Читать книгу Wisperwasser. Es ist unser Geheimnis - Ирмгард Крамер - Страница 9
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Aber nur für einen Tag
Die Horde folgte mir. Ich rannte so schnell wie noch nie in meinem Leben auf der Suche nach dem nächsten Klo, in dem ich mich einsperren konnte. Ich sprang über eine verschimmelte Orange und bog in den ersten Flur ab. Verdammt! Ein rothaariges Mädchen versperrte mir den Weg. Ich schlug einen Haken in die andere Richtung. Hundegetrappel vor mir. Fußgetrappel hinter mir. Nur nicht umsehen. Weiterrennen.
Ich durchquerte die Eingangshalle, wollte die Treppe rauf, da stand das rothaarige Mädchen schon wieder. Wie war die so schnell von dort nach hier gekommen? Vielleicht war mit meinem Gehirn doch etwas nicht in Ordnung. Keine Zeit zu denken. Rennen. Den Flur entlang.
»Wohin rennst du denn?«, rief ein rothaariger Junge, der genau gleich aussah wie das rothaarige Mädchen, nur dass er eben ein Junge war. Mein Gehirn war kaputt. Definitiv.
Ich rannte um ein paar Ecken, doch statt das Klo zu finden, prallte ich gegen einen Schrank. Okay, es war kein richtiger Schrank, aber es fühlte sich so an.
Ich starrte nach oben, in die blauen Augen von Captain America, der sich im Flur wie ein Felsen aufgebaut hatte. Captain America ist ein Superheld mit wahnsinnig vielen Muskeln und einem eckigen Kinn. Ich kenne ihn aus den Comics, die überall bei uns zu Hause rumgelegen haben, denn mein Daddy hat Comics geliebt. Diesen Captain America hier mochte ich sofort, auch wenn er kein Superheldenkostüm trug, sondern einen grauen Mantel, der sich über seine Oberarm- und Brustmuskeln spannte. In der Hand hielt er einen Besen, den Tante Inge ankläffte.
»Jaja, ist ja schon gut«, sagte er mit tiefer Stimme, griff in seinen Mantel und holte einen Kaugummi heraus, den er Tante Inge zuwarf, die ihn schnappte und eifrig zu kauen begann.
»Hallo Lani!« Er zeigte sein Zahnpastalachen.
Mein Mund klappte auf. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Wir haben dich erwartet. Ich bin Ikarus Kaiser, der Hausmeister. Wenn du ein Problem hast, kannst du jederzeit zu mir kommen … oje, du Arme, so wie du rennst, hast du ein Problem.«
Endlich einer, der das erkannte. Obwohl ich die anderen für den Moment abgehängt hatte, fühlte ich mich auf einmal wie ein Gummiboot, dem die Luft ausging. Tränen wollten aus mir heraus. »Die … die … die da draußen … die sind alle so fies …« Alles an mir zitterte und bebte.
Er lächelte mich an. »So übel, wie du denkst, sind sie gar nicht, du musst sie nur einmal richtig kennenlernen.«
»Niemals!«, brach es aus mir heraus. »Weil ich nämlich nicht hierbleibe. So viele fiese Kinder auf einem Haufen habe ich noch nie erlebt und ich habe schon viele fiese Kinder erlebt, das können Sie mir glauben. Ich bin Expertin in fiesen Kindern. Sie haben den armen Justus fertiggemacht. Und keiner hat was getan!«
Jetzt kamen die Tränen doch.
»Aber du! Du hast doch etwas getan …«, sagte er. »Schau mal, Lani, wenn du nicht bleiben möchtest, verstehe ich das. Aber sieh es mal so: Wenn die netten Kinder immer weggehen, bleiben nur die fiesen übrig … Also mich würde es freuen, wenn jemand wie du bei uns wäre, der gegen das Unrecht kämpft. Stell dir mal vor, was mit Justus passiert wäre, wenn du nicht eingegriffen hättest!«
Ich zögerte. Da war was dran.
