Читать книгу ein ungeklärter Mord - Iris Bleeck - Страница 11
Leben in Stettin
ОглавлениеMartin Groothe war ein spät geborenes Kind. Er meldete sich an, als seine Mutter, Margarete, mitten im Klimakterium, die Hoffnung auf ein eigenes Kind bereits aufgegeben hatte. Margaretes Äußeres war zierlich und unauffällig. Da sie in letzter Zeit oft kränkelte, erschien sie an manchen Tagen geradezu gebrechlich zu sein. Martin kümmerte sich, liebte sie, immer mit der Angst m Herzen, seine Mutter bald zu verlieren. Margarete empfand diese späte Liebe, die ihr durch den Sohn zuteilwurde, dankbar als Geschenk. Martins Vater Hermann Groothe, hatte ohne Leidenschaft, bereits vor dem Ersten Weltkrieg, eine Uniformschneiderei in Stettins bester Geschäftslage, in der Breiten Straße, übernommen.
Sein Wohlstand erlaubte es, eine komfortable Wohnung für seine Familie zu mieten, was er bei passender Gelegenheit gern erwähnte. Wenn man ihm zuhörte, entstand der Eindruck, dass er sich selbst vergessen hatte, in einer längst vergangenen Kaiserzeit. Er war ein Gestriger, dem das Laute des Nationalsozialismus zu denken gab. Groothes bewohnten die linke Wohnung einer mit floralem Gips-Muster verzierten Jugendstilvilla im Erdgeschoss. Deren Eingangstür schmückten bunte Glasfenster. Ihnen gegenüber Blockwart Ernst Müller, der seine braune Uniform nicht einmal am Sonntag ablegte, und täglich „Heil Hitler“ durch das Treppenhaus brüllte. Über Groothes wohnte die jüdische Familie Stern, ihnen gegenüber ein verbeamteter Junggeselle, Herr Hansen, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte.
Ein Übriggebliebener, wie seine Mutter stets betonte, wenn sie ihn besuchen kam, um nach dem Rechten zu sehen. Das hieß für sie, auf Spurensuche zu gehen, ob sich eine Frau in seiner Wohnung aufgehalten hatte. Sie scheute auch nicht davor zurück, sein Bett zu kontrollieren, um anschließend bei Margarete nachzufragen, ob ihr Sohn Damenbesuch empfangen hatte. Mit Missmut stellte sie fest, dass er sich nicht einmal mehr die Mühe machte, die ausgetrunkenen Weinflaschen vor ihr zu verstecken. Enttäuscht verließ sie jedes Mal das Haus. Nach diesen Besuchen befiel Margarete ein wenig die Angst, dass Martin eines Tages auch allein bleiben könnte, weil sie ihn zu stark an sich gebunden hatte. Samuel Stern unterrichtete bis 1935 als Musiklehrer am König- Wilhelm- Gymnasium. Das Entfernen aus dem Schuldienst und das Tragen des Judensterns brandmarkten ihn täglich. Seit dieser Zeit fragten sich Groothes oft, wovon die Sterns jetzt wohl leben. Man sah die jüdische Familie kaum noch. Nur manchmal hörten Groothes, dass jemand durch das Haus huschte. So leise, als sei es eine falsche Wahrnehmung. Für Stern war es in dieser Zeit ein Segen, dass Margaretes Tun von Warmherzigkeit bestimmt wurde. Vorsichtig versuchte sie manchmal, deren Not zu lindern. Da ihr das Geräusch der knarrenden Bretter über ihr vertraut war, wusste sie, gleich würden Sterns an ihrer Tür vorbeigehen. Leise, sorgsam darauf achtend, dass Ernst Müller nicht im Haus war, öffnete sie dann die Tür einen Spalt breit, zog die fast Unsichtbaren in die Wohnstube und gab ihnen zu essen. Deren Tochter Lisa, war 1941 erst elf Jahre alt, hatte aber längst die Regeln des sich Versteckens als überlebenswichtig verinnerlicht.
Da ihre Leidenschaft das Klavierspiel war, hatte der Großvater seiner Enkelin den Familienflügel, ein kostbares Instrument der Firma Blüthner, aus dem Jahre 1912, geschenkt. Aber seit Sterns aus der Gesellschaft gefallen waren, traute Lisa sich kaum noch zu üben. Oft genug geschah es, dass Ernst Müller an ihre Tür schlug und schrie: „Ruhe, ihr Judenpack.“ Nachdem Samuel Stern das Instrument Groothes als Geschenk angeboten hatte, kaufte Hermann Groothe den Flügel für Martin. Stern war es wichtig, das Erbstück in guten Händen zu wissen: „Wer weiß, was mit uns geschehen wird“, seufzte er. Hermann Groothe hätte dieses wertvolle Instrument nicht geschenkt annehmen können. Es widerstrebte ihm, in der Schuld eines anderen zu stehen. Er ging an den kunstvoll verzierten Herrensekretär, öffnete ein Geheimfach, nahm ein Bündel Geld heraus und gab es Samuel Stern: „Sie werden es gut gebrauchen können. Nun, da Sie nicht mehr arbeiten dürfen. Vielleicht reicht es für eine Auswanderung.“ Samuel Stern hob nur kurz seine Schultern, ließ sie kraftlos sinken: „Wer weiß das schon“. War seine Antwort. Hermann Groothe schwieg betroffen. Er ahnte längst, dass Juden in diesem Land keine Chance mehr hatten. Das Mädchen Lisa spielte gelegentlich mit Martin vierhändig. Es war eine der wenigen Freuden, die sie in ihrem abgeschiedenen Leben wahrnehmen konnte. Martin war 1941 achtzehn Jahre alt, und Lisa vergötterte ihn mit kindlicher Schwärmerei. Manchmal bat sie ihn, dass er auf sie warten solle, bis sie erwachsen sei. Nach Lisas Vorstellung würden beide heiraten, viele Kinder bekommen und gemeinsam Konzerte geben. Immer setzte sie sein Einverständnis voraus, schließlich übte er Klavier mit ihr. Mehr Beweise brauchte das Mädchen in ihrem kindlichen Sein nicht. Es kam der Tag der alles verändern sollte. Gewittrige Luft machte Margaretes Kreislauf seit den Morgenstunden zu schaffen, sie fühlte sich mal wieder zum Sterben zu elend. Ernst Müller hatte nebenan eine lautstarke Auseinandersetzung mit seiner Frau, während Lisa wie ein Schatten durch das Haus huschte, und den Streit der Müllers nutzte, um zaghaft bei Groothes zu klopfen. Als Margarete die Tür öffnete, wischte sie sich verschämt mit einem kostbar umhäkelten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Es genierte sie, dass jemand Zeuge ihrer Schwäche wurde.
Auch Martin schien einen schlechten Tag zu haben. Er kam bedrückt aus der Schule. Heute hatte er erfahren, dass die Schüler die Reife- Prüfung vorziehen müssen. Ein Notabitur, damit die Jungs schneller an die Front geschickt werden konnten.
Für Martin aber barg, trotz des väterlichen Uniformgeschäftes, jede Form von Krieg etwas Verachtendes, Vernichtendes für Mensch und Kultur, in sich. Zuhause angekommen, warf er die Schultasche zu laut auf den Stuhl, wie Magarete fand. Das war nicht seine Art, irgendetwas Dramatisches musste geschehen sein. Sie schaute ihn fragend an, als es aus ihm herausplatzte: „Ich will nicht in den Krieg, das ist mir zuwider.“ „Mein Gott, mein Junge,“ rügte sie, dabei tippte sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf ihre Lippen, um ihm verstehen zu geben, sei leise, damit uns niemand hört. Lisa stellte sich ganz nah zu ihm, schaute ihn an: „Was meinst du, sollen wir unsere Sorgen mit Mendelssohn vertreiben?“ Sie machte sein Problem zum Allgemeingut, das gefiel Martin. Er nickte, und Lisa hüpfte schnell zum Flügel, klappte den Deckel auf, strich mit kindlicher Leichtigkeit über die Tasten, so dass Margarete ein wenig erschrak: „Seid leise,“ mahnte sie immer wieder, „der Müller ist noch im Huas, der darf euch nicht hören.