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„Sie beide fahren nach Neuötting in das Fitnessstudio. Und Sie, Grössert, kommen in mein Büro“, bestimmte der Leiter der Mühldorfer Kriminalpolizei Rudolf Krohmer. Seine Laune war heute nicht die beste, denn das, was er bezüglich seines Mitarbeiters Werner Grössert über Umwege erfahren musste, ärgerte ihn maßlos.

Leo Schwartz und die Kollegin und Vorgesetzte Tatjana Struck standen auf. Es gab eine anonyme Anzeige gegen das Fitnessstudio wegen illegalem Handel mit Anabolika und niemanden wirklich schockierte.

„Wann warst du zum letzten Mal in einem Fitnessstudio?“, wollte Leo von Tatjana wissen. Die beiden waren nicht oft gemeinsam unterwegs. Normalerweise arbeitete Leo sonst mit Hans Hiebler zusammen, der aber war mit seiner Freundin im Urlaub auf Mauritius und plantschte vermutlich gerade im indischen Ozean.

„Ich gehe doch in kein Fitnessstudio! Gott bewahre! Machst du dich lustig über mich?“

„Natürlich nicht! Ich habe schon seit Jahren keinen Sport mehr gemacht, was sich langsam rächt. Je älter ich werde, desto mehr schmerzen meine alten Knochen.“ Leo lachte, obwohl ihn das Thema schon länger beschäftigte. Ja, er hatte einige Kilos zugenommen, was ihn nicht weiter störte. Was ihm Sorgen bereitete war, dass er jede Bewegung spürte. Manchmal hatte er Schmerzen an Stellen, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie hatte. Ob er mit seinen vierundfünfzig Jahren nun auch langsam zum alten Eisen gehörte?

Tatjana machte sich darüber keine Gedanken. Sie war noch nie die sportlichste gewesen und hatte schon immer Übergewicht – beides störte sie nicht. Viel wichtiger war für sie die Gesundheit, mit der sie seit einer Schussverletzung sowohl physisch, als auch psychisch immer noch zu kämpfen hatte. Es wurde zwar leichter, trotzdem wurde sie fast täglich daran erinnert und das störte sie gewaltig.

Tatjana zündete sich eine Zigarette an, was Leo gegen den Strich ging. Er hielt ihr einen Vortrag über die schädlichen Auswirkungen des Rauchens und Passivrauchens, obwohl er früher selbst starker Raucher gewesen war. Tatjana drehte die Musik des Radios lauter.

„Können wir endlich?“, drängelte sie, da Leo keine Anstalten machte, den Wagen zu starten.

Er drehte den Zündschlüssel und brachte weitere Argumente vor, die gegen das Rauchen sprachen. Dann ging er über zu Tipps, wie sie sich von der Sucht am einfachsten befreien konnte. Tatjana war genervt und drehte das Radio abermals lauter. Dadurch hörten beide die Handys nicht, die mehrfach klingelten.

Dass Leo und Tatjana verfolgt wurden, bemerkten sie nicht. Leo war durch seinen Vortrag abgelenkt, Tatjana konzentrierte sich auf die Musik, wobei sie sich demonstrativ eine Zigarette nach der anderen anzündete, um Leo zu ärgern.

