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30.12. Vormittag, Polizeipräsidium Mühldorf

„Der Urlaub ist für alle gestrichen, es gibt keine Ausnahmen.“ Die Ansage des Mühldorfer Polizeichefs Rudolf Krohmer stieß nicht gerade auf Gegenliebe. Einige Kriminalbeamte hatten bereits Pläne für den bevorstehenden Jahreswechsel, die sie jetzt vergessen konnten. Krohmer hatte gerade verkündet, dass Informationen darüber vorlagen, dass es in der Silvesternacht auf dem Mühldorfer Stadtplatz während einer organisierten Silvesterparty zu Ausschreitungen kommen sollte.

„Sind die Informationen überhaupt sicher?“, maulte der vierundfünfzigjährige Leo Schwartz, der sich ganz besonders auf die freien Tage mit seiner Verlobten Sabine Kofler gefreut hatte. Sie hatten sich seit drei Wochen nicht gesehen und er musste auch die zurückliegenden Weihnachtstage ohne sie verbringen. Sabine arbeitete als freie Journalistin und hatte einen Job in Saudi-Arabien angenommen, der sie sehr interessierte. Leo war sauer gewesen, dass sie ihre Arbeit dem Privatleben vorzog, aber er akzeptierte ihre Entscheidung – auch, weil er als verständnisvoller Partner bei ihr punkten wollte. Wie stünde er denn da, wenn er auf das Privatleben pochte und dabei selbst durch seinen Job immer wieder ausgebremst wurde?

„Auf das, was ich heute vom BND übermittelt bekam, können wir uns absolut verlassen. Der Mühldorfer Stadtplatz steht im Fokus einer Gruppierung, die nicht dafür bekannt ist, dass sie nur Flugblätter verteilt. Die Mitglieder der Blauen Armee treten in letzter Zeit immer aggressiver auf. Diese Gruppe ist erst seit wenigen Jahren bekannt. Anfangs hat man diese Leute belächelt, aber das ist nach den letzten Aktionen vorbei.“

„Blaue Armee? Sind das Polen?“, wollte der achtundfünfzigjährige Hans Hiebler wissen, der auch heute trotz des schlechten Wetters wieder aussah, als würde er sich im Süden aufhalten. Und ihn umgab wieder ein betörender Herrenduft, der neu sein musste und vor allem Leo, der neben ihm saß, die Luft zum Atmen nahm.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Leo.

„Hast du im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst? Die Blaue Armee hat sich aus polnischen Männern in Frankreich in der Zeit des ersten Weltkriegs gebildet.“

„Man kann ja nicht alles wissen“, maulte Leo, der noch nie etwas von dieser Armee gehört hatte.

„Bitte, meine Herren, kommen wir auf den Punkt zurück. Über die Mitglieder ist nicht viel bekannt, die Kollegen beim BND arbeiten daran“, sagte Krohmer, dem die Nationalität dieser Gruppierung völlig egal war. Es würde Unruhen in seinem geliebten Mühldorf geben, die er keinesfalls duldete – ganz egal von wem auch immer. „Wir werden diese Leute gebührend in Empfang nehmen und dafür sorgen, dass Ruhe und Ordnung herrschen.“ Krohmer schaltete den Projektor ein und gab den Plan bekannt, den er während der Nacht ausgearbeitet hatte. „Insgesamt werden siebzig Polizisten eingesetzt, die sich vor der geplanten Silvesterfeier einfinden und ihre Plätze einnehmen werden. Dadurch werden Gäste abgewiesen werden müssen, was uns sehr entgegen kommt. Vielleicht sind sogar einige Mitglieder der Blauen Armee darunter, was sicher nicht schadet. Die jeweils Ihnen zugewiesenen Kollegen werden von Ihnen an den strategischen Punkten platziert, wobei das Hauptaugenmerk auf die beiden Eingangsbereiche und den damit verbundenen Kontrollen gelegt wird. Der Rest mischt sich unter die Partygäste. Dass keine Uniformen getragen werden, versteht sich von selbst. Alle Polizisten geben sich als normale Feiernde aus.“

„Die Abgewiesenen werden nicht begeistert sein, zumal die Karten schon lange ausverkauft sind.“ Die Leiterin der Mordkommission, Tatjana Struck, meldete sich zu Wort. Der Einsatz zu Silvester war ihr gleichgültig, es war ein Datum wie jedes andere auch.

„Das müssen wir in Kauf nehmen. Sie wissen, was zu tun ist. Sobald Ihnen irgendjemand verdächtig vorkommt, nehmen Sie ihn fest.“

„Ohne ausreichenden Grund? Eine bloße Verdächtigung reicht aus?“, hakte Tatjana nach.

„Unter diesen Umständen ja. Jede einzelne Festnahme wird von mir abgesegnet.“

„Donnerwetter! Hoffentlich nimmt das nicht überhand. Wo sollen wir mit den Leuten hin? In unseren vier Zellen ist nicht allzu viel Platz.“ Tatjana sah in viele ratlose Gesichter, denn alle wussten, dass die Arrestzellen, die sich im Keller des Polizeigebäudes befanden, nur für wenige Personen ausgelegt waren.

„Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist. Machen Sie sich an die Arbeit. Instruieren Sie alle Kollegen und sehen Sie zu, dass Sie die Lage im Griff behalten. Ich wünsche Ihnen viel Glück!“ Krohmer fühlte sich hundeelend. Er hatte keine Ahnung, was genau auf ihn zukam und das gefiel ihm überhaupt nicht. Es gab noch nicht viele Informationen über diese Blaue Armee. Auch darüber, was genau diese Leute vorhatten, tappte man völlig im Dunkeln. Seit dem gestrigen Telefonat am späten Abend mit Theo Dinzinger vom BND hatte er Magenschmerzen. Er spürte, dass diese Aufgabe eigentlich zu groß für ihn und seine Polizei war. Er hatte Verstärkung angefordert, die ihm aber aufgrund des besonderen Datums nicht bewilligt wurde. Nur die Altöttinger Kollegen hatten Unterstützung zugesagt. Jede andere Polizeidienststelle wollte im jeweils eigenen Revier für Ordnung sorgen. „Noch Fragen?“, wandte er sich an die Kollegen.

„Ja. Wann kommt endlich der längst versprochene Kollege, der Werner ersetzten soll?“ Leo war nicht scharf auf einen neuen Kollegen, aber Verstärkung würde sehr guttun.

„Habe ich Ihnen das noch nicht mitgeteilt? Die Verstärkung tritt am 1. Januar den Dienst an. Bis dahin müssen Sie noch ohne einen vierten Kollegen auskommen.“

„Um wen handelt es sich? Gibt es nähere Informationen über den Mann?“ Auch Hans war neugierig.

„Ich habe nicht gesagt, dass es sich um einen Mann handelt, ich sprach nur von einer Verstärkung, über die mir noch keine näheren Informationen vorliegen. Wir werden abwarten müssen. In zwei Tagen lernen wir die Kollegin oder den Kollegen kennen.“ Krohmer wusste tatsächlich selbst noch nicht genau, um wen es sich handelte. Nur der Name Nußbaumer war ihm bekannt, mehr nicht. Er hatte einige Quellen angezapft, erfuhr aber trotzdem keine weiteren Details. Das war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise hatte er als Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf immer alle Informationen auf dem Tisch. Aber diesmal nicht. Ob das an Weihnachten und der damit verbundenen Urlaubszeit lag? Im Grunde genommen war ihm das Geschlecht und nähere Einzelheiten egal. Ihm war nur wichtig, dass sich der oder die Neue schnell ins Team einfügte.

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