Читать книгу Die Todesliste - Irene Dorfner - Страница 6
4.
ОглавлениеIm Neuöttinger Fitnessstudio war nicht viel los, was um diese Uhrzeit niemanden verwunderte. Einige ältere Herren stemmten gelangweilt die wenigen Gewichte. Nur einer nahm den Sport sehr ernst, denn er schwitze stark und stöhnte unter der Last. Drei Damen mittleren Alters saßen an der Bar und tranken ein für Leo undefinierbares Gebräu. Er vermutete einen dieser Fitnessdrinks, die ganz sicher widerlich gesund schmeckten. Tatjana machte sich darüber keine Gedanken. Sie war erstaunt darüber, dass die Damen im arbeitsfähigen Alter um diese Uhrzeit im Fitnessstudio waren. Aber das ging sie nichts an, deshalb waren sie nicht hier.
„Kriminalpolizei. Wir möchten den Geschäftsführer sprechen“, sagte sie laut an die junge Frau hinter Bar gewandt und zeigte ihren Ausweis. Sofort sahen alle in ihre Richtung. Leo war das unangenehm, schließlich gingen sie nur einer anonymen Anzeige nach.
Die junge Frau war erschrocken und holte den Chef. Der fünfundvierzigjährige, drahtige, braungebrannte, muskulöse, riesige Mann im hellblauen Jogginganzug kam nur wenige Minuten später auf die Kriminalbeamten zu.
„Erich Perzlmeier“, stellte er sich mit einem festen Händedruck vor, wobei er die beiden bat, in der Kaffeeecke Platz zu nehmen.
Leo starrte nur auf die fette Goldkette, an der ein goldener Panther hing, auf dem viele Edelsteine glitzerten. Ob der Klunker echt war?
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ein Wasser oder einen unserer beliebten Fitnessdrinks?“
„Gott bewahre!“, entfuhr es Leo, der sich sofort für seinen Ausspruch schämte.
Tatjana winkte ab, zum Trinken waren sie nicht hier. Außerdem sollte das hier keine gemütliche Plauderstunde werden.
„Ihnen gehört das Fitnessstudio?“
„Mir und meinem Partner Heiko Thiemann. Heiko ist nicht hier, er hat einen Termin beim Steuerberater. Worum geht es? Was führt Sie zu uns?“
„Wir sind wegen einer Anzeige hier. Es geht um leistungssteigernde Mittel“, umschrieb Leo den Grund ihrer Anwesenheit.
„Illegaler Handel mit Anabolika“, schob Tatjana plump und sehr laut hinterher.
„Nicht schon wieder!“, stöhnte Perzlmeier genervt. „Wissen Sie, wie oft wir dahingehend bereits angeschwärzt wurden? Wir haben nichts damit zu tun, ich schwöre! Wir sind ein ganz normales Fitnessstudio, nicht mehr und nicht weniger. Wir versuchen, das Geschäft so gut wie möglich zu führen, was wirklich nicht leicht ist, das können Sie mir glauben. Sport steht bei den meisten Menschen nicht ganz oben auf der Liste und deshalb müssen wir um jedes einzelne Mitglied kämpfen. Was glauben Sie, welche Kosten in diesem Laden monatlich zu stemmen sind? Ganz abgesehen von Miete und Nebenkosten verschlingen die Leasingraten der Geräte und deren Wartung ein Vermögen. Über die hohen Personalkosten möchte ich überhaupt nicht sprechen.“
„Mir kommen die Tränen“, maulte Tatjana, der der Mann tierisch auf die Nerven ging. Er entsprach genau dem Bild, das sie von einem Inhaber eines Fitnessstudios hatte. „Unter diesen Umständen käme eine zusätzliche Einnahme doch nicht ungelegen?“
Leo schämte sich fast für die unverschämten Äußerungen seiner Kollegin. Er wusste, dass sie es nicht so meinte, andere aber nicht.
„Trotzdem müssen wir jeder Anzeige nachgehen, auch wenn sie anonym ist“, lächelte Leo gequält.
„Verstehe“, sagte Perzlmeier und sah Tatjana feindselig an. Dann musterte er sie von oben bis unten, wobei er sein Missfallen nicht unterdrückte. Tatjana war pummelig, hatte kurzes, braunes Haar und trug ein ungebügeltes T-Shirt mit einem riesigen Frosch darauf, der frech grinste. Ihre Sneakers waren bunt und passten irgendwie nicht zu der hellblauen, ausgebeulten Jeans. Sie war nicht geschminkt, was Perzlmeier zu dem Schluss kommen ließ, dass sie zu den Frauen gehörte, die keinen Wert auf ihre äußere Erscheinung legten und was er nicht verstehen konnte. Leo gehörte mit seinem 80er-Jahre Outfit, das aus Jeans, Cowboystiefeln und einem T-Shirt mit dem Aufdruck der Stones bestand, schon nicht in das Ambiente eines Fitnessstudios, aber Tatjana noch sehr viel weniger.
Tatjana bemerkte, wie Perzlmeier sie musterte. Sie hielt den Mann für einen Proleten, wie er im Buche stand und ließ sich die abfällige Abschätzung nicht gefallen. Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme grinsend und starrte nur auf die Zähne Perzlmeiers, die sie fast blendeten. Da sie sich nur darauf konzentrierte, wurde Perzlmeier unsicher und fuhr sich ständig mit der Zunge über die Zähne, was Tatjana sehr amüsierte. Leo war das Verhalten beider sehr unangenehm. Ihm war klar, dass die beiden keine Freunde werden würden.
„Können wir uns umsehen? Wenn Sie nichts zu verbergen haben, dürften Sie nichts dagegen haben“, sagte Tatjana.
„Ich sagte doch, dass wir mit der Sache nichts zu tun haben! Bitte, sehen Sie sich um! Aber diskret, wenn ich bitten darf. Kriegen Sie das hin?“, sprach Perzlmeier Tatjana direkt an.
„Mal sehen“, murmelte sie und stand auf.
„Wir werden uns bemühen“, mischte sich Leo ein. „Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen, Herr Perzlmeier.“
„Musstest du den Mann so angehen?“
„Wie man in den Wald hineinschreit, schallt es zurück.“
„So, wie ich das mitbekommen habe, hast du angefangen, meine Liebe.“
„Weißt du was, Leo? Behalte deine Klugscheißereien für dich! Was ist heute los mit dir? Hast du dir heute vorgenommen, mich ununterbrochen belehren zu müssen? Hoffentlich kommt Hans schnell aus dem Urlaub zurück, damit ich dich wieder los bin! Machen wir uns an die Arbeit!“
Tatjana und Leo trennten sich. Während sich Leo den Umkleide- und Duschbereich vornahm, übernahm Tatjana den Fitnessbereich und die Bar. Nach einer Stunde trafen sich die beiden in Perzlmeiers Büro. Auch hier durften sie sich umsehen, auch wenn Perzlmeier das nicht sehr gerne sah. Während sein Büro durchsucht wurde, wich er den Kriminalbeamten nicht von der Seite. Tatjana und Leo waren fertig, jetzt ging es in den Aufenthaltsraum der Angestellten.
„Darf ich?“, fragte Leo und zeigte auf die Schränke, in denen persönlichen Dinge der Angestellten untergebracht waren.
„Gerne. Wie gesagt: Wir haben nichts zu verbergen.“
Außer der jungen Frau hinter der Bar waren heute zwei Trainer und eine Reinigungskraft hier - außer dem Chef natürlich.
Leo und Tatjana hatten alles durchsucht und nichts gefunden. Alles, bis auf das Büro des Kompagnons Heiko Thielmann. Perzlmeier erlaubte nicht, dass dessen Büro während seiner Abwesenheit durchsucht wurde, was beide Kriminalbeamten verstehen konnten.
„Wo ist das Lager?“
„Bitte?“
„Irgendwo werden doch sicher Getränke, Gläser, Putzmittel und so weiter gelagert.“
„Kommen Sie mit.“ Perzlmeier hielt sich in dem Lagerraum nur sehr selten auf. Auf dem Weg dorthin überlegte er, wann er das letzte Mal hier gewesen war. Das musste gut und gerne schon fast ein halbes Jahr her sein.
Der Raum an der Hinterseite des Studios war relativ klein. Alles war vollgestopft mit allem, was man sich vorstellen kann: Getränke, Dosen mit Pulver für diverse Mixgetränke, worunter sich ganz sicher auch der gesunde Fitnessdrink befand. Leo lächelte, denn der schien doch nicht so gesund zu sein, wenn er aus der Dose kam. In den beiden Regalen stapelten sich Milchtüten, Zucker und viele Konserven mit diversen Früchten. Es gab Strohhalme in allen Farben und Größen, Gläser, Tassen, Papierhandtücher, Duschgel, Shampoo und Servietten. Hinter der Tür waren in Folie verpackte Handtücher aufgetürmt, daneben stand der Putzwagen, auf dem die Putzmittel standen. Perzlmeier war das Chaos vor den Polizisten äußerst unangenehm. So bald wie möglich musste er mit seinen Mitarbeitern ein ernstes Wort reden und darauf drängen, dass das Lager aufgeräumt wurde.
