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DIE LEICHE

MUSS WEG

Der 29. Fall für Leo Schwartz

IRENE DORFNER

ANMERKUNG:

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden (eine Namensliste gibt es im Anhang). Die Namen der Gruppierungen wurden so gewählt, damit niemand damit in Verbindung gebracht werden kann (eine Erklärung gibt es am Ende des Buches). Sollte es trotz umfangreicher Recherchen doch Gruppen mit diesen Namen geben, so ist das absoluter Zufall.

Der Inhalt des Buches ist reine Phantasie der Autorin. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig.

Die Handlungen wurden den Örtlichkeiten angepasst.

Ich wünsche allen Lesern spannende Unterhaltung mit Leo’s 29. Fall!!

Irene Dorfner

Copyright © 2019 Irene Dorfner

All rights reserved

Lektorat: FTD-Script, D-84503 Altötting

1.

Angela Lickleder hatte sich Weihnachten und Silvester in diesem Jahr so schön vorgestellt. Schon seit Wochen freute sich die Achtunddreißigjährige auf den Mann, der ihr Leben endlich bereichern und lebenswert machen sollte. Jetzt war er tot.

Sie hatte Eduardo vor zwei Jahren übers Internet kennengerlernt. Der Brasilianer war mit seinen achtundzwanzig Jahren viel zu jung für sie, dazu sah er auch noch verdammt gut aus. Anfangs war sie misstrauisch über sein Interesse, denn sie war nicht die Frau, nach der sich die Männer umdrehten. Sie war keine Schönheit, sondern ausgesprochen hässlich, was man ihr schon seit der Grundschule immer wieder vorhielt. Sie wusste selbst, dass sie nicht perfekt war und zog sich schon immer zurück und hielt sich lieber im Hintergrund. Zu allem Unglück waren auch ihre Eltern in den Bankrott des Onkels hineingezogen worden und hatten ihr nach dem Tod Schulden hinterlassen, wodurch auch sie mittellos geworden war. Das Wenige, das sie als Küchenhilfe im Krankenhaus verdiente, reichte gerade so zum Leben. Trotzdem hatte sie tief in ihrem Inneren immer den sehnlichen Wunsch nach einem Partner gehabt. Stand ihr dieses Glück nicht auch zu? Vor zwei Jahren meldete sie sich auf einer Dating-Plattform an, was auf einen Schlag ihr ganzes Leben veränderte. Eduardo war sofort an ihr interessiert und überhäufte sie mit Komplimenten, die sie noch nie bekommen hatte. Angela blieb misstrauisch, denn im Umgang mit ihren Mitmenschen war sie ein gebranntes Kind. Nach drei Monaten lud sie mehrere Fotos von sich hoch, die nichts beschönigten. Schonungslos zeigte sie Eduardo, wie sie aussah und mit wem er sich abgab. Sie erwartete, dass er den Kontakt abbrach, aber nichts dergleichen geschah. Die Komplimente hörten nicht auf, wurden sogar noch sehr viel schmeichelhafter und intimer. Nach vier Monaten telefonierten sie zum ersten Mal miteinander, was wegen der Sprachbarriere nicht einfach war. Trotzdem schweißten sie die wenigen Worte mehr und mehr zusammen. Angela schwebte wie auf Wolken und begann portugiesisch zu lernen. Ihr stand eine rosige Zukunft und die Erfüllung all ihrer Träume bevor. Jetzt war Eduardo tot und alles war kaputt. Was war nur geschehen? Wie hatte er sich so sehr verändern können? Sie hatte doch gespürt, dass es Eduardo ehrlich mit ihr meinte. Ja, sie wusste von den vielen Betrügern im Netz, die es nur auf das Geld ihrer Kontakte abgesehen hatten. Aber Eduardo war anders. Er bat sie kein einziges Mal um Geld. Auch deshalb sparte sie sich jeden Cent vom Mund ab und überwies alles, was sie entbehren konnte, auch wenn es sich dabei nur um Kleinbeträge handelte. Warum hätte sie ihm das Geld nicht überweisen sollen? Eduardo war ehrlich gewesen und hatte ihr gebeichtet, dass er arm war, viel ärmer als sie selbst. War es nicht so, dass sich Liebende unterstützten, wo sie nur konnten?

