übrig, denn es interessierte sie allein Ashton Courtenay, der Earl of Lexington.
Zum tausendsten Mal ließ sie sich durch den Kopf gehen, was nach dem Fiasko vor der Kutsche passiert war: Lord Lexington machte ihr tatsächlich am nächsten Tag seine Aufwartung und brachte einen Riesenstrauß wundervoller Blumen mit. Außerdem bat er ihren Vater um Erlaubnis, sie heiraten zu dürfen. Bei seinem ersten Besuch! Papa hatte natürlich nichts dagegen und Mama wurde vor Freude fast ohnmächtig.
Zum Glück hatte den Earl ihr dämliches Verhalten nicht abgeschreckt. Penny zögerte keine Sekunde und willigte freudestrahlend ein, als er vor ihr auf die Knie ging und um ihre Hand anhielt.
Hach, an diesen romantischen Augenblick dachte sie unentwegt. Sein unwiderstehliches Lächeln war seit diesem Moment in ihrem Herzen verankert. Diesen verträumten Blick, den er ihr dabei geschenkt hatte, würde sie niemals vergessen. Er war solch ein attraktiver Mann! Es mussten ihm doch unzählige Frauen zu Füßen liegen? Warum hatte er gerade sie ausgewählt?
Er war nicht auf ihre Mitgift angewiesen; außerdem hatte er sie vor der Verlobung nur einmal gesehen.
Die Antwort lag glasklar vor ihren Augen: Er musste sich auf den ersten Blick in sie verliebt haben. Ihr war es schließlich nicht anders gegangen.
Obwohl er solch ein attraktiver Mann war und jede haben könnte, hatte Penny bis heute keine anrüchigen Geschichten über ihn gehört. Er schien kein stadtbekannter Lebemann und auch sonst in keiner Weise auffällig geworden zu sein, sei es durch Glücksspiel oder weil er sich übermäßig betrank. Einen besseren Ehemann konnte sie sich nicht wünschen.
Alles lief für Penny gerade perfekt, und sie hoffte sehnlichst, dass auch Izzy ihr Glück fand. Sie betonte zwar ständig, dass sie keinen Ehemann brauchte, sondern sich lieber um ihren Papa und die Verwaltung des Hauses kümmern wollte. Doch in Wahrheit sehnte sich doch jede Frau nach starken Armen, die sie zärtlich umschlossen?
Ach, sie war eine Träumerin. Das hatte sie bestimmt von Izzy. Seit ihrer Kindheit waren sie unzertrennlich und wurden deshalb von vielen »Pizzy« genannt, weil es sie jahrelang nur im »Set« gegeben hatte. Die Herrenhäuser ihrer Eltern lagen nicht weit voneinander entfernt, und sie hatten zahlreiche Abenteuer erlebt, sehr zum Leidwesen von Mama und Papa. Doch die beiden hatten Izzy trotz ihrer etwas anderen Art ebenfalls in ihr Herz geschlossen. Penny würde ihre Freundin schrecklich vermissen, denn bald ging sie mit Ashton – wie sie ihn bereits nennen durfte – auf Hochzeitsreise und würde danach bei ihm leben.
Hoffentlich fand sie heute ein paar ruhige Minuten mit ihm, um ihn ein wenig besser kennenzulernen. Sie wusste immer noch fast nichts von ihm, nur dass er Ashton Courtenay hieß, am fünfzehnten Juli dreißig geworden und somit genau elf Jahre älter war als sie. Er besaß ein Herrenhaus in der Grafschaft Nottinghamshire – was leider weit weg von Kent lag – und eine riesige, freistehende Villa in London, kein Stadthaus wie ihre Eltern, das zwischen anderen dicht an dicht in einer Reihe stand. Ashtons Vorfahren waren schon immer sehr vermögend gewesen und er war – neben ein paar Cousins – leider als einziger von seiner Linie noch übrig. Penny wollte dafür sorgen, dass ihre Familie schnell wuchs. Dann wäre er nicht mehr allein.