Doch dann verschränkte ich trotzig die Arme. »Die sagen Lola zu mir.«
»Ist doch ein schöner Name. Die vierte Frau meines Urgroßvaters mütterlicher Seite hieß auch Lola. Interessante Frau.« Er beugte sich zu mir hinunter. »Ich mach dir einen Vorschlag. Ich zeige dir die Schule. Wenn es dir dann immer noch nicht gefällt, bringe ich dich persönlich über die Brücke nach draußen, in Ordnung?«
Zögernd sah ich ihn an. Sein Lächeln war wirklich freundlich. Und vielleicht stimmte, was er sagte – von wegen, dass nur die fiesen Kinder übrig blieben. Kein Wunder, dass diese Schule die schlimmste der Welt war.
»Okay«, sagte ich vorsichtig.
In dem Moment ließ Tante Inge eine Kaugummiblase zerplatzen.
»Wusste ich es doch!«, rief Ikarus Kaiser strahlend.
»Das heißt aber nicht, dass ich bleiben werde«, warf ich schnell ein.
»Nein, nein, natürlich nicht, du entscheidest dich, nachdem du alles gesehen hast. Komm mit.«
Wir liefen den Flur entlang. Ich erwartete jeden Moment, Wotan zu begegnen, aber die Gänge waren menschenleer.
In einer Ecke lag ein vergammeltes Wurstbrot, das ziemlich eklig aussah. Sogar Tante Inge machte einen Bogen herum. Ich rümpfte die Nase in Richtung Wurstbrot. Aber anstatt dass Ikarus Kaiser den Besen benützte, sagte er: »Lass das bloß liegen. Das züchte ich schon seit neun Tagen. Langsam kriegt es die richtige Farbe. Bald fängt es an zu leben, das wird ein Spaß.«
Hier sind doch alle komplett verrückt!, dachte ich – oder war mir das tatsächlich laut herausgerutscht? Tante Inge bellte vergnügt.
»Du hast recht«, sagte Herr Kaiser, »wir sind komplett verrückt, plemplem, übergeschnappt, irre.«
Er sagte es so lustig, dass ich mitlachen musste. Im gleichen Augenblick begann hinter einer Tür im Flur, ein Lehrer zu brüllen: »Ihr seid doch der allerletzte strunzdumme Faulhaufen. Dumm wie Brot. Ach was, dumm wie eine ganze Bäckerei!« Er schlug auf den Tisch oder sonst wohin, jedenfalls knallte es gewaltig.
Ich hatte die Nase voll. Ohne zu überlegen, riss ich die Tür auf, um dem Lehrer zu sagen, dass Kinder kein Brot sind und eine Bäckerei schon gar nicht und … aber … das Klassenzimmer war leer! Tante Inge zupfte mit der Schnauze an meinem Hosenbein.
»Oh, oh«, murmelte Herr Kaiser hinter mir. »Die Tür hätte eigentlich zugesperrt gehört. Wer ist hier zuständig? Ich muss ein ernstes Wörtchen mit Wenzel reden …« Es klang, als redete er mit sich selbst, während ich mich fühlte, als sei ich mit der Stirn gegen eine unsichtbare Wand geknallt. Wo war dieser böse Lehrer? Wo die Kinder? In dem düsteren Klassenzimmer standen nur staubige Tische und Stühle. Über der Tafel hing ein Lautsprecher, aus dem der Lehrer brüllte.
Herr Kaiser nahm mich an der Hand. »Komm weiter«, drängte er. Verwirrt ließ ich mich mitziehen. Vor einer Tür mit der Aufschrift Chemiesaal hielten wir an.
»Diese Tür musst du dir merken.« Er klopfte sieben Mal.
Ein Jugendlicher mit Haaren wie Struwwelpeter öffnete. Er war schon groß – sechzehn oder siebzehn. Der Mops sprang an seinen Beinen hoch.