Von Monat zu Monat wuchs in ihr das Verlangen, ihren Eduardo endlich anfassen und spüren zu können. Sie selbst schlug ihm vor, zu ihr nach Deutschland zu kommen. Dass sie nach Brasilien reisen würde, kam überhaupt nicht in Frage, denn sie hatte Flugangst und würde sich niemals freiwillig in ein Flugzeug setzen. Außerdem war der Gedanke, sich in einem fremden Land aufzuhalten, in dem sie sich nicht auskannte und die Sprache nicht sprach, unerträglich. Eduardo sollte zu ihr nach Deutschland kommen und mit ihr zusammen leben. Sie konnte sich noch sehr gut an seine Reaktion erinnern, als er fast weinte. Ja, er sagte zu, auch wenn er das Geld für ein Flugticket nicht hatte. Von da an übernahm Angela jede Überstunde, die sie ergattern konnte. Dazu ließ sie sich die Urlaubstage auszahlen, was dem Chef aufgrund des Personalmangels sehr entgegenkam. Sie verkaufte auch den Schmuck ihrer verstorbenen Mutter, der nicht viel einbrachte, da es sich nur um Silberschmuck handelte und die Steine von minderer Qualität waren. Aber auch diese siebzig Euro legte sie zur Seite. Ob sie es schaffen würde, ihren Geliebten noch vor Weihnachten nach Deutschland einfliegen zu lassen? Wie schön wäre es, dieses Jahr nicht wie in den vorherigen allein zu sein? Ende November fehlten trotzdem immer noch zweihundert Euro für das Ticket. Sie nahm ihren Mut zusammen und bat ihren Cousin Christian um ein Darlehen, das er ihr sofort gewährte. Zwar hatte er selbst nicht viel, aber hätte er seiner Cousine diese Freude verwehren sollen? Durch die Pleite seines Vaters wurde auch die Familie Lickleder hineingezogen, da der Onkel, Angelas Vater, viel Geld in die wackligen Geschäfte investiert hatte. Christians Vater war sehr geschickt darin gewesen, andere für seine Ideen zu begeistern und sie zu überreden. Auch deshalb hatte Christian immer ein schlechtes Gewissen Angela gegenüber, obwohl er selbst nichts für den Ruin konnte. Es war mehr als ein schlechtes Gewissen. Er hatte auch schon immer Mitleid mit Angela gehabt und wusste, dass sie es nicht leicht hatte. Viele Male hatte er die hämischen Beleidigungen, denen sie ausgesetzt war, mitbekommen. Zwei Mal hatte er sich sogar wegen ihr geprügelt, was ihm nicht gut bekommen war. Davon wusste Angela nichts, die ein sehr einfaches Gemüt hatte und immer sehr in sich gekehrt war. Natürlich wusste Christian von Eduardo, Angela hatte ihm alles erzählt. Anfangs war auch er skeptisch, denn warum sollte sich ein solch gutaussehender, viel zu junger Mann für seine Cousine interessieren, wenn es nicht um Geld ging? Angela hatte ihm hoch und heilig versprechen müssen, ihm kein Geld zu geben und er glaubte ihr, auch wenn sie ihn in diesem Punkt anlog.

Im Laufe der Zeit schwand Christians Misstrauen und er freute sich mit Angela, die ein privates Glück echt verdient hatte.

Angela war überglücklich gewesen, als das Ticket bezahlt war. Am 23.12. sollte Eduardo in München landen, was gerade noch rechtzeitig war, um das Weihnachtsfest gemeinsam zu feiern. Fast täglich telefonierten sie und Eduardo miteinander. Sie malten sich die Zukunft in den rosigsten Farben aus. Sobald ihr Geliebter hier war, würde sie endlich leben dürfen wie alle anderen auch. In diesem Jahr sollte Weihnachten etwas ganz Besonderes sein. Sie dekorierte die kleine Wohnung mit all dem Weihnachtsschmuck, den sie aus ihrer Kindheit kannte. Sie leistete sich sogar einen kleinen Weihnachtsbaum, den sie mit Liebe schmückte. In diesem Jahr sollte es auch eine Gans geben, wie sie es aus Kindertagen kannte. Dazu gab es Kartoffelbrei und Rotkohl. Ob Eduardo die deutsche Küche mochte? Sie hoffe es inständig.