Jeden Tag seit seinem ersten Besuch hatte er ihr einen frischen Blumenstrauß liefern lassen, zuerst in das Stadthaus ihrer Eltern und seit ihrer Rückkehr auf das Land ins Herrenhaus. Die Verlobung hatten sie im Juli offiziell bekanntgegeben. Er musste sie also sehr verehren und konnte es anscheinend kaum erwarten, zu heiraten. Das freute sie immens, auch wenn sie es traurig fand, dass er seit ihrer ersten Begegnung nur noch selten bei ihr vorbeigesehen hatte. Aber er war bestimmt im Parlament sehr beschäftigt gewesen. Seit August hatte es allerdings geschlossen und Ashton war verreist gewesen. Aber nun war er endlich bei ihr!
All ihre anderen Verehrer hatten keine Chance gegen ihn gehabt – zum Glück! Im Grunde war Ashton wie ein Engel aus dem Nichts erschienen, um sie vor einer großen Dummheit zu bewahren. Denn Sir Simon, der ihr wunderschöne Augen gemacht hatte und ihre Nummer eins auf dem Heiratsmarkt gewesen wäre, war hoch verschuldet und nur auf ihre Mitgift aus, wie sich herausgestellt hatte. Alle anderen Herren hatten aus unerklärlichen Ursachen das Interesse an ihr verloren gehabt.
Vielleicht deshalb, weil sie gehört haben, dass Ashton um mich wirbt. Niemand kann ihm das Wasser reichen, dachte sie vergnügt und schaute zu ihm. Angeregt unterhielt er sich etwas abseits mit Lord Hastings, der mit seiner bezaubernden Frau Emily angereist war. Lady Hastings und ihr Mann schienen sich sehr zu lieben, und Penny hoffte, dieses Glück auch einmal mit Ashton zu erleben. Er sah heute wieder exzellent aus, sodass sie kaum den Blick von ihm wenden konnte. Der weinrote Gehrock stand ihm ausgezeichnet. Er betonte vorzüglich seine breiten Schultern. Darunter trug er eine perlmuttfarben schimmernde Seidenweste und ein weißes Hemd. Seine Breeches saßen perfekt und spannten leicht an seinen muskulösen Oberschenkeln. Ashton war wirklich ein sehr attraktiver Mann.
Am liebsten wollte Penny zu ihm eilen, um mit beiden Händen in sein dunkles Haar zu fahren. Ob es sich so weich anfühlte wie es aussah? Bald würde sie es herausfinden.
Als er in ihre Richtung blickte, entschuldigte er sich sofort bei Lord Hastings und eilte zu ihr. »Ich habe nicht gesehen, dass du ganz allein hier sitzt, Penelope, sonst hätte ich dir schon eher Gesellschaft geleistet.«
»Das ist sehr aufmerksam von dir.« Ihr Herz klopfte wild vor Zuneigung, und sie konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken.
»Wo steckt Miss Norwood?«, fragte er und setzte sich neben sie. Dabei wehte ihr sein angenehmer Duft nach Bergamotte entgegen. Sie liebte diesen Geruch, zitronig frisch und ein wenig würzig.
»Izzy ist vor dem ganzen Trubel um ihre Person geflohen. Sie mag es gar nicht, von ihrer Stiefmutter Rowena verkuppelt zu werden.« Besagte Dame hatte Lord Rochford, einen der ledigen Adligen, in Beschlag genommen. Sie stand so dicht bei ihm, dass ihn ihr großer, runder Babybauch beinahe berührte. Rowena war nur ein paar Jahre älter als Izzy, weshalb es zwischen den beiden öfter zu Reibereien kam. Beinahe machte es den Eindruck, als würde Rowena dem Marquess schöne Augen machen, während sie sich eine blonde Strähne um den Finger wickelte und ihn regelrecht anhimmelte. Er sah wirklich gut aus und würde perfekt zu Izzy passen.
Ashton beugte sich zu Penny und flüsterte ihr grinsend zu: »Miss Norwoods Stiefmutter besitzt ein sehr einnehmendes Wesen.«
»Allerdings«, antwortete sie leise, wobei sie sich ebenfalls zu ihm beugte. Sie fand seine Nähe sehr angenehm. »Und es passt Rowena gar nicht, dass Izzy hier die Hosen anhat.«
Ashtons Grinsen wurde noch breiter. »Nicht nur im sprichwörtlichen Sinne, habe ich gehört.«
Er hatte wirklich schöne Zähne, hell und gerade. Außerdem sündhaft geformte Lippen. Ob er gut küssen konnte?