„Warum muss ich aus München von Ihrer Bewerbung erfahren?“, kam Rudolf Krohmer sofort auf den Punkt. Um in aller Ruhe mit Grössert sprechen zu können, hatte er das Telefon zu seiner Sekretärin umgeleitet und das Handy stummgeschaltet. Auch Werners Handy war aus, denn er ahnte, worum es bei dem Gespräch ging und wollte dabei nicht gestört werden. Hätte er doch nur auf seine Frau gehört, die ihm mehrfach geraten hatte, Krohmer gegenüber mit offenen Karten zu spielen! Aber das war leichter gesagt als getan. Schlussendlich hatte er sich dazu entschlossen, nichts zu sagen, denn schließlich wusste er nicht, wie die Bewerbung entschieden wurde. Wenn er abgelehnt wurde, hätte er viel Staub aufgewirbelt. Der zweiundvierzigjährige Werner Grössert blieb äußerlich ganz ruhig, innerlich brodelte es. Er schämte sich fast dafür, dass er Krohmer nicht ins Vertrauen gezogen hatte, aber nur fast. Werner hatte sich vor über zwei Monaten für einen sehr interessanten Job beim Innenministerium München beworben. In der Stellenausschreibung fühlte er sich angesprochen, auch wenn die Arbeitsbeschreibung keine direkte Polizeiarbeit beinhaltete. Jetzt war es so weit: Krohmer hatte Wind davon bekommen.

„Ich habe meine Chancen sehr gering eingeschätzt und wollte die Pferde nicht scheu machen.“

„Aha. Gefällt es Ihnen bei uns in Mühldorf nicht mehr? Sind die Aufgaben nicht anspruchsvoll genug? Erklären Sie mir, warum Sie uns verlassen wollen!“

„Sie wissen sehr gut, dass ich mich in Mühldorf wohlfühle. Trotzdem möchte ich mich weiterentwickeln. Ich bin jetzt zweiundvierzig Jahre alt und muss zusehen, dass ich beruflich weiterkomme. Können Sie das nicht verstehen?“

Krohmer lehnte sich zurück. Er verstand Grössert und seinen Wunsch, auf der Karriereleiter nach oben klettern zu wollen, sehr gut. Trotzdem ließ er ihn nur sehr ungerne gehen. Seine Mannschaft war für seine Begriffe perfekt und jetzt würde ein wichtiger Teil wegbrechen. Außerdem mochte er Grössert gerne. Die beiden kannten sich schon seit vielen Jahren und Krohmer konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Grössert nicht mehr da sein würde.

„Doch, ich verstehe Sie. Ich werde Sie vermissen, Grössert.“

„Soll das heißen….?“

„Ja, Sie haben den Job. Der Innenminister hat mich heute angerufen. Ihre Chancen waren nicht so gering, wie Sie sie eingeschätzt haben. Sie sind perfekt für die Stelle. Persönlich bin ich enttäuscht, dass ich das nicht von Ihnen davon erfahren habe, muss das aber so hinnehmen. Es schmerzt mich, Sie in Kürze nicht mehr zum Team dazuzählen zu dürfen. Trotzdem wünsche ich Ihnen alles Gute.“ Krohmer stand auf und reichte ihm die Hand. „Das Fax soll ich Ihnen überreichen, die Unterlagen bekommen Sie per Post. Am ersten November geht es los.“

„Vielen Dank, Chef.“ Mehr konnte Werner Grössert nicht sagen. Er überflog das Fax, das persönlich vom Innenminister unterschreiben war. In den wenigen Zeilen wurde die Stelle bestätigt. Die Zukunft in München, von der er und seine Frau seit Wochen träumten, wurde nun Realität. Seine Frau hatte ein Jobangebot in München, das sie jetzt annehmen konnte. Außerdem hatten die beiden eine kleine Tochter, an die sie denken mussten. In München gab es nun mal sehr viel mehr Möglichkeiten für die Zukunft der Kleinen, davon waren sie beide überzeugt. Werner lächelte, als er Krohmer die Hand schüttelte. Ihm lag eine Entschuldigung auf der Zunge, aber dazu konnte er sich nicht durchringen. Es war sein gutes Recht gewesen, sich zu bewerben und dafür musste er sich nicht rechtfertigen. Er verstand Krohmers Enttäuschung, an der er aber nichts mehr ändern konnte. Jetzt musste er so schnell wie möglich seine Frau anrufen, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen.