Tatjana begann mit der Durchsuchung, Leo half ihr dabei. Wie sollten sie in diesem Chaos etwas finden?
Perzlmeier war gegangen, er zog sich in sein Büro zurück. Wie lange dauerte die Durchsuchung denn noch? Die wenigen Gäste wurden unruhig, zwei waren bereits gegangen. Wann hörten die Verleumdungen endlich auf? Heiko hatte mit dem Dealen schon lange aufgehört, das hatte der ihm versprochen. Auch wenn ein Restrisiko blieb, dass er wieder damit angefangen hatte, glaubte Perzlmeier nicht daran. Er konnte sich schon vorstellen, wer dahintersteckte: seine Verflossene Mandy. Sie war seit ihrer Trennung total verrückt geworden. Es gab kaum einen Tag, an dem er ihr nicht begegnete. Alles sah danach aus, dass sie ihn stalkte, was ihn wütend machte. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass er nicht mehr tun und lassen konnte, was er wollte, ohne dabei beobachtet zu werden. Zur Hölle mit Mandy! Er hätte sich mit der Frau niemals einlassen dürfen. Jeder wusste, dass sie nicht richtig tickte, aber er hatte sich von ihrem Äußeren blenden lassen. Als sich Mandy als Trainerin bei ihm bewarb, war er sofort hin und weg. Mandy war eine der schönsten Frauen, die er jemals gesehen hatte. Ihre Figur und ihr ganzes Erscheinungsbild waren geradezu perfekt, um das Geschäft zu repräsentieren und ihn zu schmücken. Egal, wo sie beide aufgetaucht waren, wurde er von allen um diese junge, hübsche Frau beneidet. Bis sie den Mund aufmachte, dann war es damit schnell vorbei. Abgesehen davon, dass sie sehr einfach gestrickt ist, ist Mandy die zickigste Frau, die ihm jemals begegnet war. Nichts konnte man ihr rechtmachen, niemanden konnte sie leiden. Außerdem war sie bei den Kunden sehr unbeliebt, ihre Kurse wurden kaum gebucht. Aber das machte ihr nichts aus, die Schuld gab sie anderen. Es dauerte nicht lange, bis Erich ihren wahren Charakter erkannte. Aber es dauerte sehr, sehr lange, bis er es übers Herz brachte, sie in den Wind zu schießen. Mandy reagierte mit einer heftigen Szene in einem Altöttinger Lokal, in dem er sich seitdem nicht mehr blicken ließ. Er schämte sich auch heute, nach sechs Wochen, immer noch für den unmöglichen Auftritt. Mandy hatte alles kurz und klein geschlagen, was sie in die Finger bekam. Dazu warf sie mit Beschimpfungen und sogar Flüchen um sich, die alle sehr derb waren. Heute hatte er Mandy noch nicht gesehen. Er war sich sicher, dass sie für die anonyme Anzeige verantwortlich war. Ob er nochmals versuchen sollte, mit ihr zu sprechen? Nein, das brachte nichts, das hatte er schon zwei Mal versucht und das war ihm nicht gut bekommen. Die Kratzspuren in seinem Gesicht waren verheilt, von den blauen Flecken, die er von ihren hochhackigen Schuhen davontrug, waren einige noch gut zu sehen. Nein, auf ein Gespräch mit ihr konnte er gerne verzichten.
Leo und Tatjana verabschiedeten sich, worüber Erich Perzlmeier sehr erleichtert war. Er saß in seinem Büro und schloss vorsichtshalber die Tür.
