Читать книгу Wisperwasser. Es ist unser Geheimnis - Ирмгард Крамер - Страница 8
ОглавлениеIch seufzte, gab mir einen Ruck und setzte mich in Bewegung.
Da passierte es.
Der Fischer stolperte über seine Angelschnur, landete mit einem Stiefel mitten im Haufen von Tante Inge, und weil der noch so frisch und feucht und glitschig war, legte er … AAAARRRRGHHHH … einen astreinen Spagat hin. Braune Spritzer sprenkelten sein Gesicht. Richtig eklig.
Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu gruseln, denn ob ihr es glaubt oder nicht, fing die Brücke an, sich zu bewegen. Zuerst zitterte sie nur leicht. Dann wackelte sie. Dann schwankte sie. Aber wie! Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten.
»Erdbeben!«, brüllte ich.
Die Brücke schlug Wellen – wie ein langer, schmaler Teppich, den man ausschüttelte. Während ich mich ans Geländer klammerte, wurde der Fischer in die Luft geschleudert. Er ruderte mit Armen und Beinen und klatschte mit dem Bauch voran in den Fluss, wo der Taucher gerade seinen Kopf aus dem Wasser steckte. Ich wollte ihn warnen, da bäumte sich die Brücke wieder auf. Vor Schreck ließ ich das Geländer los, plumpste auf den Hosenboden und sauste wie über eine Rutschbahn auf den Eingang der Schule zu.
Rasend schnell kam das dunkle Tor näher. Das geschlossen war! Es würde ein fürchterliches Unglück geben. Und zwei gebrochene Beine.
»HILFE!«, brüllte ich und war drauf und dran, das Tor zu rammen, als es wie durch Zauberhand aufschwang. Ich rutschte in die Mitte des Schulhofs und sah nur noch Tante Inges Schwanz, die mit mir hindurchrutschte und in der Schule verschwand.
Ausgerechnet vor den Riesenschuhen des größten Schülers der Welt war meine Fahrt zu Ende. Ich schnappte nach Luft und starrte seinen rechten Schuh an, durch den sich ein Zehennagel bohrte. Langsam hob ich meinen Blick. Der Schüler war so alt wie ich und, okay, er war vielleicht nicht der größte Schüler der Welt. Aber er war trotzdem fast so groß wie Edgar, mein Stiefvater. Und das will was heißen.
Wie ein grinsender Killerwal in weißen Jogginghosen kam er mir vor.
Mit pochendem Herzen sagte ich: »Oh Mann! Das war voll das verrückte Erdbeben! Hast du so was schon mal erlebt? Die Brücke hat Wellen geschlagen. Also, ich hab so was noch nie erlebt, nur ein Mal hab ich bisher ein Erdbeben erlebt, aber das war ein winziges, das kam nicht mal in den Nachrichten, da hat nur die Lampe an der Zimmerdecke gewackelt, aber das da, auf der Brücke, das war voll unheim…«
»Redest du immer so viel?«, unterbrach mich Killerwal. Beinah musste ich kichern, weil seine Piepsstimme nicht zu seiner Größe passte. Gelangweilt sah er auf mich herab und wartete auf eine Antwort.
Äh, wie war noch mal die Frage gewesen? Ach ja, ob ich immer so viel redete. »Ja, leider«, sagte ich und seufzte. »Schlechte Angewohnheit.« Allerdings redete ich nur so viel, wenn ich aufgeregt war. Und ich war aufgeregt, sehr aufgeregt, aber das musste ich diesem Killerwal ja nicht unbedingt auf die Nase binden. Schon wieder plapperte es aus mir heraus. Ich konnte gar nicht aufhören, über das Erdbeben zu reden. »Du hättest sehen sollen, wie der Fischer durch die Luft gesegelt ist –«
»STOPP!«, unterbrach er mich so barsch, als hätte er mir die Hand auf den Mund geklatscht. Ich verstummte. Er wandte sich von mir ab und brüllte über den Schulhof: »Alle mal herhören!«
Die Bewegungen rund um uns froren ein. Erst jetzt bemerkte ich die anderen Menschen auf dem Hof. Viele waren es nicht. Außer dem Killerwal und mir zählte ich vier Mädchen und drei Jungen, alle in meinem Alter. Dazu ein Lehrer mit einem gepflegten Bart, einem Haarknödel auf dem Kopf und einem Tattoo am Hals. Gelangweilt lehnte er an der Schulmauer und starrte auf sein Smartphone, während er Kartoffelchips aus einer Tüte in sich hineinschüttete.
Alle Blicke wanderten zu Killerwal. Er breitete seine dicken Arme aus und fragte laut: »Hat irgendjemand von euch ein Erdbeben gespürt?«
Einer sah zum anderen.
Ein dunkelhaariges Mädchen klimperte mit ihren Armreifen und sagte: »Da war kein Erdbeben, Wotan!«
»Ich hab auch nichts gespürt!«, rief das größte von den Mädchen, das ein enges Glitzer-T-Shirt trug und gierig einen Energydrink aus einer knallbunten Dose in sich hineinschüttete.
»Da war nichts!«, riefen auch die anderen.
Nur ein einzelner Junge rief nicht mit. Blass und traurig stand er abseits. Er trug eine dicke Brille und knabberte an einer Reiswaffel, als müsste er sich zwingen zu essen, um nicht zu verhungern – so dünn sah er aus. Er sah einem Jungen zu, der mit dem abgerissenen Kopf einer Puppe Fußball spielte.