Hör auf, ihn anzustarren, ermahnte sie sich und setzte sich aufrecht hin.
Puh, warum war ihr plötzlich so heiß? Das musste an den zahlreichen Kerzen und Öllampen liegen, die den riesigen Salon erhellten.
Ashton lächelte sie sanft an und brauchte gar nichts zu sagen, um ihr Inneres aufzuwühlen. Es gefiel ihr, dass er nicht so aufdringlich war wie ein paar andere Männer, die ihr Interesse deutlich gezeigt hatten. Ashton war eben ein wahrer Gentleman … und er hatte eine fast so große Nase wie ihr Vater, wie sie schmunzelnd feststellte. Aber sie passte hervorragend in Ashtons maskulines Gesicht.
»Was erheitert dich?«, wollte er wissen.
»Ich bin einfach nur glücklich«, gestand sie ihm ehrlich und überlegte fieberhaft, worüber sie mit ihm reden und dabei etwas über ihn erfahren konnte. Die Bereiche rund um Politik, Wirtschaft und Literatur sollte sie vielleicht erst einmal meiden. Sie wusste von Izzy, dass diese Themen bei Männern nicht gut ankamen, zumindest nicht, wenn Frauen versuchten, mit ihnen darüber zu diskutieren.
Politik und Wirtschaft waren ohnehin nicht ihre Favoriten, aber sie las regelmäßig die Times, die Papa täglich mit mehreren Stunden Verzögerung aus London geliefert bekam. Schließlich wollte sie wissen, was in der Welt passierte. Allerdings ging sie nie ohne ein gutes Buch zu Bett. Sie mochte Abenteuer- und Liebesgeschichten. Auch spannende Sachbücher hatten es ihr angetan, und sie liebte Bildbände mit exotischen Tieren.
Sollte sie das ansprechen? Ach, es war so schwer, mit einem Mann die richtige Konversation zu beginnen. Also zeigte sich Penny von ihrer besten Seite und sprach nur über das Wetter, den Familiengarten und ihre verstorbene Katze Tabby – um Ashton durch die Blume zu sagen, dass sie sich gerne um jemanden kümmerte. Sie glaubte zwar nicht, dass er einen Rückzieher machen würde, falls sie andere Bereiche ansprach, aber sicher war sicher. Seine Augen schienen stets zu lächeln, wann immer er sie anblickte, sodass ihr ganz warm ums Herz wurde.
Tiefergehende Gespräche konnte sie nach ihrer Heirat immer noch mit ihm führen. Sie würde sich einfach herantasten, wie viel von der wahren Penelope Clearwater er vertragen konnte. Doch wie sie Ashton einschätzte, konnte er eine Menge aushalten. Irgendwie wirkte er robuster als andere Adlige. Was vielleicht an seinem sonnenverwöhnten Teint lag sowie all den Muskeln und der feinen Narbe an seiner Wange, die ihm etwas Verwegenes verlieh.
Als Ashton sagte: »Ich hatte auch mal ein Haustier«, horchte Penny auf.
»Welches?«, fragte sie.
»Einen Clumber Spaniel namens Rusty.«
»Rusty? Das klingt lustig.«
»Vater hat den Hund so genannt, wahrscheinlich wegen der rostroten Flecken in seinem weißen Fell.« Für einen Moment glitt sein Blick in die Ferne, und ein Schatten huschte über seine schönen dunkelbraunen Augen.
»Was ist aus ihm geworden? Also … aus Rusty?« Penny wusste, dass Ashtons Eltern längst nicht mehr lebten und wollte nicht in alten Wunden bohren, da er gerade ein wenig geknickt wirkte.
Doch er lächelte sie sofort wieder an. »Er war eigentlich der Jagdhund meines Vaters. Als er zu schwerfällig wurde, halb blind war und zu hinken anfing, haben sich überwiegend meine Mutter und ich um ihn gekümmert. Mum wollte nicht, dass Vater ihn erschießt.«
Penny schnappte nach Luft. »Hätte er das denn getan?«
»Er wollte kein krankes Tier durchfüttern. Aber er konnte meiner Mutter nichts abschlagen, und Rusty hatte noch ein paar schöne Jahre bei uns. Zumindest glaube ich, dass es ihm gut ging.«
»Das klingt wunderbar.« Seine Mutter schien ein großes Herz gehabt zu haben.