„Die Polizei war hier. Ich hoffe, du fängst nicht wieder mit dem Mist an! Wir haben eine Vereinbarung!“
„Nur die Ruhe, Erich. Ich habe dir versprochen, dass ich nicht mehr mit dem Zeug handle und daran halte ich mich. Wegen mir war die Polizei ganz sicher nicht im Studio. Beruhige dich.“
„Du hast gut Reden, Heiko! Die Polizei hat alles auf den Kopf gestellt.“
„Lass mich raten: Sie haben nichts gefunden!“
„Natürlich nicht. Ich bin mir sicher, dass uns diese Verrückte angeschwärzt hat.“
„Ich habe dir damals gesagt, dass du die Finger von Mandy lassen sollst. Hast du auf mich gehört? Nein! Dein Verstand war in die Hose gerutscht – und jetzt haben wir den Schlamassel. Welche Probleme du privat mit ihr hast, ist deine Sache. Wenn Mandy in unser Geschäft eingreift, geht das zu weit. Sieh zu, dass du die Frau endlich zur Vernunft bringst.“
„Und wie soll ich das deiner Meinung nach tun?“
„Keine Ahnung. Du hast uns die Sache eingebrockt und du musst sie aus der Welt schaffen.“
„Das sagst du so leicht! Wenn ich heute den Termin beim Steuerberater übernommen hätte, wäre mir das mit der Polizei erspart geblieben und du hättest dich mit ihnen herumschlagen müssen.“
„Hast du aber nicht! Der Termin beim Steuerberater ist gut gelaufen, in zwanzig Minuten bin ich im Studio. Bis dahin hast du dich hoffentlich beruhigt. Dass du dich aber auch immer gleich so aufregen musst!“, lachte Heiko. „Du warst zu lange mit der verrückten Mandy zusammen, das hat dir und vor allem deinen Nerven geschadet, mein Lieber.“
„Arschloch.“
Als Leo das Fitnessstudio verließ, blieb das nicht unbeobachtet. Zum einen war Carter Waves in der Nähe, und zum anderen war dort die schöne Mandy.
Mandy war enttäuscht, als die Polizei unverrichteter Dinge wieder abzog. Sie hätte schwören können, dass Heiko immer noch mit Anabolika dealte. Offensichtlich lag sie damit falsch. Sie hätte geschickter vorgehen müssen und irgendwo etwas davon deponieren müssen. Aber wie hätte sie das tun sollen? Erich hatte ihr den Schlüssel abgenommen, worüber sie immer noch verärgert war. Außerdem hatte man ihr Hausverbot erteilt, was eine Frechheit war. Bereits vier Mal hatte Erich sie rauswerfen lassen, und das vor allen Leuten! Was fiel diesem Trottel eigentlich ein, so mit ihr umzuspringen? Sie hatte sich mit ihm eingelassen, obwohl er über zwanzig Jahre älter war als sie. Dazu sah er auch noch prollig aus, was sie ihm auch immer wieder vorgeworfen hatte. Schon alleine diese altbackene Frisur und diese Prollkette waren echt peinlich. Aber Erich war dankbar und spendabel, und nur das war ihr wichtig. Er führte sie aus und sie lebte auf seine Kosten, was ihr sehr gut gefiel. Warum hatte er sie einfach abserviert? Er hatte ganz sicher eine neue Frau, das konnte sie spüren. Warum sonst wollte er, dass sie aus seinem Leben verschwand? Sie war gutaussehend und hatte eine perfekte Figur, was wollte er denn noch? Sie hatte sogar während ihrer Beziehung gearbeitet, was mehr als großzügig von ihr gewesen war. Sie war wütend auf Erich und musste es ihm heimzahlen, denn zurücknehmen wollte er sie auf keinen Fall, dass hatte er ihr mehrfach klargemacht. Sie wollte nur Rache an dem Mann nehmen, der sie nicht wollte – und das war ihr gutes Recht!
Carter Waves hatte die Frau in ihrem schäbigen Kleinwagen bemerkt. Sie starrte nur auf das Gebäude, in dem Leo Schwartz verschwand. Was machte die hübsche Frau hier? Was hatte sie vor?
Auch, als die beiden Kriminalbeamten in ihren Wagen stiegen, rührte sie sich nicht, sondern hielt den Blick starr auf das Gebäude gerichtet. Es schien, als wäre sie nicht an den Polizisten interessiert. Gut, sollte sie hierbleiben und ihre eigenen Ziele verfolgen. Für ihn war es an der Zeit, dem Wagen der Kriminalbeamten zu folgen.
Während Tatjana fuhr, versuchte Leo wieder und wieder, den Staatsanwalt anzurufen, aber ohne Erfolg.
„Typisch Eberwein! Erst knallt er einem die Mailbox voll und dann geht er nicht ran“, schimpfte Leo. „Der Mann nervt ohne Ende. Kannst du dich daran erinnern, ob er jemals freundlich zu uns war?“
„Spontan nicht.“
Krohmer erkannte die Nummer auf Eberweins Handy und reagierte nicht. Schwartz würde noch früh genug erfahren, was passiert war.
Tatjana behielt den rückwärtigen Verkehr im Auge. War das nicht…? Doch, das war der Wagen, der ihr bereits aufgefallen war. Als sie auf dem Parkplatz der Mühldorfer Polizei den Wagen abstellte, war von dem Fahrzeug, das ihnen vermeintlich gefolgt war, weit und breit nichts zu sehen. Es war wirklich an der Zeit, dass sie ausspannte.