Читать книгу DIE LEICHE MUSS WEG - Irene Dorfner - Страница 5
3.
ОглавлениеZur selben Zeit in München
„Warum Mühldorf? Warum dieses kleine Kaff?“ Der neunzehnjährige Severin Torka hatte all seinen Mut zusammengenommen und war aufgestanden, um diese Frage, die viele der Kameraden beschäftigte, zu stellen. Charly Eckmann mochte keine Widerworte. Und er hasste es, wenn man an seinen Entscheidungen zweifelte.
Charly sah seinen Weggefährten an. Jedem anderen hätte er diese Unverschämtheit nicht durchgehen lassen, aber ihm schon. Er hatte eine Schwäche für Severin Torka, und vor allem für dessen Mutter.
„Denkt doch nach, Männer! In einer Kleinstadt werden wir DIE Schlagzeile werden. Die Zeitungen werden voll von unserem Auftritt sein, die Medien werden sich überschlagen. Ich habe eine Überraschung für euch, die in Mühldorf während unseres Aufenthaltes enthüllt wird. Ihr werdet staunen! Sobald wir zurück sind, wird ein Statement veröffentlicht werden, mit dem wir uns ausführlich äußern werden. Könnt ihr euch vorstellen, wie wir auf einen Schlag bekannt werden? Würden wir in München oder Nürnberg zuschlagen, würde man von uns kaum Notiz nehmen. Noch Fragen?“
Severin Torka fand es trotzdem immer noch dämlich, in diesem kleinen Ort Unruhe zu verbreiten und die geplanten Aktionen durchzuführen. Er zweifelte auch daran, dass man ihre Aktionen überhaupt in dem gewünschten Rahmen zur Kenntnis nehmen würde. Nein, seine Zweifel waren noch nicht ausgeräumt. Er sah seinen Kameraden Wolf Perlinger an. Die beiden hatten sich angefreundet und unternahmen sehr viel gemeinsam auch außerhalb der Gruppe, was niemand wusste und was nicht gerne gesehen war. Wolf nickte ihm aufmunternd zu. Sie hatten im Vorfeld beschlossen, den Vorstand umzustimmen und die Aktion in der Silvesternacht in einer Großstadt durchzuführen. Das konnte nur Severin machen, alle anderen, auch er selbst, trauten sich nicht. Charly Eckmann konnte sehr ungehalten darauf reagieren, wenn man ihn kritisierte. Severin Torka blieb stehen.
„Bitte überdenke deine Entscheidung, Charly. Du hast selbst gesagt, dass seit geraumer Zeit Informationen durchsickern. Ich habe mir den Mühldorfer Stadtplatz online angesehen. Wenn uns die Polizei dort erwartet, wird das kein Zuckerschlecken. Es gibt kaum Fluchtwege. Außerdem befürchte ich, dass alle Aktionen sinnlos verpuffen, dafür steckt zu viel Arbeit dahinter. Lass uns doch…“
„Genug! Ich habe entschieden und dabei bleibt es!“ Charly Eckmann brüllte. Noch während Severin sprach, stieg sein Wutpegel mehr und mehr an.
Severin setzte sich. Viele beobachteten ihn und wussten, dass jetzt das letzte Wort gesprochen war. Schade, denn sie hatten sich von dieser bevorstehenden Aktion sehr viel versprochen. Viele Stunden hatten sie zusammengesessen und alle Vorschläge diskutiert, die von allen Seiten vorgebracht wurden, bis sie sich schließlich geeinigt hatten. Die Mehrzahl der Kameraden war enttäuscht, denn ihr Auftritt würden in dem Kaff sicher untergehen und nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Wer würde sich denn für Informationen aus einem nichtssagenden Dorf interessieren? Und was würde passieren, wenn dort tatsächlich die Polizei auf sie wartete?
Charly Eckmann spürte die Unruhe und beruhigte seine Kameraden, wofür er die richtigen Worte fand. Charly war ein äußerst begabter Redner, der seine Zuhörer schnell in den Bann zog. Auch deshalb war er der perfekte Anführer, auch wenn seine Entscheidungen, wie jetzt auch, angezweifelt wurden.
„Ich wollte euch mit dieser Nachricht erst im neuen Jahr überraschen, aber jetzt ist die Zeit gekommen, um euch zu informieren: In einer Woche bekommen wir Zuwachs: zwei weitere Gruppen schließen sich uns an, wodurch unsere Mitgliederzahl sprunghaft ansteigen wird.“ Mit einem breiten Grinsen strahlte er die Kameraden an.
„Wer ist das? Um wen geht es dabei?“, wollten einige wissen.