Angela ließ es sich nicht nehmen, Eduardo mit ihrem alten Kleinwagen vom Flughafen abzuholen. Die Vorfreude war kaum auszuhalten. Sie hatte sich ihr schönstes Kleid angezogen, das für diese Jahreszeit viel zu dünn war. Darüber trug sie einen Mantel, den sie schonte und nur zu Beerdigungen trug. Eigentlich hätte sie zum Friseur gehen sollen, aber dafür war kein Geld mehr übrig. Sie kämmte die kurzen Haare und benutzte sogar einen Lippenstift, der schon viele Jahre alt war und nicht mehr ganz so schön glänzte.

Nervös wartete sie in der Ankunftshalle. Sie hatte eine gelbe Rose gekauft und hielt sich daran fest. Als Eduardo endlich auf sie zukam, stockte ihr Atem: Er sah noch viel besser aus, als auf den Bildern. Sie umarmten sich und am liebsten hätte sie ihn nie mehr losgelassen. Dass die beiden ein ungleiches Paar abgaben, störte sie nicht. Er, der junge, gutaussehende Schwarze, und sie, die hässliche Frau, die sehr viel älter aussah, als sie war. Viele rümpften die Nase, aber das war vor allem Angela egal.

Die ersten beiden Tage waren phantastisch gewesen. Eduardo schlief zwar viel, aber wenn er wach war, war er sehr zuvorkommend. Die Sprachbarriere war ein Problem, denn die wenigen Worte, die Angela gelernt hatte, reichten bei weitem nicht aus. Irgendwie verständigten sie sich. Jetzt von Angesicht zu Angesicht war das sehr viel einfacher als am Telefon. Angela ergriff die Initiative und versuchte, sich ihm auch körperlich zu nähern, aber er wich ihr aus. Er erklärte ihr, dass er wegen des langen Fluges müde war und sie verstand ihn. Trotzdem sehnte sie sich danach, ihn anzufassen und ihm nah zu sein. Aber sie musste geduldig sein. Am liebsten hätte sie ihren Eduardo sofort der ganzen Welt gezeigt. Den Neidern und Mobbern. All denen, die sich schon immer über sie lustig gemacht hatten. Sie hatte sich sehr oft ausgemalt, wie bewundernd und auch schockiert andere reagieren würden, wenn plötzlich dieser Mann an ihrer Seite auftauchte. Wann war es endlich so weit? Wann konnte sie ihren Freund präsentieren? Sie bettelte und bettelte, schließlich ließ sich Eduardo für einen kurzen Spaziergang erweichen. Es war schon dunkel an diesem ersten Weihnachtsfeiertag, deshalb wählte Angela den Stadtplatz. Aber gerade heute war alles wie leergefegt. Niemand war hier, dem sie ihren Eduardo hätte präsentieren und mit ihm angeben können. Auf dem Weg zum Auto begegneten sie aber Lisbeth, der dicken Verkäuferin bei Metzger Strömer. Endlich ein bekanntes Gesicht! Lisbeth war etwa in ihrem Alter und sie war die Pest! Lisbeth war der fieseste Mensch, den Angela je kennengelernt hatte. Sie gab ihr immer die erste Scheibe Wurst, auch wenn die schon übel aussah. Außerdem grabschte sie immer mit ihren dicken Fingern auf ihrem Aufschnitt herum und drückte manchmal sogar Löcher hinein, was Angela sehr wohl bemerkte, aber nie ein Wort darüber verlor. Sie traute sich nicht, denn sie fürchtete sich vor der dicken Frau, deren Waffe ihr loses Mundwerk war. Es machte Lisbeth Spaß, ihr dumme Fragen zu stellen und sie damit vor allen anderen bloßzustellen. Das machte diese schreckliche Frau alles mit Absicht! Jetzt stand die verhasste Lisbeth mit offenem Mund vor ihr. Sie sagte keinen Ton. Sie blieb einfach nur stehen und schien nicht zu glauben, was sie sah. Angela klammerte sich an Eduardo und er schien zu verstehen, denn er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Beide lachten und kicherten wir Teenager. Lisbeth fiel fast um vor Schreck. Schon allein wegen ihr hatte sich der Spaziergang gelohnt.

