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Totentanz um Götemitz

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Draußen, vor dem Krankenhaus, blickte Anneke in den dunklen Himmel. Sie eilte zu ihrem Wagen, der fast allein auf dem großen Parkplatz stand. Anneke fröstelte und zog aus ihrer Reisetasche eine leichte Jacke. Dabei schaute sie sich immer wieder ängstlich um, nichts war mehr sicher, schon gar nicht ein dunkler einsamer Parkplatz. Eine kühle Brise wehte hier auf der Anhöhe, und sie spürte deutlich die Müdigkeit und das tiefe Bedürfnis, endlich bei Alois sein zu wollen. Nur noch ausruhen und schlafen, das waren ihre Wünsche. Sicher hatte Alois den, zu ihrer Begrüßung, gefangenen Hecht schon an die Katzen verfüttert, oder alles alleine gegessen. Sie könnte, nach all dem was geschehen war, sowieso keinen Bissen herunterbekommen. Ein müder Blick auf ihr Handy zeigte, dass etliche Nachrichten von Freunden, die sie alle in den nächsten Tagen treffen wollten, gespeichert waren. Anneke stöhnte auf, so hatte sie sich ihre Heimkehr nicht vorgestellt. Erschöpft ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen. Morgen würde sie das Auto zur Spezialreinigung bringen. Oder doch nicht? Sollte nicht erst die Spurensuche nach Hinterlassenschaften des Täters suchen? Sie würde mit Susen Peters telefonieren. Anneke zog die Tür ihres Wagens zu und startete den Motor. Einen kurzen Moment überlegte sie, für welchen Weg sie sich entscheiden sollte. Es gab ja nur zwei Möglichkeiten, und beide waren um diese Uhrzeit düster und schmal. Anneke entschied sich, den Weg zurück über die B96 bis Samtens zu nehmen. Dort würde sie links in Richtung Poseritz abbiegen. Auch das war ein einsamer Weg, aber den Plattenweg hätte sie nicht mehr fahren können. Allerdings begegnete ihr um diese Zeit auch hier niemand. Unheimliches beschlich sie, als ihr bewusst wurde, dass der Täter noch irgendwo hier frei herumlief. Plötzlich fielen ihr die vielen gruseligen Geschichten, die ihr Onkel und die alten Dorfbewohner erzählt hatten, ein. Als sie an dem ehemaligen Gutshaus in Poseritz Hof vorbeifuhr, an diesem jämmerlich ergrauten Gebäude, von dessen einstiger Pracht nichts mehr geblieben war, nur noch das traurige Erinnern an das Ende der letzten Besitzer. Der Gutsherr hatte Anfang Mai 1945 auf Wunsch seine Frau und Frau von Gagern vom Gut Frankenthal erschossen, dann sich gerichtet. Seinem minderjährigen Sohn ließ er die Chance sich für Tod oder Leben zu entscheiden. Der Junge wollte weiterleben. Anneke schickte einen Gedanken des Bedauerns zu den vor dem Haus Verscharrten. Ob diese Geschichte überhaupt noch jemand von den jetzigen Bewohnern bewusst war? Täglich, wenn Menschen in oder aus dem Haus wollten, gingen sie über die Toten. Warum hatte man stattdessen die Verstorbenen damals nicht auf dem Friedhof begraben? Sie würde Alois fragen. Danach bog Anneke rechts an der Molkerei in Richtung Datzow ab. Auch hier war es gespenstisch einsam auf dem schmalen Beton Weg. War es die Angst, die sie so schnell nicht wieder verlassen würde, die diese Einsamkeit gefährlich machte? Warum dachte sie gerade jetzt an ihre Eltern, die vor zwanzig Jahren in ihrem Trabi, als Anneke elf Jahre alt war, auf der Alleen Straße von Poseritz nach Gustow in einer scharfen Rechtskurve von einem rasenden Motorradfahrer geschnitten wurden, tödlich verunglückten? Bei diesen verschütteten Erinnerungen zog ein verdrängter Schmerz durch ihren gesamten Körper, und sie fragte sich, ob ihr Leben mit ihnen viel anders verlaufen wäre. Damals holte der unverheiratete Alois, der Bruder ihrer verstorbenen Mutter, das Mädchen zu sich nach Götemitz. Damit ersparte er ihr den Aufenthalt in einem staatlichen Kinderheim. Warum Alois nie geheiratet hatte, darüber sprach er nicht. Anneke liebte ihn so wie er war. Auch wegen seiner Geschichten die er erzählte, der vielen Zeit, die er mit ihr verbrachte und der schroffen Zuneigung, die nie aufdringlich war. Er konnte auch viel einstecken. Ihre Launen ertrug er mit großer Gelassenheit. Auch der Trauer um die Eltern stellte er nichts in den Weg, da musste sie durch. Er, Alois hatte ein gutes Verhältnis zum Tod, in welcher Form er auch auf die Menschen zukam, zum Schluss waren sie erlöst. So simpel war das für ihn. Seine eigene Furchtlosigkeit für diesen letzten Abschnitt des irdischen Daseins war auch auf Anneke abgefärbt, bis heute. Jetzt war ihr Vertrauen erschüttert. Als sie durch Datzow fuhr, fühlte sie sich etwas sicherer. Hier kannte sie fast jeden Einwohner, bis auf einige Zugezogenen. Die kamen meistens nur in den Ferien in ihre teuer hergerichteten Bauernhäuser, so wie Friedas Eltern es auch taten. Rügen Feeling spüren, nannten man das. Nun war Anneke eine von Rügen Weggezogene und in Graz eine Zugezogene. Sie hatte sich nie vorstellen können, die Insel eines Tages zu verlassen. Erst als sie von einer Urlauberin diesen Job als Empfangsdame in einem Familienhotel angeboten bekam, war sie mutig genug es auszuprobieren. Sie hatte die Vorstellung, für zwei bis drei Jahre Erfahrungen zu sammeln, um dann nach Rügen zurückzukehren, mit selbstsicheren Forderungen im Gepäck, was den nächsten Arbeitsplatz betraf. Aber es kam anders. Unerwartet schnell hatte sie sich an die österreichische Mentalität gewöhnt. Nun konnte sie sich vorstellen, in Graz zu bleiben. Als sie am Haus ihrer ehemaligen Flötenlehrerin vorbei fuhr, erhaschte sie im Licht ihrer Scheinwerfer noch einen kurzen Blick auf deren wundersamen Bauergarten. Die hohen Herbstastern rankten über den Zaun hinweg. Septemberblumen, nannte ihre Flötenlehrerin die blas lila blühenden Sternchenblüten. Immer noch dieselbe Pracht, registrierte Anneke. Gleichzeitig sprang eine alte Geschichte wie ein Spuk über den Gartenzaun in Annekes Gedächtnis zurück. War nicht der Ehemann der Flötenlehrerin, als junger Mann ermordet auf dem Feldweg zwischen Datzow und Götemitz, erst nach einem Tag aufgefunden worden? Ein nie geklärter Fall, der damals viel Aufsehen erregt hatte. Man munkelte, dass die Staatssicherheit ihre Finger im Spiel gehabt haben könnte, weil die Familie christlich sehr engagiert gewesen sei. Anneke schrie ihren Zorn auf die letzten Stunden in die Nacht. Was war das für ein schrecklicher Tag! Der Weg nach Hause gepflastert mit Erinnerung an Verstorbene, deren Lebensgeschichten längst verblichen waren. Totentanz um Götemitz, würde Alois sagen. Aber heute konnte sie nicht, wie üblich, darüber lachen.

Endlich sah sie die Stallungen nah beim Guts Park. Anneke bog um die Ecke, und atmete auf. Gott sein Dank hatte Alois das Außenlicht brennen lassen! Sie parkte das Auto ganz nah am Haus, als die Tür des Hauses sich öffnete und ihr Onkel ihr entgegenkam. Er nahm sie in seine Arme. Und Anneke spürte, dass seine Hände so groß wie Schaufeln, immer noch um ihren schlanken Körper reichten. Was für ein heimatliches Gefühl! Umfangen und in Sicherheit.


Susen Peters ermittelt

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