»Nach ihrem Tod habe ich den Hund versorgt, weil mein Vater …« Ashton senkte den Kopf und fuhr sich hektisch über den Nacken. »Na ja, Rusty starb leider ein paar Monate später. Er war schon sehr alt.«
»Und du hattest seit dem Tag kein Haustier mehr?«
»Keine Zeit«, murmelte er und wandte den Blick ab. Langsam füllte sich der große Salon wieder, und die ersten Musiker kehrten zu ihren Instrumenten zurück.
»Du warst bestimmt auf der Universität und hast dich nach dem Tod deiner Eltern um alles allein kümmern müssen.« Penny musterte Ashton, wann immer er sich unbeobachtet fühlte. Er hatte unglaublich dichte Wimpern.
»Hm«, brummte er. »Ich war erst achtzehn, als mein Vater starb.«
»Das tut mir sehr leid. Es muss hart für dich gewesen sein.«
Leicht zuckte er mit einer Schulter. »Ich hatte viele Aufgaben und war abgelenkt.«
Gerade als Penny fragen wollte, wie es ihm in dieser Zeit ergangen war, stand er auf. »Deine Freundin ist zurück. Ich lasse euch beide allein.« Er verbeugte sich galant vor ihr und gesellte sich zu ihrem Vater, der neben Izzys Papa – Viscount Trenton – stand.
Schade. Sie hatten sich gerade so gut unterhalten und endlich hatte er etwas von sich preisgegeben. Allerdings konnte sie ihn über sein Leben noch nach ihrer Hochzeit ausfragen. Auf der Hochzeitsreise, die sie in zwei Wochen antraten, würden sie jede Menge Zeit zusammen in der Kutsche verbringen. Ihre beste Freundin würde sie hingegen bald nicht mehr so oft sehen, deshalb sollte Penny jede Sekunde mit Izzy genießen.
Sie sah heute bezaubernd aus und in dem grünen Kleid, auch wenn es etwas zu pompös für sie war, wie eine richtige junge Dame. Penny kannte sie fast nur in Hosen. Auch ihr rotblondes Haar war ordentlich zurechtgemacht worden, wahrscheinlich von Rowenas Zofe. Izzy hatte keine Ankleidedame, sondern zog sich selbst an.
»Danke, dass du mir beistehst, Penny«, flüsterte Izzy ihr zu und setzte sich neben sie.
Penny strich sich eine Locke aus der Stirn und lächelte sie aufmunternd an. »Natürlich stehe ich dir bei. Dazu sind beste Freundinnen doch da.«
»Wirst du auch noch für mich Zeit haben, wenn du verheiratet bist?« Izzy klang ein wenig bekümmert, weshalb Penny schnell ihre Hand drückte.
»Ashton möchte mir nach der Parisreise sein riesiges Herrenhaus in Nottinghamshire zeigen. Aber zum Beginn der neuen Saison werden wir in London sein. Ich bin also nächstes Jahr gar nicht so unendlich weit weg und werde dir jede Woche schreiben … natürlich auch während unserer Hochzeitsreise.« Liebe Güte, wenn sie daran dachte, wurde ihr wieder heiß.
Izzy sah leider noch unglücklicher aus als zuvor. Penny wusste, dass ihre Freundin nur ungern Trenton House verließ, weil sie sich stets um ihren alten Papa sorgte. Sie war seit ihrer Kindheit nicht mehr in London gewesen.
»Ich werde sicher nicht eingehen vor Langeweile.« Izzy zog eine beleidigte Schnute. »Dennoch wünschte ich, du hättest noch gewartet.«
Heirat war ein Thema, bei dem sie sich noch nie einig gewesen waren. »Izzy, nächstes Jahr werde ich schon zwanzig! Außerdem lasse ich mir doch keinen Earl entgehen.« Sie lächelte Ashton an und fächerte sich Luft zu. Ihr war unglaublich warm. Bald würde ihr noch heißer werden, denn den nächsten Tanz hatte sie ihm versprochen. Noch stimmten die Musiker, die auf einem niedrigen Podest am Ende des Salons saßen, allerdings ihre Instrumente.