Nach Weihnachten war Eduardo nicht mehr so nett und begann, ohne sie auszugehen. Er verzog sich immer öfter ins Bad, wo er heimlich telefonierte. Wenn sie ihn darauf ansprach, wich er aus. Als er am 31.12. seine Jacke nahm und gehen wollte, war sie gerade dabei, das Abendessen zu kochen. Sie wollte sich sein Verhalten diesmal nicht wieder gefallen lassen und stellte ihn zur Rede. Sie machte ihm Vorwürfe und schrie ihn an, als er keine Anstalten machte, seine Jacke wegzulegen und bei ihr zu bleiben. Eduardo verstand kein Wort, spürte aber, dass sie wütend war und dass es ihr nicht gefiel, wie er sich benahm. Es war ihm egal. Er war endlich in Deutschland und nur das war es, was er von ihr wollte. Außer mit Angela hatte er noch mit zig anderen Frauen Kontakt gehabt, die alle darauf abzielten, ihn nach Deutschland zu bringen. Hier hatte er Freunde, die ihm den Einstieg in ein neues Leben ermöglichten. Sie hatten ihn heute zu einer Silvesterfeier eingeladen, auf die er sich sehr freute. Warum sollte er hier mit dieser alten, hässlichen Frau sitzen und sich langweilen, während draußen das Leben auf ihn wartete, nach dem er sich so lange gesehnt hatte? Ein unbekümmertes, fröhliches Leben war ihm bisher nicht vergönnt gewesen, dafür hatte er in seiner Heimat in zu bitterer Armut gelebt. Vor über zwei Jahren bekam er von einem Freund den Tipp, eine deutsche Frau zu suchen und sie so lange zu umgarnen, bis er sie heiraten konnte und ein unbekümmertes Leben in Deutschland führen könnte, oder zumindest das Flugticket bezahlt bekäme, das ihm den Weg in die Freiheit und in eine gute Zukunft ermöglichte. Er hatte damals zunächst gezweifelt, ob das möglich wäre. Dass es so einfach werden würde, mit fremden Frauen, die nicht einmal seine Sprache sprachen, in Kontakt zu kommen, hätte er nie für möglich gehalten. Die Liebesschwüre hatte er aus dem Internet und die brauchte er nur in die jeweiligen Profile zu kopieren. Die Frauen merkten nichts. Und wenn, dann gab es eben andere. Von da an konnte er ein besseres Leben führen, denn einige Frauen überwiesen ihm Geld, ohne dass er darum bitten musste. Wie leichtgläubig deutsche Frauen doch waren! Dass er die Frauen nur ausnutzte, war ihm gleichgültig. Er musste an sich denken und an niemand anderen. Eine Heirat mit Angela kam nicht in Frage, dafür hatte sie nicht genug Geld. Schon am Flughafen hatte er sofort ihre schäbige Kleidung bemerkt, vor allem der Mantel roch übel. Als er ihren Wagen sah, war ihm bewusst, dass er eine finanziell sorglose Zukunft mit Angela vergessen konnte. Er brauchte einen neuen Plan, den er mit Hilfe von Freunden gefasst hatte. In zwei Tagen kam ein Freund aus Landshut. Er wollte mit ihm gemeinsam versuchen, eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Ob das alles gutging, stand in den Sternen. Wenn nicht, hielt er sich illegal in diesem Land auf und musste sich etwas anderes überlegen. Er erwog eine Scheinehe, die er aber nicht gedachte, mit Angela einzugehen. Ja, sie hatte ihm das Ticket besorgt und in den letzten zwei Jahren immer wieder Kleinbeträge überwiesen, wofür er ihr dankbar war. Aber für eine Scheinehe wollte er sich doch etwas Hübscheres und vor allem etwas Reicheres suchen. Er hatte gesehen, wie schön deutsche Frauen sind, von denen ihn viele angelächelt hatten. Ein eindeutiges Zeichen für ihn, dass er viele Deutsche haben konnte, wenn er wollte. Warum sollte er sich dann mit Angela abgeben? Nein, sie kam für ihn nicht in Frage.