Maria Rettermaier, Krohmers fünfunddreißigjährige Sekretärin, nickte Werner Grössert nur zu, als der mit einem fetten Grinsen das Büro des Chefs verließ. Sie wusste, was die beiden zu besprechen hatten und hatte Mitleid mit ihrem Chef, dem das nicht leichtgefallen war. Sie stand auf und klopfte zaghaft.

„Alles klar, Herr Krohmer?“

„Geht so. Könnten Sie bitte dafür sorgen, dass ich für zwanzig Minuten meine Ruhe habe? Vertrösten Sie alle Anrufer, um die kümmere ich mich später. Erfinden Sie irgendeine Ausrede, Ihnen fällt sicher etwas Passendes ein. Würden Sie das für mich tun?“ Sollte Maria ihm sagen, dass der Staatsanwalt mehrfach angerufen hatte? Nein, das konnte warten.

„Mache ich gerne.“ Leise schloss sie die Tür. Als sie sich umdrehte, stand der Staatsanwalt Eberwein vor ihr.

„Ich muss dringend Herrn Krohmer sprechen. Er ist doch da, oder?“ Sie spürte, dass etwas passiert sein musste, denn der Staatsanwalt war sehr aufgeregt.

„Das geht leider nicht. Kommen Sie in einer halben Stunde wieder.“

„Mein Anliegen kann nicht warten.“ Eberwein versuchte, sich an Maria Rettermaier vorbeizudrängeln, aber sie ließ das nicht zu. Die stämmige, kleine Frau stellte sich ihm entschlossen entgegen. Eberwein wich zurück. Er war schon einmal mit der resoluten Sekretärin aneinandergeraten und das war ihm nicht gut bekommen. „Ich flehe Sie an, Frau Rettermaier: Ich muss Herrn Krohmer sprechen, es ist dringend!“

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte dem Chef versprochen, ihn in Ruhe zu lassen. Konnte man ihm die zwanzig Minuten nicht zugestehen?

„Nein!“, war die klare Antwort.

„Was ist mit den Kollegen Schwartz, Hiebler, Struck und Grössert? Ich kann niemanden erreichen!“

„Herr Hiebler ist im Urlaub, der Glückliche ist auf den Mauritius. Herr Grössert war eben noch hier, er kann nicht weit sein. Wo die anderen beiden sind, kann ich Ihnen nicht sagen. Haben Sie es schon auf deren Handys versucht?“

„Selbstverständlich! Denken Sie, ich bin bescheuert? Natürlich habe ich mehrfach angerufen, aber es meldet sich niemand.“

„Diesbezüglich kann ich Ihnen nicht helfen. Ich kann Ihnen nur raten, es weiterhin zu versuchen. Gehen Sie in die Kantine und trinken Sie einen Kaffee. Ich sehe zu, was ich inzwischen für Sie wegen eines Gesprächs mit Herrn Krohmer machen kann. Geben Sie mir zwanzig Minuten, okay?“

Eberwein zögerte. Die Rettermaier war stur und würde ihn nicht durchlassen. Was blieb ihm anderes übrig, als ihrem Rat zu folgen? Er hatte wieder und wieder versucht, die Kriminalbeamten zu erreichen, aber die gingen nicht an ihre Handys. Hiebler war in Sicherheit, um den musste er sich keine Sorgen machen. Zum Glück konnte er wenigstens ihn von der Liste streichen. Wütend und enttäuscht drehte er sich um und ging in die Kantine, wo er sich einen Kaffee holte. Am Tisch angekommen, versuchte er erneut, Schwartz, Struck oder Grössert zu erreichen. Jetzt war Grösserts Nummer belegt, an ihm musste er dranbleiben, denn der lief hier irgendwo im Präsidium herum. Warum erreichte er nicht einen der Kriminalbeamten? Was war da nur los?

Werner Grössert hatte lange und ausführlich mit seiner Frau telefoniert. Die beiden waren euphorisch und machten in den schillerndsten Farben Zukunftspläne. Als er aufgelegt hatte, sah er die Nummer auf seinem Display, die mehrfach versucht hatte, ihn zu erreichen. Diese Nummer war Werner bekannt, der Staatsanwalt wollte ihn also auch sprechen. Werner befürchtete, dass er sich ebenfalls bezüglich der Bewerbung äußern wollte und darauf hatte er jetzt keine Lust. Er wollte sich die gute Laune nicht verderben lassen, von niemandem. Der Rückruf konnte warten. Jetzt musste er erst dringend zur Toilette, die Aufregung war ihm auf den Magen geschlagen.

Auch Tatjana und Leo bemerkten bei ihrer Ankunft vor dem Fitnessstudio in Neuötting die Nummer auf ihren Handys.

„Der Staatsanwalt hat mehrmals angerufen“, sagte Tatjana verwundert.

„Bei mir auch. Sollen wir ihn zurückrufen?“

„Ich nicht, übernimm du das. Nachdem du mir während der Fahrt ununterbrochen auf die Nerven gegangen bist, kann ich den Staatsanwalt nicht auch noch brauchen“, sagte Tatjana genervt.

Leo konnte auf den unsympathischen Mann vorerst auch verzichten und folgte Tatjana, die bereits an der Eingangstür des Fitnessstudios wartete. Für einen kurzen Moment war Tatjana irritiert: War das da hinten nicht der Wagen, den sie mehrmals im Rückspiegel gesehen hatte? Sie wischte den Gedanken beiseite, schließlich glichen sich die Fahrzeuge wie ein Ei dem anderen. Und wer sollte ihnen folgen? Und warum? Wurde sie durch ihren Job jetzt auch schon paranoid? Sie kannte das von vielen Kollegen, die von Jahr zu Jahr immer misstrauischer wurden und denen alles und jeder verdächtig vorkam. Wurde sie jetzt auch schon komisch? Vielleicht brauchte sie einfach nur Urlaub. Das letzte Mal, als sie sich erholen konnte, war lange her. Sie war nicht paranoid, sie war nur urlaubsreif. Es war jetzt auch für sie endlich an der Zeit, mal so richtig auszuspannen.

Carter Waves war wütend. Er hatte herausgefunden, dass Hans Hielber im Urlaub war. Ein Telefonat mit der Zentrale der Mühldorfer Polizei hatte genügt, um an diese Information zu kommen. Verdammt, damit hatte er nicht gerechnet. Er atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen, auch wenn ihm das sehr schwerfiel. Waves war schon immer aufbrausend, fast cholerisch gewesen, was ihm in der Vergangenheit stets Ärger einbrachte. Diesmal musste er sich zusammenreißen und ruhig bleiben. Nicht auszudenken, wenn er diesen Job vermasselte! Schließlich zählte John auf ihn und diesmal wollte er ihn nicht enttäuschen. Es gab eine Planänderung, die er nicht zu verantworten hatte und die er akzeptieren musste. Gut, dann musste er eben mit seiner Rache an Hiebler warten, bis der aus dem Urlaub zurück war, was kommenden Sonntag der Fall sein würde. Heute war Donnerstag. Bis Hiebler zurück war, hatte er genug Zeit, um sich um Schwartz und die Alte in Ulm zu kümmern. Zum Glück hatte er noch keinen Rückflug gebucht.

Als Leo Schwartz aus dem Polizeigebäude gekommen war, hatte er ihn sofort erkannt. Die Fotos seiner Opfer, die ihm Bloomberg zusammen mit einem Bündel Geldscheine überreicht hatte, hatte er sich eingeprägt. Diesem Schwartz musste er auf den Fersen bleiben, einen günstigen Moment abwarten und ihn dann abknallen. Nach diesem Job ging es dann direkt nach Ulm. Die Alte würde ein Kinderspiel werden.

Aber jetzt galt seine ganze Aufmerksamkeit vorerst nur Leo Schwartz.

Die Todesliste

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