Читать книгу Im Visier der Mächtigen - Irene Dorfner - Страница 10
5.
ОглавлениеHans wurde fast verrückt, weil er sich einfach an nichts erinnern konnte. Dass es schon sehr spät war und Besuche um diese Uhrzeit schon allein wegen der Corona-Auflagen nicht gestattet waren, interessierte Leo herzlich wenig. Besonders eine Krankenschwester war sehr penetrant und bestand darauf, dass er endlich ging.
„Wenn das jeder machen würde!“, maulte sie schließlich, als alle Argumente ihrerseits nicht fruchteten.
„Ich bin nicht jeder. Außerdem hat der Arzt sogar empfohlen, dass ich hierbleibe. Gemeinsam könnten wir es schaffen, dass der Patient sein Gedächtnis wiedererlangt“, log Leo, dass sich die Balken bogen. Hier schwirrten jede Menge Ärzte herum. Einer von ihnen, der günstiger Weise bereits Feierabend hatte, hätte das durchaus gesagt haben können.
„Doktor Wagner hat das angeordnet?“
Leo nickte und versuchte, so ernst wie möglich zu bleiben.
Die Frau glaubte ihm schließlich und verschwand. Leo hatte sich ihren Namen gemerkt, der auf ihrem Kittel angebracht war: Wendela Norberg. Sollte noch irgendjemand auftauchen und ihm das Leben schwer machen, konnte er auf die Frau verweisen.
„Wie kannst du nur so schamlos lügen?“ Hans lachte, was beiden guttat.
„Die sollen sich nicht so anstellen.“
„Und die Corona-Auflagen?“
„Die sind mir im Moment völlig egal. Wenn du nicht verletzt hier liegen würdest, würden wir zusammen arbeiten. Aber du liegst im Bett und ich sitze davor. Welchen Unterschied macht das? Solange deine Frau nicht hier ist, bleibe ich.“
„Die kommt nicht so schnell. Ich habe sie gebeten, mich erst morgen zu besuchen, obwohl das völliger Schwachsinn ist. Anita hat jede Menge Arbeit und eigentlich keine Zeit, mir die Hand zu halten und damit sinnlos Zeit zu vergeuden. Morgen bin ich wieder fit. Wenn der Arzt nicht auf eine Nacht zur Beobachtung bestanden hätte, wäre ich längst zuhause.“
„Kommen wir lieber zurück auf das, was heute geschehen ist. Reiß dich zusammen und versuche, dich zu erinnern.“
Wieder und wieder gingen er und Leo jede Minute des vergangenen Tages durch, leider ohne Erfolg. Hans konnte sich nur noch daran erinnern, dass er und der Fremde in Sicherheit waren. Danach war alles weg. Nicht einmal an den Schlag konnte er sich erinnern, obwohl der eine fette Beule hinterlassen hatte.
„Und das Handy des Mannes?“
Leo schüttelte mit dem Kopf. Sie hatten alles abgesucht, aber das Handy blieb verschwunden.
„Jetzt bleib ruhig, Hans. Wenn Fuchs aus München zurück ist, wird sich alles aufklären.“
Kurz vor Mitternacht erreichte Krohmer den Kollegen Schwartz, der auf dem Stuhl am Krankenbett eingeschlafen war.
„Wo sind Sie?“
„Im Krankenhaus. Was ist passiert?“
„Das erkläre ich Ihnen, wenn Sie hier sind.“
„Sie sind im Büro?“
„Wo denn sonst?“
Auf dem Weg ins Besprechungszimmer kam Krohmer ein aufgebrachter Kollege entgegen.
„Gott sei Dank, Sie sind hier“, keuchte der Mann, auf dessen Brust der Name Hintergruber stand. Krohmer kannte den Mann nur vom Sehen.
„Was ist los?“
„Bei uns sitzt ein Mann, der behauptet, dass seine Brunhilde erschossen wurde.“
„Mord? Wieso weiß ich nichts davon?“ Krohmer war genervt. Warum wurde die Sache nicht längst der Mordkommission gemeldet? „Wo ist er?“
„An der Anmeldung.“
„Sie hätten die Kollegen informieren müssen! Das darf nicht passieren, Hintergruber! Ein Mord muss umgehend an die richtige Stelle weitergeleitet werden! Was ist los mit Ihnen? Sie waren doch auf der Polizeischule und wissen sehr gut, wie man in einem solchen Fall vorgeht!“
„Ja, aber…“
Krohmer schob Hintergruber zur Seite und ging an dem Mann vorbei. Zielstrebig steuerte er auf den Mann an der Anmeldung zu. Der etwa Sechzigjährige hielt seine Mütze in Händen und hatte offensichtlich für den Besuch bei der Polizei seinen Sonntagsanzug angezogen.
„Krohmer.“ Er gab ihm die Hand, auch wenn das in Corona-Zeiten unangebracht war. Krohmer wusste das, konnte sich das aber nicht abgewöhnen. Er war nun mal ein Händeschüttler.
„Fagl. Wilhelm Fagl“, stammelte der Mann, der sehr wohl wusste, dass der Polizeichef persönlich vor ihm stand.
„Sie wollen einen Mord melden?“
„Richtig. Meine Brunhilde wurde erschossen. Ich habe sie gefunden, den Anblick werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen.“ Fagl war sehr aufgebracht und hielt sich an seiner Mütze fest.
„Wurde die Spurensicherung bereits informiert?“, wandte sich Krohmer an Hintergruber.
„Nein, weil…“
„Dann veranlassen Sie das sofort! Was ist los mit Ihnen?“ Krohmer war sauer. Es war vermutlich höchste Zeit für eine Nachschulung, die nach den neuesten Erkenntnissen längst überfällig war. „Ich möchte Ihnen mein tiefempfundenes Beileid zum Ableben Ihrer Frau aussprechen“, wandte er sich Fagl zu.
„Meine Frau? Wovon reden Sie? Brunhilde ist doch nicht meine Frau, sie ist meine beste Zuchtsau!“
„Brunhilde ist ein Schwein?“
„Meine beste Zuchtsau. Ich habe schon viele Preise mit ihr gewonnen. Wenn sie nicht erschossen worden wäre, hätte sie noch sehr viel mehr gewonnen.“ Fagl zog seine Brieftasche hervor und zeigte Krohmer das Foto eines riesigen Schweines. „Das ist sie – meine Brunhilde.“
„Sehr schön“, murmelte Krohmer und ging zu Hintergruber. „Entschuldigen Sie das Missverständnis, Sie haben alles richtig gemacht.“
„Keine Spurensicherung?“
„Selbstverständlich nicht.“ Krohmer ging einfach und überließ Hintergruber den aufgebrachten Landwirt. Der erfahrene Polizist nahm den Sachverhalt auf.
„Wir werden der Angelegenheit nachgehen“, sagte Hintergruber.
„Wann kommt die Spurensicherung? Wann kann ich mit den zuständigen Kommissaren sprechen?“
Hintergruber musste sich ein Lachen verkneifen.
„Sie hören von uns.“ Mehr sagte er nicht dazu, denn es war endlich an der Zeit, dass der Landwirt wieder ging.
„Was mache ich mit Brunhilde? Muss ich sie wegen der Beweise kühl lagern?“
„Nein, das ist nicht nötig.“
„Wie Sie meinen.“
Hintergruber sah dem Mann hinterher. Mit welchem Schwachsinn man sich als Polizist herumschlagen muss, ist schon der Wahnsinn. Und das auch noch während der Nachtschicht. Insgeheim freute sich Hintergruber darüber, dass sich der Anschiss vom Chef in Luft auflöste. Allerdings hatte er auch Verständnis. Wie hätte Krohmer auch wissen können, dass es sich bei der Brunhilde um eine Zuchtsau handelte?