Angela schrie immer lauter, ihre Stimme überschlug sich. Eduardo hatte genug von ihren Vorhaltungen, denn die Fratze der hässlichen Frau wurde für ihn unerträglich. Noch während sie ihn anschrie ging er ins Schlafzimmer und packte seine Tasche. Als Angela begriff, was hier gerade passierte, verwandelte sich ihre Enttäuschung in blanken Hass. Sie schlug wie von Sinnen auf ihn ein. Eduardo wehrte sich nicht, denn er schlug keine Frauen. Die Schläge schmerzten. Als er trotzdem seine Tasche nahm und an ihr vorbeiging, drehte sie völlig durch. Sie griff nach der schweren Engelsfigur auf der Anrichte im Flur und folgte ihm – sie holte aus und schlug zu. Eduardo fiel einfach um. Als sie begriff, was sie getan hatte, weinte sie. Sie setzte sich zu Eduardo auf den Boden und nahm seinen Kopf auf ihren Schoß. Dass er blutete, merke sie nicht. Sie streichelte ihn und weinte, zu mehr war sie nicht fähig. Sie hatte ihn umgebracht.

Es war dunkel geworden, als sie begriff, dass sie etwas tun musste. Eduardo durfte nicht hierbleiben. Wenn man ihn hier finden würde, würde man sie verurteilen und für den Rest ihres Lebens einsperren. Das wollte sie unter keinen Umständen! Sie hatte Filme mit Gefängnissen gesehen. Das waren dunkle, dreckige Löcher, in denen die schwersten Verbrecher eingesperrt waren, zu denen sie nicht gehörte. Nein, sie wollte mit dem Toten nichts mehr zu tun haben, die Leiche musste weg. Aber wie sollte sie das anstellen? Allein schaffte sie das niemals, dafür war sie nicht kräftig genug. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wohin sie die Leiche bringen sollte. In ihrer Panik rief sie ihren Cousin an. Er war Polizist und er wusste, was zu tun war.

Christian Pölz wurde schlecht, als er ihre zitternde Stimme hörte.

„Was ist passiert?“

„Er ist tot. Es war ein Unfall, du musst mir glauben!“

„Beruhige dich, Angela! Was ist passiert?“

„Eduardo ist tot. Er wollte weg und wir haben uns gestritten. Ich wollte das nicht, das war ein Unfall!“, schrie sie hysterisch. „Ich will nicht ins Gefängnis, Christian!“

„Du musst die Polizei rufen, Angela! Erklär den Kollegen, was passiert ist. Wenn es ein Unfall war, hast du nichts zu befürchten.“ Christian Pölz versuchte, der aufgebrachten Frau ganz ruhig zu erklären, was sie zu tun hatte, auch wenn er nicht verstand, was eigentlich passiert war. „Reiß dich zusammen und ruf die Polizei“, wiederholte er.

„Man wird mich einsperren! Ich werde ins Gefängnis kommen und nie wieder rauskommen! Du musst mir helfen, Christian, das bist du mir schuldig!“

„Was meinst du damit?“

„Dein Vater hat meine Eltern mit in den Ruin gerissen. Ohne deinen Vater wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Du bist mir das schuldig, hörst du? Du musst mir helfen!“

Angela spielte die Trumpfkarte aus, die ihn direkt traf. Ja, er war ihr das schuldig, auch wenn es ihm widerstrebte, vor allem als Polizist. Trotzdem fühlte er sich verpflichtet, ihr zu helfen.