“ Sie bat sie die Kinder in das Esszimmer und servierte die Mahlzeit. Schweigend saßen alle zusammen und lauschten auf das Geschrei von nebenan. Erst als Ernst Müller das Haus verließ, verhallte der schmerzhafte Lärm langsam im Treppenhaus. Martin wollte jetzt nicht mehr an seine drohende Einberufung denken, lieber die Mutter beruhigen, der es anscheinend mit dieser Nachricht, dass er in wenigen Wochen an die Front nach Russland sollte, nicht gut ging. Sie strich sich immer wieder über den Bauch, wie ein Kind, das sich Süßes erbettelt. Martin neckte Lisa, umarmte sie und küsste seine Mutter auf die Wange: „Wird wohl alles nur halb so schlimm, in wenigen Monaten ist der Spuk hoffentlich vorbei.“ Ein Wagen fuhr lärmend vor das Haus. Schnell liefen sie zum Fenster um nachzuschauen, blieben aber schützend hinter der Gardine stehen. Draußen hielt ein Mannschaftswagen, von dem eine Rotte uniformierter Männer sprang, dann in das Haus stürmte, wie eine Flut, die sich nicht aufhalten lässt. Es folgten Poltern und Türenschlagen, bis im ersten Stock an der Tür von Sterns mit Gewehrkolben gehämmert wurde. Margarete ahnte, was jetzt geschehen würde. Sie umschlang schützend Lisa und drückte das zitternde Kind an sich. Das Mädchen blieb stumm, gab keinen Laut von sich. Lisa fragte nicht, hielt sich die Ohren zu, während sie in den üppigen Falten des langen Rockes von Margarete Groothe Schutz suchte. Margaretes Gedanken überschlugen sich, was sollte sie mit dem Kind, es einfach behalten? Sie kannte das Mädchen seit ihrer Geburt, war ihr immer gut. Verstecken, schoss es ihr durch den Kopf. Aber, was wäre, wenn man auch an ihrer Tür rütteln würde, und schreiend die Herausgabe des Kindes fordert? Sie beherbergte ein jüdisches Mädchen. Ihr war bewusst, dass sie mit in einem sinkenden Boot saß. Martin stand farblos und angespannt lauschend neben seiner Mutter und Lisa. Alle drei hörten das Schlagen der oberen Tür, litten Höllenqualen, als Sterns an ihrer Tür vorbeigetrieben wurden. Margarete lief zum Fenster. Sah, wie ihre Nachbarn zu anderen Juden auf den Wagen verladen wurden. Lisa erwachte bei diesem Anblick aus ihrer Starre, riss sich aus Margaretes schützenden Falten, lief zur Tür und erreichte gerade noch den Wagen. Martin und Margarete hörten durch das geschlossene Fenster das hämische Gelächter der Schergen: „Na, was haben wir da für ein Prachtstück, wäre schade gewesen, es zu übersehen.“ Dann warfen sie Lisa achtlos auf den Wagen. Margarete und Martin wagten es nicht, sich am Fenster zu zeigen, um Sterns nachzuwinken.
Beide blieben versteinert hinter der Tüllgardine stehen, nur einen Hauch von der brutalen Wirklichkeit getrennt. Lisa hatte sie geschützt, lief erst weg, als Groothes nicht mehr in Gefahr waren. Sie verdankten einem elfjährigen Mädchen ihr Leben. Als der Wagen sich entfernte, hob Martin kraftlos einen Arm, als wolle er ihnen winken: „Adieu, kleine Lisa,“ sagte er. Dann weinte er hemmungslos. Seit diesem Tag trug er ihr Bild in seiner Brusttasche, auch in russischen Schützengräben, bis ihn im März 1945 eine Granate wehruntauglich verletzte. Er konnte es kaum glauben, als der Stabsarzt ihm diesen Rat gab: „Groothe, sehen Sie es als Heimatschuss, einen Arm zu verlieren ist besser, als das ganze Leben. Machen Sie, dass sie nach Hause kommen, wir kommen hier alle nicht mehr lebend raus.“ Martin brach von Minsk auf, durch die vereiste Landschaft, vorbei an erstarrten Leichen, brennenden Gehöften und brüllendem Vieh, das von keiner Menschenseele mehr versorgt wurde. Manchmal hatte jemand stummes Erbarmen mit ihm und ließ ihn eine kurze Strecke auf einem Leiterwagen aufsitzen. Als Mitläufer in Flüchtlingstrecks, auf Pferdewagen und Panzern schlug er sich bis zum Haff durch. Er war etwa vier Wochen unterwegs, bis er endlich in Greifswald bei seinen aus Stettin geflohenen Eltern ankam.
Groothes hörten nie wieder etwas von Sterns. Es hieß, sie seien nach Auschwitz transportiert und ermordet worden. Nur Lisas Bild überdauerte auf Martin Groothes Nachttisch die Zeit.