Der »unheimliche« Lord Wakefield hatte sich zu Izzys Papa gesellt, der auf einem Stuhl saß. Seine Beine machten ihm oft zu schaffen. Penny entging nicht, dass Izzys Blicke ständig in diese Richtung glitten. Prompt stieß sie einen frustrierten Seufzer aus. Izzy wirkte immer unzufriedener, während sich Penny überglücklich fühlte, weil Ashton hier war. Allerdings hatte Izzy ihrer Stiefmutter versprechen müssen, mit jedem alleinstehenden Herrn, der geladen war, zu tanzen. Und Rowena hatte eine Menge gut betuchter Adeliger eingeladen. Nicht nur die ledigen Lords aus den umliegenden Ländereien waren angereist, sondern einige sogar von weiter weg gekommen. Izzys Stiefmutter schien es wirklich ernst zu sein, Izzy zu verheiraten – und die wirkte deshalb alles andere als erfreut, während Penny ihre eigene Hochzeit kaum erwarten konnte.
»Wer steht als Nächster auf deiner Tanzkarte?« Penny griff einfach nach dem Zettel, der auf Izzys Schoß lag, und riss die Augen auf. »Der unheimliche Lord Wakefield!«
»Hmm«, brummte Izzy, anscheinend nicht glücklich darüber, mit ihm tanzen zu müssen – oder weil sie bald all ihre liebgewonnenen Freiheiten aufgeben musste.
Penny beugte sich ein wenig zu ihr. »Ich kann nicht verstehen, warum du so lange zögerst. Du bist schon zweiundzwanzig. Willst du denn keine eigene Familie gründen? Bald wird dich kein Mann mehr ansehen!«
»Keiner sieht mich wirklich an, Penny. Sie alle finden mich seltsam.«
»Dann bist du blind. George und Andrew vergöttern dich!«
»Penny, deine Brüder sind acht und fünfzehn Jahre alt.« Izzy kicherte leise. »Und sie sehen in mir wahrscheinlich eher einen Kumpel und keine Frau zum Heiraten. Außerdem sind sie ein wenig zu jung für mich, findest du nicht?«
Penny atmete erleichtert auf, weil sie ihre Freundin ein bisschen aufgeheitert hatte. In den nächsten Minuten unterhielten sie sich über die anderen Gäste, schwärmten von Lady Hastings’ wunderbarem grünen Kleid und gingen die Vorzüge der anwesenden Herren durch. Aber Izzy interessierte sich für keinen von ihnen.
Als die Musiker den nächsten Tanz ankündigten, sprang Izzy fast vom Stuhl. Sie wirkte äußerst nervös, als der unheimliche Lord Wakefield mit raumgreifenden Schritten auf sie zumarschierte.
Penny stand gemeinsam mit ihr auf und drückte ihre Hand. »Ich habe Ashton die Quadrille versprochen. Viel Spaß mit deinem Lord!« Schnell huschte sie zu ihrem Verlobten, bevor Izzy sie aufhielt, und hoffte, dass sich ihre Freundin wenigstens ein bisschen amüsierte.
Ashton stellte sich mit ihr und den anderen Tänzern auf, und als die Musik zu spielen begann, schien Penny zu schweben. Sie genoss es, mit ihm zu tanzen oder einfach nur bei ihm zu sein, liebte es, seine Körperwärme zu spüren und seinen angenehmen Duft zu riechen. Penny musste sich, genau wie bei den anderen Tänzen zuvor, mehrmals auf die Figuren konzentrieren, weil sie ständig zu ihrem Verlobten sehen und sich ins Gedächtnis rufen musste, dass sie nicht die einzigen Anwesenden im Saal waren. Immer, wenn sie Ashton ganz nahe kam, ihm die Hand reichte oder mit ihm im Kreis schritt, lächelte er sie an. Schade, dass sie sich nicht richtig unterhalten konnten. Sie hätte gerne das Gespräch von zuvor weitergeführt. Noch mehr ärgerte es sie, dass sie Handschuhe trug. Sie wollte Ashton fühlen, wissen, wie weich seine Haut war und seine Finger direkt an ihren spüren.