„Unternimm nichts und warte auf mich.“

„Du willst mir wirklich helfen? Ohne Polizei?“

„Ja. Ich bin gleich bei dir.“

Christian war leichenblass geworden. Für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, doch die Kollegen zu rufen, verwarf das dann wieder. Angela war Familie und hatte absolut Recht mit dem, was sie sagte. Sie hatte es nicht leicht gehabt, woran vor allem sein Vater Schuld hatte, dessen waghalsigen Geschäfte er ihm auch über den Tod hinaus nicht verzieh. Hätte er sich nicht verspekuliert, wäre Angelas Familie nicht in den Ruin getrieben worden. Wenn es seinen Vater und diese riskanten Geschäfte nicht gegeben hätte, wäre vieles anders gelaufen, aber so war es nun mal, daran konnte er nichts mehr ändern. Christian schämte sich auch heute noch für seinen Vater und fühlte sich jetzt dazu verpflichtet, seiner Cousine zu helfen. Der fremde Mann aus Brasilien war jetzt tot. Dass das ein Unfall war, glaubte er seiner Cousine. Sie war kein gewalttätiger Mensch, sondern eher sanft und gutmütig, vielleicht sogar naiv. Eine Mörderin war sie auf keinen Fall, daran wollte er nicht glauben. Was sollte er jetzt tun? Christian atmete tief durch und versuchte, sich zu konzentrieren. Wer wusste von Eduardo? Wer würde ihn vermissen? Fragen, die er mit Angela später klären musste. Die Leiche musste weg, und zwar für immer. Aber wie sollte er das anstellen?

Christian begann zu zittern und mahnte sich zur Ruhe. Er durfte kein Risiko eingehen und keinen Fehler machten. Eine Identifizierung der Leiche musste er verhindern. Aber wie? Er trank einen Schnaps. Ganz langsam begann er, die Situation nüchtern zu betrachten. Der Brasilianer war tot – wie und warum war jetzt nicht wichtig. Die Leiche musste aus Angelas Wohnung verschwinden und durfte nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden. Er erinnerte sich an einen Fall vor einigen Jahren, als es eine Leiche in einem ausgebrannten Wagen gab, die bis heute noch nicht identifiziert worden war. Das war es! Es gab noch den alten Wagen seiner verstorbenen Mutter, den er dafür verwenden konnte. Er verließ die Wohnung, rannte zur Garage und schloss sofort die Tür, denn auf die neugierigen Blicke seiner Nachbarn konnte er gerne verzichten. Zuerst musste er sich vergewissern, dass der Wagen nach der langen Standzeit ansprang. Nach einigen Versuchen hatte er Glück. Sofort schaltete er den Motor wieder aus, schließlich wollte er hier in der geschlossenen Garage nicht draufgehen. Dann entfernte er die Fahrgestellnummer und schraubte die Nummernschilder ab. Große Sorgfalt brauchte er nicht walten zu lassen, schließlich würde der Wagen demnächst in Flammen aufgehen. Er öffnete die Garagentür und setzte sich hinters Steuer. Die Gedanken kreisten um die Leiche. Wenn es stimmte, dass niemand Eduardo kannte und vermutlich auch niemand vermisste, musste er sicher gehen, dass die Leiche nicht anhand des Zahnschemas identifiziert werden konnte. Das konnte er nur verhindern, indem er der Leiche in den Mund schoss. Ob er das überhaupt fertigbrachte? Darüber musste er sich später Gedanken machen. Seine Dienstwaffe konnte er dafür nicht verwenden, das war klar. Dann fiel ihm die alte Waffe seines Großvaters ein. Ob die noch funktionierte? Das musste er riskieren. Er rannte zurück in die Wohnung und nahm die alte Waffe an sich. Sie war nach all den Jahren immer noch geladen, was ihn bisher nicht interessiert hatte. Dann hörte er mehrere Schüsse – das waren Silvesterknaller. Er sah auf die Uhr: kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Er trat auf den kleinen Balkon und hörte die Böllerschüsse, die von mehreren Kindern unter grölendem Lachen gezündet wurden. Christian Pölz sah die Waffe an. Ob er es wagen konnte? Warum nicht! Er löschte das Licht in der Wohnung, niemand sollte ihn sehen. Dann legte er an und schoss in die Luft. Ein ohrenbetäubender Lärm machte sich breit. Er wartete einen Moment, dann öffnete sich ein Fenster im Erdgeschoss. Der alte Franzl streckte wieder mal seine Nase raus! Christian verharrte und wartete, was passierte. Zu seiner Überraschung machte der Alte das Fenster wieder zu und nichts geschah. Die Waffe funktionierte – das war alles, was er testen wollte. Jetzt musste er dringend los, denn er traute Angela zu, dass sie in ihrer Panik Dummheiten machte. Unterwegs bemerkte er die Tankanzeige. Verdammt! Es war nicht genug Sprit im Tank! Er musste noch einen Umweg über eine Tankstelle machen, was zusätzlich Zeit kostete. Dass es mittlerweile Mitternacht und somit Silvester war, war Christian egal. Um ihn herum wurden Böller und Raketen gezündet, viele bunte Lichter erhellten den Himmel. Das alles ließ ihn kalt. Christian wusste, welche Tankstelle geöffnet hatte. Nachdem er getankt hatte, kaufte er drei Kanister und befüllte auch diese. Dass er beim Bezahlen der üppigen Rechnung von einem angetrunkenen Mann mit Prosit Neujahr begrüßt wurde, nahm er zur Kenntnis, erwiderte den Gruß aber nicht. Christian war mit seinen Gedanken längst bei dem, was vor ihm lag.