»Da war nichts«, wiederholte Wotan zufrieden. »Hast du’s gehört? Kein Erdbeben. Das hast du dir eingebildet. Wahrscheinlich stimmt mit deinem Gehirn etwas nicht.«
Jemand kicherte.
»Mit meinem Gehirn?«, murmelte ich.
»Lass deine Birne untersuchen, du Neuling. Es kann nicht gesund sein, wenn man ein Erdbeben spürt, wo keins ist.«
Boah, war der gemein! Mit meinem Gehirn war alles in Ordnung. Entweder das Erdbeben war nur auf der Brücke zu spüren gewesen oder hier lief eine Verschwörung, die hieß: Alle gegen mich.
Das kannte ich schon von den anderen Schulen; daran gewöhnen würde ich mich nie. War es möglich, dass mich hier alle schon vor meiner ersten Schulstunde hassten? Das war Rekord.
Hilfe suchend schaute ich zu dem Lehrer hinüber. Er starrte auf sein Handy und tat, als ginge ihn das alles nichts an.
»Es war doch ein Erdbeben!«, sagte ich, so fest ich konnte.
Wotan baute sich vor mir auf, stemmte die Arme in die Hüften und grinste breit. »Sagt wer?«
»Ich sage das. Lani.« Ich richtete mich auf.
Da meldete sich, kaum hörbar, die leise Stimme des schüchternen Jungen mit der Brille: »Ich habe das Erdbeben auch gespürt.«
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Alle Blicke richteten sich wie Scheinwerfer auf den Jungen, der vergaß, an seiner Reiswaffel zu knabbern.
»Du lügst!«, sagte Wotan. »Aber das ist ja nichts Neues. Willst dich bei der süßen Lola einschleimen, was?« Er schlenderte zu dem Jungen, legte ihm einen schweren Arm um die Schultern und sabberte ihm ins Ohr: »Hättest sie wohl gern als deine niedliche, schnuckiputzige Freundin. Willst du die Lola küssen?«
Der Junge ließ die Reiswaffel fallen. Ohrenbetäubendes Gelächter erfüllte den Hof. Mein Herz raste. Die schrecklichste aller Schulen machte ihrem Namen alle Ehre. Der reinste Gruselfilm!
Da sagte der Reiswaffeljunge und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: »Sie heißt Lani und nicht Lola.«
Wotans Gesicht wurde krebsrot. Er tippte dem Jungen wie einem Dreijährigen auf die Nasenspitze. »Mein lieber Justus. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber von dir lässt sich nicht einmal ein Frosch küssen.«
Lautes Gelächter. Das Mädchen mit den Armreifen klatschte, dass es klingelte. Die Kinder formierten sich zu einem Kreis und rückten näher um Justus. Der Fußballspieler warf den Puppenkopf nun in seiner Hand bedrohlich auf und ab.
»Lügner!«, rief ein Mädchen mit blonden Kringellocken und einem kurzen Jeanskleid mit Trägern.
»Lügner!«, wiederholte die Große mit dem Energydrink.
Wie eingeschworene Hexen fingen sie an, sich um Justus herumzudrehen. Ich stand außerhalb des Kreises und ballte meine Hände zu Fäusten. Irgendetwas musste ich tun. Justus wurde mit jedem Schritt, den sie näher rückten, blasser.
»Du lügst, wenn du deinen Mund aufmachst«, zischten sie.
»Deine Lügen stinken.«
»So wie du stinkst.«
Verzweifelt drehte sich Justus um seine Achse und suchte nach einem Ausweg, aber der Kreis war dicht. Tante Inge sprang kläffend außen herum.
»LÜGNER! LÜGNER! LÜGNER!«
Sie stießen ihn hin und her. Einer riss Justus seine Brille von der Nase. Blind wie ein Maulwurf, tastete er mit seinen Händen und Armen um sich. »Lasst mich! Bitte! Ich hab euch doch gar nichts getan!«
»Aufhören!«, schrie ich. Keine Sekunde länger konnte ich das ertragen. Das war so hundsfiesfurzgemein, dass sich mein Magen umdrehte. »Hört sofort auf!«
Nichts passierte. Sie machten weiter, als wäre ich gar nicht da. Ich rannte zu dem Lehrer, der immer nur auf sein Handy starrte und taub sein musste. Ich zog ihn am Arm.
»Die machen Justus fertig!«, rief ich atemlos. »Sie müssen sofort eingreifen. SCHNELL!«
Er ließ sein Handy sinken, hob gelangweilt eine Augenbraue und musterte mich, während er demonstrativ die leere Chipspackung zerknüllte und sie mir vor die Füße warf. »Und?« Er bleckte seine Zähne, zwischen denen Chipsreste steckten.
»Der Justus … Sie müssen helfen«, stammelte ich.
»Hat die Blindschleiche schon wieder gelogen?« Er seufzte genervt. »Stört mich das? Nein. Was kann ich für eure Probleme. Und jetzt würde ich gern, wenn’s der oberklugen Öko-Pipi angenehm ist, die Ergebnisse der Fußballliga fertig lesen, bevor es klingelt. Sonst werde ich sauer. Und glaub mir, das willst du nicht erleben.«
Fassungslos starrte ich ihn an und versuchte, nicht an dem Kloß in meinem Hals zu ersticken, der immer dicker wurde. Der Lehrer versteckte sich hinter dem Handy und überhörte den Schlachtruf, der durch den Schulhof dröhnte: »LