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Wolkenwörter

Von dem Weg zur Englischstunde bekam ich nicht viel mit – so viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Wir liefen immer noch durchs Wissenschaftsviertel. Von fast überall sah man die Bibliothek. Erhaben thronte sie auf einem Hügel, umgeben von haushohen Marmorskulpturen, die berühmte Kinderbuchfiguren darstellten. Ich roch Pferdedung und den Staub in den Gassen. Ein Strohbesen lehnte an einer Mauer. Zwei Kinder zogen ein Maultier mit einem Karren, auf dem Krautköpfe geladen waren. Ein Jugendlicher rollte ein rumpelndes Fass an uns vorbei. In einem Hinterhof spielten Kinder »Werwölfe im Düsterwald«. Wie oft waren wir schon links und wie oft nach rechts abgebogen? Ich hatte den Überblick mittlerweile komplett verloren.

»Du musst aufpassen, dass du dich nicht verläufst«, sagte Rosa. »Die Mauern verschieben sich leicht und die Gassen verlaufen jeden Tag anders.«

Wir irrten durch ein Labyrinth aus Fachwerkhäusern, die sich tief über uns beugten.

»Hier ist es!«, rief Kolja, der mit Anton vorausgegangen war. Vor einer Holztür mit der Nummer 4711 blieben wir stehen. Die Tür gehörte zu einem mittelalterlichen Häuschen – unten schmal und oben breit. Ich duckte mich, weil ich das Gefühl hatte, das Haus könnte umkippen. Auf der Tür stand: Miss Walburger Huchler. Englisch, Türkisch, Persisch, Afrikaans, Swahili, Russisch, Elbisch, Schweinisch, Klingonisch, Kindisch und sonst noch viele Sprachen.

»Die Häuser passen sich dem Charakter der Lehrer an. Wenn jemand schon sehr lange hier ist, breitet sich das auf die Gassen und das ganze Viertel aus. Miss Huchler ist schon ewig hier, sie ist ein bisschen … äh …« Sie suchte nach einem Wort.

»... mittelalterlich«, half ihr Justus.

Die Tür quietschte. Wir betraten einen dunklen Eingang mit Steinwänden. Fackeln flackerten. Wir mussten unsere Straßenschuhe gegen Filzpatschen tauschen, die in allen Größen in mehreren Körben bereitlagen. Dann stiegen wir eine Holztreppe nach oben, die bei jedem Schritt schauerlich knarrte.

Der Englischunterricht fand in einer finsteren Stube statt. Es roch nach dem, was Omas in Duftkissen im Schrank zwischen den Nachthemden aufbewahrten, und ein bisschen nach Schweißfüßen in alten Filzpatschen.

»Ich reservier uns einen Platz«, sagte Rosa und eilte an einen klobigen Tisch, der viel zu groß war für uns.

»Good morning, my dear«, sagte eine Frau hinter mir. Miss Huchler trug einen weiten Wollpullover, einen knöchellangen Filzrock und Ledersandalen. Ihr graues Haar sah aus wie Schafwolle und sie hatte sich ein buntes Tuch um den Kopf gewickelt. An ihrem Hals hing eine Kette aus Holzkugeln.

Ich setzte mich zwischen Rosa und Justus, während Miss Huchler an einem imposanten Tisch Platz nahm, der über und über mit Büchern und Heften bedeckt war.

Erst einmal schenkte sie sich aus einer Kanne Tee ein und trank laut schlürfend. Dann kramte sie in ihren Stapeln.


»Ah, da habe ich es ja.« Sie zog zwei Bücher aus dem Stapel und reichte sie mir: ein Englischbuch und ein Wörterbuch. »This is for you, my dear.«

Ich nahm die Bücher entgegen und war ein bisschen enttäuscht, weil ich gehofft hatte, dass nun alle Stunden so lustig abliefen wie die bei unserem Klassenlehrer.

»Open your books on page 24«, sagte Miss Huchler. Es ging um Grammatik, die mithilfe von Tieren erklärt wurde. Für mich eher langweilig, Englisch kann ich schon, was einen nicht wundern muss, denn mein Daddy ist Amerikaner gewesen.

Ich war froh, als Miss Huchler sagte: »Now, let’s play a game.«

Einige verzogen genervt ihre Mienen.

»Ich hasse games«, stöhnte Mirabelle, wovon sich Miss Huchler nicht irritieren ließ.

»The name of the game is WORD CLOUDS.« Wörterwolken, das klang toll.

Wir sollten unsere Wörterbücher aufschlagen, uns ein Tier suchen, das mit demselben Buchstaben begann wie unser Vorname, und versuchen, das Tier mit englischen Worten zu beschreiben.

»But Miss Huchler«, beschwerte sich Mirabelle, »this is very … was heißt langweilig?«

»Boring.« Miss Huchler löffelte mehr Zucker in ihren Tee und musterte uns über den Rand der Tasse hinweg, während sie trank.