Es dauerte einen Moment, bis Penny registrierte, dass sich Izzy und Lord Wakefield nicht auf dem Parkett befanden. Penny entdeckte die beiden am Rande des Salons auf den Stühlen. Sie tranken Limonade und schienen sich über etwas Lustiges zu unterhalten. Zum ersten Mal an diesem Abend wirkte ihre Freundin einigermaßen glücklich. Das erleichterte Penny so sehr, dass sie sich für den Rest des Tanzes voll und ganz auf Ashton konzentrierte. Seine Bewegungen waren unglaublich geschmeidig, und er schien sich mit ihr zu amüsieren.
Als die Musik verstummte, zog er sie kurz an seinen großen, warmen Körper und raunte: »Das hat Spaß gemacht.«
»Mir auch«, antwortete sie heiser.
Himmel, was hatte dieser Mann bloß an sich, dass es ihr in seiner Nähe ständig die Sprache verschlug?
Verlegen wandte sie das Gesicht ihrer Freundin zu. Izzy wirkte plötzlich alles andere als gutgelaunt, und Penny erkannte auch sogleich, warum. Rowena zerrte den nächsten Tanzpartner auf ihrer Liste – es war Lord Rutherford – zu Izzy. Sie würde wohl mit dem Adligen, der mehr als doppelt so alt war wie sie, tanzen müssen. Rowenas energischer Blick duldete keinen Widerspruch.
Penny hätte so gerne noch Ashtons Gesellschaft genossen, doch sie musste ihrer Freundin zu Hilfe eilen. Deshalb sagte sie zu ihm: »Hast du später noch ein wenig Zeit für mich? Ich möchte nach meiner Freundin sehen. Sie wirkt sehr deprimiert.«
Ashton lächelte verschwörerisch. »Musst du sie vor Lord Rutherford retten?«
»So ähnlich«, antwortete sie zerknirscht.
Er beugte sich noch einmal nahe zu ihr und flüsterte: »Später gehörst du mir allein.« Dann wandte er sich um und ging.
Penny schnappte nach Luft. Wie hatte er das bloß gemeint? Herrje, der Mann sorgte noch dafür, dass sie vor Hitze explodierte!
»Lord Rutherford!«, hörte sie Izzy sagen. »Sie sind also der Nächste auf meiner Tanzkarte.«
»In der Tat, meine liebe Miss Norwood«, antwortete er. »Auf einen Tanz mit Ihnen freue ich mich schon den ganzen Tag.«
Penny erkannte den ergrauten Mann nur von hinten, doch Izzy blickte genau in ihre Richtung.
Während sich Penny mit ihrem Fächer Luft zuwedelte, blinzelte sie ihre Freundin an. Das war ihr geheimes Zeichen, dass Penny unbedingt mit ihr sprechen musste.
»Lord Rutherford!«, stieß Izzy so laut hervor, dass sich einige Gäste zu ihr umdrehten. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir eine Limonade zu holen? Ich könnte eine Erfrischung vertragen.«
Er nickte und eilte davon.
Penny ergriff die Gelegenheit, um zu ihr zu treten. »Ich habe dich mit Lord Wakefield beobachtet, Izzy. Du scheinst dich sehr gut mit ihm unterhalten zu haben. Warum habt ihr nicht getanzt?«
»Ich glaube, er hat Schmerzen im Bein.«
»Wegen einer Kriegsverletzung?«
»Vermutlich.«
Penny blickte ihre Freundin empört an, während sie sich wild Luft zufächerte. Ihr war immer noch unglaublich heiß. »Du weißt es gar nicht? Worüber habt ihr denn die ganze Zeit geredet?« Sie hatte auf informative Neuigkeiten gehofft.