»Tante Inge!«, rief Struwwelpeter erfreut und kraulte ihm das Kinn. In der anderen Hand hielt er ein Klemmbrett mit einer Namensliste: »Und du musst die Neue sein … ah ja, hier habe ich dich … Lani Mandelbaum … Eintritt um …« Er schaute auf eine altmodische Taschenuhr, die an seinen Jeans an einer Kette hing, und trug murmelnd ein: »… acht Uhr zweiunddreißig. Ich bin Wenzel, der Schulsprecher. Coole Aktion übrigens, wie du Wotan den Kakao in die Hosen geschüttet hast.« Er nahm meine eiskalte Hand und schüttelte sie. »Das war einzigartig, ist vor dir noch keinem eingefallen, geht zweifellos in die Geschichte von Wisperwa… äh, sorry, von Luschenau ein. Bitte, tritt ein.«
Der Hausmeister gab mir einen sachten Schubser. Ich stolperte in den Chemiesaal. Die Tür hinter mir fiel zu und ich erstarrte. Denn im Raum hatte sich die ganze fiese Meute vom Schulhof versammelt. Wie waren die so schnell hierhergekommen?
Auf einem Tresorschrank warnte ein Schild mit einem Totenkopf: ACHTUNG CHEMIKALIEN! Die Kinder drängten sich davor, als gäbe es darin kein Gift, sondern die besten Eissorten der Welt. Nur Wotan Killerwal saß am Pult zwischen zerbrochenen Reagenzgläsern und grinste mich an. Unter ihm hatte sich eine kleine Kakaopfütze gebildet.
Ängstlich sah ich mich um. Herr Kaiser war verschwunden. Er hatte mich in die Höhle des Löwen geführt! Ich war geliefert. Rückwärts schlich ich Richtung Tür und drückte hinter mir die Klinke runter. Sie war verschlossen. Mist. Mist. Mist.
»Sorry, hier kommst du nicht mehr raus«, sagte Wenzel der Schulsprecher. Ich war kurz davor, in Panik auszubrechen, da wuselte Tante Inge unter einem Tisch hervor und drückte ihren warmen Körper an mich. Ich strich dem Hund über den Kopf und irgendwie beruhigte mich das.
»Da bist du ja endlich«, sagte das Mädchen mit den blonden Kringellocken, nahm ihre Daumen aus den Trägern ihres Jeanskleides und hopste vom Tisch.
»Ich bin Rosa. Ach, Lani, du warst so cool vorhin auf dem Schulhof – ich kann gar nicht erwarten, dir die Insel zu zeigen … Oh, jetzt habe ich dich verwirrt.«
Das war leicht untertrieben. Ich verstand gar nichts mehr. Sie hatte eben doch auch mitgemacht! Hatte sie nicht am lautesten von allen geschrien?
»Wenn ihr mich mal durchlassen wollt …« Wenzel bahnte sich den Weg zum Schrank. »Du meine Güte, hört auf zu drängeln. Müsst ihr immer alle zuerst sein? Geduld, Geduld … Ihr kommt noch früh genug zum Unterricht.« Schließlich gaben sie ihm den Weg frei.
»Umdrehen!«, befahl er und alle gehorchten. Hinter uns schnurrte, klickte und ratterte es, dann machte es PFFF und die Schranktür öffnete sich. Tante Inge stolzierte zwischen meinen Beinen durch und betrat als Erste den dunklen Schrank. Ein Kind nach dem anderen verschwand in der Dunkelheit. Wotan schwenkte seinen Kakaopopo, als er vor mir in den Tresorschrank trat.
»Da rein?«, fragte ich.
»Wenn ich bitten dürfte!«, sagte Wenzel. »Lehrer Goldfaden wird ungeduldig, wenn ihr nicht bald kommt.« Worauf die meisten Kinder vergnügt lachten und ich immer weniger verstand.
»Dir passiert nichts«, sagte Rosa und aus einem Grund, den ich selbst nicht verstand, vertraute ich ihr.
Der Tresor entpuppte sich als eine finstere Kammer, in der sich nun alle drängten. Es war feucht. Ich roch Moor und Meer und Sommerregen. In allen Ecken gluckste und tropfte Wasser … Plitsch – platsch – schwipp – schwapp … wie in einer Tropfsteinhöhle. An einer Wand war ein deckenhohes Regal, in dem Handys, Computer und Uhren lagen – klassenweise aufgereiht und mit Namensetiketten versehen.
»Deine Uhr und dein Handy, bitte«, sagte Wenzel.
