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BLOCKMALZZUCKERLN

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Den ganzen Winter hustete ich. Hilusschatten auf dem linken Lungenflügel. Ich durfte auch im Sommer kein Eis essen.

Als ich das erste Mal zur Erholung geschickt wurde, war ich knapp fünf. Tagelang strickte meine Mutter an einer langen roten Zipfelmütze für mich. Verschnörkelte Monogramme in allen Kleidungsstücken, R. K. Das letzte Wegstück gingen wir zu Fuß, meine Mutter und ich, bergauf. Mit jedem Schritt wuchsen meine Zweifel.

Den ganzen Vormittag saß ich in einer Ecke, festgeklammert an meine Puppe, meine Mutter war längst auf dem Heimweg. Die Schwestern ließen mich weinen, die fremden Kinder betrachteten mich aus der Ferne.

Wir schliefen in einer Veranda, die ringsum durchgehende Öffnungen ins Freie hatte, atmeten die kühle Waldluft ein. Die Betten standen in zwei langen Reihen, meine Nachbarin hieß Roswitha, wie ich. Drinnen trugen wir gestreifte Pyjamas, verbrachten viel Zeit im Bett, mussten auch tagsüber immer wieder ruhen. Die Decken steckten rundherum in der Matratze, so hatten wir wenig Bewegungsfreiheit. An den kalten Wintertagen brachten uns die Schwestern Wärmflaschen, flache, ovale Metallbehälter, in die heißes Wasser gefüllt und die oben mit einem goldglänzenden Drehverschluss zugeschraubt worden waren.

Untersuchungen gehörten zum Alltag. Danach saßen wir mit aufgekrempelten Ärmeln und warteten, dass die Einstichstelle zu bluten aufhörte.

Tagsüber waren wir viel draußen, unternahmen lange Spaziergänge oder spielten. In diesem Herbst lernte ich Kreisspiele, neue Lieder und Rad schlagen. Ich redete, lachte mit und tat, als wäre ich so wie alle.

Jede Woche schickten wir Karten nach Hause. Die Großen konnten schon schreiben, wir Kleinen zeichneten nur, die Schwestern erklärten die Bilder für unsere Eltern. Einmal malte ich auf eine Karte lauter Schlingen, große und kleine, wie ich es mir von den Schülerinnen abgeschaut hatte. Die machten sich lustig: Schreiben geht ganz anders. Wenn ich mich schämte, krümmte ich die Zehen in den Schuhen mit aller Kraft. Versuchte mich abzulenken. Später rollte ich lieber die Zunge im geschlossenen Mund nach hinten. Niemand sollte es bemerken.

Als ich kam, war Herbst. Gelborange. Wir aßen Äpfel mit so würzigem Geschmack, wie ich sie heute nirgends mehr finde. Die Wege säumten niedrige Hecken, an denen braune Blätter baumelten. Auf unseren Spaziergängen roch es nach feuchtem Laub, nach Rauch, der aus den Kaminen kam, nach Spätherbst. Langsam ertranken die Blätter in den Lacken. Es wurde Winter.

Beim Essen bestanden die Schwestern auf leergegessenen Tellern. Oft kam es vor, dass ich allein vor dem kalten Mittagessen saß, dass ich die Luft anhielt, um die Bissen nicht zu schmecken, sie nicht hinunterbrachte, weil mein Hals wie zugeschnürt war, dass ich kaute und kaute und das zähe Fleisch immer mehr wurde in meinem Mund. Ein Festtag, wenn es Grießkoch gab, mit Schokolade, Zimt und Zucker.

Einmal im Monat war Besuchssonntag, meine Eltern und die Oma kamen. Wir aßen im Dorfgasthaus Wiener Schnitzel. Ich erzählte, redete ununterbrochen, zeigte den Eltern meine Lieblingsplätze, meine Lieblingswege, die Welt war wieder in Ordnung. Bis zum nächsten Abschied.

Zu Weihnachten nähten die Schwestern jedem Mädchen ein Kleid, im ersten Jahr war es blau, ein Jahr später kariert, ich trug beide gern. In der Spielecke stand ein großer Christbaum. Den Braven brachten die Schwestern bunt eingewickelte Leckereien abends ans Bett. Gute Nacht. Und schlaf schön.

Daheim feierten wir Weihnachten noch einmal, ein zweites Mal Geschenke. Meine Schwester beneidete mich. Ich sang mit ihr die Lieder, zeigte ihr die neuen Spiele.

Im darauffolgenden Herbst, dem letzten vor der Schule, hielt der Bus mit den Wiener Kindern extra meinetwegen in St. Pölten, ich stieg ein und er brachte uns gemeinsam ins Heim.

Als Schulkind hustete ich nicht mehr, ich war geheilt.

Roswitha Schmit

Lippenstift und Notfalltropfen

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