Derweil saß Angela auf der Couch und nagte an ihren Fingernägeln. Beinahe jede Minute sah sie auf die Uhr. Wo war Christian? Über Eduardos Gesicht hatte sie ein Geschirrtuch gelegt, sie konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen. Die Leiche musste aus ihrer Wohnung verschwinden, und zwar schnell. Sie wusste nicht, wie lange sie die Situation noch aushalten konnte und nahm Beruhigungsmittel, die nicht wirkten. Was würde passieren, wenn ihr Cousin nicht käme? Was sollte sie dann machen? Sie selbst war zu schwach dafür, den Körper zu entsorgen, sie konnte ihn ja noch nicht einmal ziehen. Wie lange es dauern würde, bis die Polizei hier wäre? Welche Strafe hatte sie zu erwarten?

Sie hatte längst keine Fingernägel mehr, auf denen sie herumkauen konnte, als es endlich klingelte.

„Wo bleibst du so lange?“, lief sie Christian völlig aufgelöst entgegen.

Ihr Cousin kümmerte sich erst um die Leiche. Er fühlte den Puls – Eduardo war tatsächlich tot. Er bemerkte die Kopfwunde und nahm an, dass der Mann unglücklich gestürzt war.

„Du musst mir glauben, dass das ein Unfall war. Eduardo wollte gehen und das konnte ich nicht….“

„Später, Angela, für Erklärungen haben wir jetzt keine Zeit. Erst kümmern wir uns um die Leiche. Einverstanden?“

Sie nickte nur. Sie war völlig auf ihren Cousin fokussiert, da sie keine Ahnung hatte, was er vorhatte. Sie sah zu, wie Christian den großen, schweren Mann auf die Schulter nahm.

„Du willst einfach mit ihm rausspazieren? Spinnst du?“, rief sie panisch.

„Zieh ihm meine Mütze auf, los!“, keuchte Christian unter der Last.

Angela tat, was ihr Cousin von ihr verlangte und zog Eduardo die Wollmütze tief ins Gesicht.

„Und jetzt? Was machst du mit ihm?“

„Mach die Tür auf!“

„Du kannst doch nicht…“

„Es ist Silvester. Falls mich jemand sieht, bringe ich einen Betrunkenen nach Hause.“

„Und was machst du mit ihm? Wo bringst du ihn hin?“

„Später. Ist das seine Tasche?“

„Ja.“

„Gib sie mir. Wenn du noch etwas von ihm findest, verbrenne es. Warte hier auf mich, dann können wir in Ruhe reden.“

Während Angela wartete, fiel ihr auf einmal Lisbeth ein! Sie hatte Eduardo gesehen! Die Frau war die Pest und eine Ratschen, wie sie im Buche stand. Lisbeth!