Ich zögerte.
»Keine Sorge. Du kriegst sie wieder«, ermutigte mich Rosa, »unsere liegen auch da. Ist Vorschrift.«
Ich starrte sie an und dachte an meine Mama, die ich dann nicht mehr anrufen konnte. Aber all das kam mir so absurd vor, dass mir plötzlich etwas einfiel, was mich erleichtert auflachen ließ. Natürlich!
Das hier war nur ein Traum! Ich hätte es schon viel früher merken müssen. Das Erdbeben! Der Lehrer! Diese grauenvolle Schule. Der Hausmeister, der Wurstbrote vergammeln ließ. Klarer Fall! Ich träumte. Ich träume oft ziemlich wild. Das liegt an meiner Fantasie. Dieser Gedanke beruhigte mich. Meine Angst verflog und auf einmal war ich neugierig, wie der Traum weiterging. Noch nie hatte ich in so kräftigen Farben geträumt – ich konnte Flusswasser riechen und den Kaugummi von Tante Inge.
»Jetzt kommt das Beste«, flüsterte Rosa. Erwartungsvoll blickten alle zu Wenzel, der einen Lichtschalter an der Wand drückte. Er war kaputt, denn die Glühbirne an der Decke blieb dunkel. Es begann, gruselig zu knarren. Dann vibrierte der Boden unter unseren Füßen. Krachend schob sich das große Uhrenregal, ja, die ganze Wand, zur Seite. Das Plätschern, Gurgeln, Rauschen und Schwappen wurden lauter. Schillerndes Licht zerschnitt die Dunkelheit. Der Lichtkegel wurde größer. Ein Unterwasseraquarium? Dann sah ich es: Hinter dem Regal war eine Wand aus Wasser.
Ich konnte weder erkennen, woher das Wasser kam, noch, wohin es fiel. Eigentlich fiel es gar nicht. Es schwebte, kreiselte, sprudelte und glitzerte in allen Regenbogenfarben. Das Schauspiel zog mich so in Bann, dass ich Justus erst bemerkte, als er schon dicht neben mir stand und mich mit der Schulter anstupste.
»War echt nett von dir, wie du mir im Schulhof geholfen hast. Danke«, murmelte er mir ins Ohr. »Du brauchst keine Angst zu haben.« Er reichte mir seine Hand. Rosa nahm meine andere. »Wir gehen jetzt in die richtige Schule. Nach Wisperwasser. Bereit?«
Ich hatte zwar keine Ahnung, wofür ich bereit sein sollte, aber ich wollte unbedingt sehen, was hinter dem Wasser war.
»Auf drei!«, sagte Rosa. Eins … zwei … ich hielt die Luft an … und bei drei traten wir hinein in die Wasserwand.
Eine mächtige Strömung riss mich mit. Mein Kopf kippte nach hinten und schon drehte ich mich wie ein Wirbelfisch unter Wasser. Goldene Luftblasen wirbelten um mich herum. Ich verlor Rosa und Justus. Panik stieg in mir auf. Da sah ich sie neben mir – Rosa strudelte zwischen Wasserblasen, die die Form und Farbe von Himbeeren hatten, und Justus schwebte gemächlich in einer Blase, die wie wabernde Milch aussah. Weiter vorne schwammen die anderen Kinder. Die Orientierung hatte ich längst verloren. Rasend schnell riss uns der Strom mit.
In dem Moment, als ich mich fragte, wie ich den nächsten Atemzug machen sollte, spie uns der Strom in einer gewaltigen Fontäne in die Höhe, hinauf in einen strahlend blauen Himmel. Die Sonne blendete mich.
Wir flogen mit einem Wasserstrahl in die Luft und sanken sachte nach unten. Wir ritten auf dem Wasser, das mir in tausend Stimmen ins Ohr wisperte. Ich musste kichern, fühlte mich federleicht und geborgen zugleich. Viel zu schnell wurden wir in einem großen Springbrunnen abgesetzt. Tropfen hingen an meinen Wimpern. Ich wischte mir über die Augen, um ein Schild zu lesen, auf dem stand: Herzlich willkommen auf Wisperwasser.