„Das sind zum einen Mitglieder der aufgelösten Höllenhunde, sowie die Nationalfront, die euch sicher ein Begriff ist.“ Diese Information saß. Charly Eckmann genoss diesen Moment der Bewunderung, die ihm entgegenschlug. Sofort waren alle Feuer und Flamme. Niemand hätte je damit gerechnet, dass die Blaue Armee binnen kürzester Zeit so groß werden würde. Seit Charly zum Vorsitzenden gewählt wurde, wuchs die bis dahin unbedeutende Gruppe mehr und mehr an. Das lag auch an den organisierten Aktivitäten, mit denen man große Aufmerksamkeit erlangte. Längst waren sie nicht mehr die Gruppe durchgeknallter, verwahrloster Männer, sondern waren durchstrukturiert und man begann, in manchen Kreisen sogar mit Achtung von ihnen zu sprechen. Der Aufmarsch und die Übergriffe auf das Asylantenheim in München waren Erfolge gewesen, über die man immer noch sprach.
„Wir treffen uns morgen um elf Uhr hier, dann fahren wir gemeinsam mit einem gemieteten Bus nach Mühldorf. Denkt daran, dass ihr alle sauber und ordentlich ausseht! Das wird ein Spaß werden, das verspreche ich euch. Und jetzt: Freibier für alle!“
Das ließen sich die Kameraden nicht zweimal sagen.
Severin wartete, bis alle den Saal verlassen hatten.
„Entschuldige“, sagte er zu Charly, den er sehr bewunderte. Severin kannte seinen eigenen Vater nicht. Der war abgehauen und hatte seine schwangere Mutter einfach sitzenlassen. Seit Charly vor drei Jahren in sein Leben trat, hatte er endlich die Vaterfigur, nach der er sich immer gesehnt hatte. Auch um ihm zu gefallen mischte er immer ganz vorn mit und wurde immer mutiger. Längst war er nicht mehr der junge, verschüchterte Typ, dem man nichts zutraute – und das hatte er nur Charly zu verdanken.
„Schon gut. Du hattest mit deinem Einwand nicht ganz unrecht. Ich habe die Aktion genau durchdacht und habe mich gezielt für Mühldorf entschieden. Aber es stimmt, dass bezüglich des Verräters ein gewisses Risiko einkalkuliert werden muss. Wir müssen uns um die Ratte kümmern, die uns verpfeift. Hast du einen Verdacht?“
„Nein.“
„Halt die Augen auf und gib mir Bescheid, wenn dir irgendetwas auffällt.“
„Mache ich.“
Charly klopfte dem Jungen auf die Schulter, auch wenn er ihm am liebsten einen Faustschlag verpasst hätte. Diese Unverschämtheit, ihn vor allen anderen zu kritisieren, durfte sich nicht wiederholen.
„Ich brauche die absolute Loyalität der Kameraden. Ohne die kann ich meine Arbeit nicht machen. Das verstehst du doch, oder?“
„Sicher!“
„Habe ich deine Loyalität? Vertraust du mir?“
„Absolut!“
„Warum stellst du mich dann vor allen bloß? Kannst du dir vorstellen, dass du damit meine Autorität untergräbst?“
„Das wollte ich nicht, bitte entschuldige. Ich vertraue dir blind und würde dir überall hin folgen, das weißt du doch!“
„Dann mach das nie wieder!“
Wolf Perlinger beobachtete das Gespräch zwischen den beiden. Er konnte erkennen, dass Charly Severin unter Druck setzte. Verdammt! Er hätte diesen labilen Typen nicht so bearbeiten dürfen! Ob er auch jetzt immer noch so vertrauensvoll alle Informationen weitergeben würde? Wolf spürte, dass er in Zukunft vorsichtiger sein musste. Nicht auszudenken, wenn herauskäme, dass er Informant und Mitarbeiter des BND war. Was dann mit ihm passieren würde, konnte er sich lebhaft vorstellen.
Während alle tranken und immer wieder auf den bevorstehenden Einsatz anstießen, hielt sich Charly Eckmann zurück. Er nippte immer nur an seinem Bier, das das einzige bleiben sollte. Er hatte keinen Schimmer, wer die Ratte war, die Informationen weitergab. Vielleicht hatte er Glück und derjenige würde sich durch hohen Alkoholeinfluss irgendwie verraten.
Wolf Perlinger spürte, was Charly vorhatte und nahm jede Bierflasche an, die ihm angeboten wurde. Er schaffte es, trotzdem nur zwei Bier zu trinken und den Eindruck zu vermitteln, dass er betrunken sei. Charly versuchte, jeden einzelnen auszuhorchen, hatte aber keinen Erfolg. Nach vier Stunden hatte er endlich genug und ging. Zuhause wartete die schöne Helen, die er nicht länger warten lassen wollte. Aber vorher hatte er aber noch ein wichtiges Telefonat zu erledigen.
„Ich habe die Kameraden informiert“, sagte Charly.
„Jetzt schon? War das nicht zu früh? Du weißt, dass es eine undichte Stelle gibt!“ Dominik Baumann, der Anführer der Nationalfront, war nicht begeistert.
„Es ging nicht anders, man hat die Aktion in Mühldorf in Frage gestellt.“
„Mühldorf ist genial, was gibt es daran zu kritisieren? Schwamm drüber. Halt die Augen auf, Charly. Viel Glück!“
„Danke. Wenn ich zurück bin, werden wir die weiteren Schritte besprechen. Hast du deine Leute informiert?“
„Natürlich nicht! Wie besprochen, halten wir Übungen im Gelände ab. Wofür die gut sind, weiß niemand – und dabei soll es auch bleiben.“ Dominik Baumann war kein Freund davon, Untergebene wie Freunde zu behandeln. Als ehemaliger Fremdenlegionär war er es gewohnt, dass einer die Befehle gab und andere diese ungefragt befolgten. Er hatte vor vier Monaten die Nationalfront an sich gerissen und seitdem versucht, diesen bunten Haufen zu ordentlichen Soldaten zu formen. Einige waren abgesprungen, da sie dem Drill nicht standhielten, dafür waren andere dazugekommen, die Baumann aus seiner aktiven Zeit als Fremdenlegionär kannte. Trotzdem waren sie nur wenige, die nichts ausrichten konnten. Gemeinsam mit der Blauen Armee sah das schon ganz anders aus. Die Gespräche mit Charly Eckmann waren sehr vielversprechend gewesen. Als es dann auch noch die Möglichkeit gab, die Höllenhunde zu gewinnen, wurden die Gespräche intensiver. Eckmann und Baumann begannen, Pläne zu schmieden, die sie gedachten, zeitnah in die Tat umzusetzen. Die Aktion auf dem Mühldorfer Stadtplatz war längst geplant und Charly bestand darauf, diese umzusetzen.
„Gut. Wenn ihr zurück seid, wird die Presse vor der Tür stehen, darum werde ich mich kümmern“, sagte Baumann, der gute Kontakte zu den Medien hatte. „Und während alle noch über Mühldorf sprechen, übernehmen wir den Bayerischen Landtag.“
Wolf Perlinger trat hinter dem Haus in der Sendlingerstraße hervor. Drinnen wurde kräftig gefeiert. In dem alten Haus war eine Schreinerwerkstatt untergebracht, der Besitzer Ludwig Wallinger war ein Freund von Charly. Sobald Feierabend war, konnten sie sich in den Kellerräumen der Werkstatt frei bewegen. Dort hatten sie sich einen Raum eingerichtet, in dem sie sich regelmäßig trafen. Niemand wusste davon. Eine geniale Tarnung, die auf Charlys Mist gewachsen war.
Wolf beobachtete, wie der Chef lange telefonierte und dann mit seinem alten Amischlitten davonfuhr. Dann nahm Wolf sein Handy.
„Die Aktion findet wie geplant in Mühldorf statt. Eckmann hat vorhin verkündet, dass die Blaue Armee anwächst. Mitglieder der Höllenhunde und der Nationalfront werden sich anschließen. Sie wissen, was das bedeutet.“
Theo Dinzinger atmete tief durch. Ja, er wusste, was das zu bedeuten hatte. Es trat genau das ein, was er befürchtet hatte: Die Blaue Armee wurde stärker und stärker.
„Noch etwas, Perlinger?“
„Nein. Ich fürchte, dass meine Tarnung demnächst auffliegt. Sie müssen mich hier rausholen.“
„Nein, das ist noch zu früh. Wir haben es geschafft, einen Maulwurf in die Blaue Armee einzuschleusen. Das ist Gold wert! Wir können jetzt nicht einfach aufhören, nicht jetzt. Halten Sie durch, Perlinger! Halten Sie die Augen auf und seien Sie wachsam. Gehen Sie um Gottes Willen kein Risiko ein! Melden Sie sich, wenn sich etwas Neues ergibt.“
Wolf legte auf und ging. Unterwegs warf er die Prepaidkarte seines Handys in irgendeinen Papierkorb. Nichts und niemand durfte ihn mit seinem Kontaktmann in Verbindung bringen. Zuhause hatte er unter den Dielenbrettern noch weitere Prepaidkarten versteckt, die er nach und nach aufbrauchte.
Wolf hatte nicht mitbekommen, dass er belauscht wurde. Severin stand während des Gesprächs in der Nähe und hatte Wortfetzen aufgeschnappt. War das möglich? Hatte er Wolf richtig verstanden? Er winkte ab und pisste gegen die Hauswand. Welchen Grund sollte Wolf haben, die Kameraden zu verraten? Nein, das konnte nicht sein. Er hatte sich sicher verhört, woran das Bier, von dem er viel zu viel trank, sicher schuld war. Severin ging zurück zu den Kameraden, die zu seiner Familie geworden waren. Hier fühlte er sich wohl, er wollte nirgendwo anders sein.