Angela wurde panisch. Was sollte sie tun? Sie wusste, wo die Frau wohnte, das war nur zwei Straßen entfernt in der Gutenbergstraße. Sie musste die Frau suchen und sie für immer zum Schweigen bringen, denn sie war ein zu großes Risiko. Wie in Trance zog Angela ihren Mantel an. Dann öffnete sie die Schublade der alten Anrichte und nahm das Jagdmesser ihres Vaters an sich, das er damals als Hobbyjäger oft benutzt hatte. Sie zog es aus der Scheide und besah es sich. Der Stahl glänzte nach all den Jahren immer noch, ihr Vater hatte es immer gut gepflegt. Das war genau das richtige Werkzeug für ihr Vorhaben. Wenn man damit Tiere erlegen konnte, dann auch die dicke Lisbeth.

In der Gutenbergstraße ging es hoch her. Viele Familien schienen gemeinsam zu feiern und bevölkerten die Straße. In zwei Tonnen brannte Feuer, darum standen einige Personen und wärmten sich. Wo war die dicke Lisbeth? War sie hier überhaupt dabei und feierte mit? Angela nahm es an und suchte nach der verhassten Frau. So, wie sie Lisbeth einschätzte, war sie nicht weit vom Essen entfernt, deshalb steuerte sie auf einen Carport zu, von dem aus ihr ein verführerischer Geruch entgegenschlug. Wenn Lisbeth ebenfalls hier feierte, dann hielt sie sich sicher in der Nähe des Essens auf.

Tatsächlich fand sie die Frau, nach der sie suchte, in der Nähe des Grills und einer Art Buffet. Lisbeth saß auf einer Bank und unterhielt sich mit einigen Frauen, dabei lachte sie laut. In ihrer Hand hielt sie eine Sektflasche, vor ihr stand ein Teller mit Essen. Typisch Lisbeth!

Angela musste warten. Die Minuten vergingen und kamen ihr wie Stunden vor. Endlich stand Lisbeth auf und stellte die Sektflasche auf den Tisch.

„Ich muss mal für kleine Mädchen!“, rief sie lachend. Angela musste schmunzeln, denn Lisbeth war weit davon entfernt, als kleines Mädchen bezeichnet zu werden. Gab es endlich die Möglichkeit, dieses gehässige Weib für immer zu beseitigen? Sie folgte Lisbeth, die nicht nach Hause ging, sondern sich in einen der Gärten schlich. Auf dem großen Türschild stand Seemann – so hieß Lisbeth nicht mit Nachnamen, sie hieß Roschinsky. Angela schüttelte den Kopf. Die dicke Lisbeth pinkelte doch tatsächlich in den Garten eines Nachbarn!

Schritt für Schritt kam Angela ihrem Ziel näher. Sie beobachtete, wie Lisbeth die Hose runterzog. Den dicken Hintern vor Augen nahm Angela all ihren Mut zusammen. Sie umklammerte das Jagdmesser und stach mehrfach in den Rücken der Frau. Die Wut über die Demütigungen, Unverschämtheiten und Sticheleien dieser Frau entlud sich. Sie achtete längst nicht mehr darauf, wohin sie stach. Wie oft sie zugestochen hatte, wusste sie nicht. Irgendwann hörte sie auf, als Lisbeth schon längst zur Seite gekippt war. War sie tot? Mit dem Fuß stupste sie die Frau an, dann trat sie heftig zu – Lisbeth rührte sich nicht mehr.

Das Jagdmesser nahm sie mit. Zum einen, weil es ihrem Vater gehört hatte. Und zum anderen, weil sie zu viele Filme gesehen hatte. Angela wusste, dass viele sie für dumm hielten, aber ganz so dumm war sie dann doch nicht, um am Tatort ihre Spuren zu hinterlassen. Die Polizei würde niemals die Tatwaffe finden – und sie würde auch niemals auf sie als Täterin kommen. Ob sie Christian davon erzählen sollte? Nein, warum sollte sie?

DIE LEICHE MUSS WEG

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