»Wir haben erst lange über mich gesprochen, und als es wirklich interessant wurde, war die Quadrille schon wieder vorbei.«
»Schon?« Penny ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Erst jetzt bemerkte sie, wie anstrengend der Tanz gewesen war. »Ich bin völlig außer Atem. Ich kann verstehen, dass du eine längere Pause gebraucht hast. Du tanzt heute bereits den ganzen Abend!«
Izzy seufzte. »Ich gestehe, ich würde mich gerne noch länger mit Lord Wakefield unterhalten.«
»Bei dir hat er oft gelächelt«, flüsterte Penny ihr grinsend zu. »Eigentlich zum ersten Mal an diesem Tag. Doch wenn ich ehrlich bin, finde ich ihn immer noch angsteinflößend. Er steht stramm wie ein Offizier und …«
»Er war ja auch ein Offizier.« Izzy rollte mit den Augen. »Ein Captain, soweit ich gehört habe.«
Penny nickte zustimmend. »Er soll erst in der Armee gedient und sich später der Ostindien-Kompanie angeschlossen haben. Bestimmt versteckt er eine Waffe unter seinem Rock.«
Plötzlich prustete Izzy los. »Du hast eine noch blühendere Fantasie als ich.«
Penny grinste, froh, ihre Freundin erneut aufgeheitert zu haben. »Was dachtest du denn, was er unter seinem Rock versteckt?« Schlagartig wurde sich Penny der Doppeldeutigkeit ihrer Worte bewusst, woraufhin eine neue Hitzewelle durch ihren Körper raste.
Izzy riss gespielt entsetzt die Augen auf. »Penelope Clearwater, woher kommen plötzlich diese schmutzigen Gedanken?«
»Ashtons Anwesenheit bringt mich völlig durcheinander«, gestand ihr Penny und hoffte, dass ihr strapazierter Fächer den Abend überleben würde. Himmel, die Hitze wollte nicht aus ihrem Gesicht weichen. »Izzy, ich bin so furchtbar aufgeregt wegen der Hochzeitsnacht.«
Izzy setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. Ernst blickte diese sie an. »Das haben wir doch schon besprochen«, sagte sie und senkte die Stimme. »Wenn der Mann rücksichtsvoll ist, tut es angeblich nicht weh, und ich glaube, dein Earl ist ein guter Mann. Außerdem habe ich dich letzten Monat zu Bauer Smither mitgenommen, und du hast gesehen, wie es funktioniert.«
»Das waren Kühe, Izzy!« Lebhafte Bilder, die sich tief eingebrannt hatten, tanzten vor ihren Augen. Wie der Bulle der Kuh in den Nacken gebissen und sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie geworfen hatte. Und dann … Herrje, war das Geschlechtsteil bei einem Mann auch so groß?
»Recht viel anders ist es bei den Menschen auch nicht«, murmelte Izzy. »Also … vielleicht überlegst du dir das noch einmal wegen der Hochzeit, wenn du Vorbehalte hast.«
Penny schmunzelte, als sie daran dachte, dass Ashton ihr in den Nacken beißen würde. Und war sein »kleiner Pirat« auch so groß? Unwahrscheinlich, denn dann hätte er gar keinen Platz mehr in seiner stramm sitzenden Hose.
Beinahe prustete sie los. Kleiner Pirat … so nannte ihre Zofe Trish dieses männliche Anhängsel. Außer an Statuen hatte Penny allerdings noch nie ein Exemplar gesehen.
Himmel, was war nur in sie gefahren? Die Aufregung wegen der bevorstehenden Hochzeit hatte seltsame Auswirkungen auf ihr Denkverhalten.
»Ich werde keinen Rückzieher machen«, erklärte sie resolut. »Ich habe heute Morgen meine Zofe gefragt, ob sie etwas über das Thema weiß. Sie sagt, sie hätte eines unserer Zimmermädchen mit dem Knecht gesehen, und es machte den Eindruck, als würde es der Frau gefallen.«
Izzy schüttelte sich, sagte jedoch nichts mehr. Sie wirkte sehr nachdenklich.
Als Lord Rutherford mit der Limonade zurückkam, wünschte Penny ihrer Freundin alles Gute und machte sich auf die Suche nach Ashton. In zwei Wochen würde sie seine Gattin sein und endlich erfahren, was sich wirklich zwischen Mann und Frau im Ehebett abspielte. Sie war zuversichtlich, dass es ganz anders ablaufen würde als bei Kühen.