Ich blätterte im Buch und tat, als ob ich ein Tier mit L suchte, obwohl ich schon wusste, welches ich nehmen würde: Lizard – Eidechse! Mir gefällt das Wort. Es prickelt im Mund wie Brausebonbon.

»Who would like to begin?«, fragte Miss Huchler, während alle ihre Nasen in die Wörterbücher steckten. »Rosa …?«

»Äh, gleich … aber … ich weiß noch nicht … Rabbit … oder lieber rat? … äh …«

»Du könntest racoon nehmen«, schlug ich ihr flüsternd vor, »das ist ein Waschbär. Ich finde, racoon ist ein ziemlich schönes Wort …«

»Thank you, Lani. And good choice, Rosa.«

»Okay«, sagte Rosa und dann zu Miss Huchler: »I begin.«

»What does your animal look like?«, ermunterte sie Miss Huchler. »How many legs has it got? How many ears?«

»My animal …«, begann Rosa zaghaft und etwas Erstaunliches passierte: Mit jedem englischen Wort, das sie sagte, quoll aus ihrem Mund eine kleine Flauschewolke. Die Wölkchen verbanden sich zu einer einzigen Wolke, die mit jedem neuen Wort wuchs und über ihrem Kopf schwebte.

»I believe I spider!«, sagte Justus.

»Cool!«, rief Esra.

»My animal is … like a bear!« Die Wolke plusterte sich auf und bekam die Form eines plüschigen Bären, der die Farbe wechselte, von Braun bis Weiß und wieder zurück – in einem Moment ein Grizzly, im nächsten ein Eisbär.

»No, no, no«, Rosa fuchtelte mit ihren Armen, »not a big bear, a little bear.« Der Bär schrumpfte zu einem kleinen Eisbären. »The Dings, also, the Dings … wie sagt man … äh … the skin … the hair.«

»Fur«, sagte Miss Huchler, worauf Rosa strahlend rief: »The fur is grey.« Der kleine Eisbär bekam einen grauen Pelz. »Äh, yes … okay … but the nose is … äh different … more dings … äh … spitz …«

»Pointed!«, rief Esra, glücklich, weil ihr ein Wort eingefallen war.

»Yes. Genau. A pointed nose!« Rosa war genauso zappelig und begeistert wie ich, weil nun über unseren Köpfen eine bärchenförmige Wolke mit spitzen Ohren schwebte.

»The eyes are black«, schaltete sich Justus ein.

»The nose is gestreift«, sagte Mirabelle. Gemeinsam bastelten wir an dem racoon herum, ließen vor unseren Augen einen niedlichen Waschbären entstehen, der langsam zum Leben erwachte. Vorsichtig bewegte er seinen Kopf, schaute sich neugierig schnüffelnd um, putzte sich die Pfoten und hüpfte auf Rosas und meinen Tisch. WOW! Er lebte wirklich! Ich konnte ihn sogar riechen. Rosa streckte ihre Hand aus und kicherte, als der Waschbär an ihren Fingern schnupperte. Wir streichelten ihn, dann hüpfte er unter den Tisch und schnüffelte an unseren Filzpatschen, die offenbar sehr gut rochen (für einen Waschbären zumindest).

»Well done«, sagte Miss Huchler zufrieden.

Alle Arme schnellten in die Luft. »Darf ich, bitte?«

»Ich möchte drankommen.«

»In English, please«, ermahnte Miss Huchler.

»I want to be next!«, rief Justus. Sie nickte ihm zu und er holte tief Luft.

»My animal …«, sagte Justus und eine magische Wörterwolke entwich seinem Mund. Sie waberte über seinem Kopf und wusste noch nicht, was aus ihr werden sollte. »... is a wild and very dangerous animal.« Die Wolke verwandelte sich in ein monströses Gebilde, das den Umriss eines Tyrannosaurus Rex bekam. »Oh no!«, rief Justus. »Not like this … It’s a cat that lives in the … äääh … you know … Tarzan und Mogli und so?«

»Jungle!«, sagte Rosa.

»YESSS!«, rief Justus. »My animal lives in the jungle.« Der T-Rex schrumpfte ein und verwandelte sich etwas unentschlossen in eine Art Affenkatzenvogel. Wieder machten alle mit. Justus’ Tier hatte »golden eyes« und »dark fur«.


»It’s a very dark jaguar«, sagte Justus. Wir zogen unsere Köpfe ein, als ein ganz dunkler Jaguar Gestalt annahm, der majestätisch um Justus herumschlich. Wir vergaßen zu atmen, als der Jaguar eine seiner gewaltigen Pfoten auf Justus’ Schultern legte (Justus wurde stockstarr) und von dort mit einem gewaltigen Satz auf einen Dachbalken sprang, wo er sich auf den Bauch legte und uns aus goldgelben Katzenaugen musterte.

Wisperwasser. Es ist unser Geheimnis

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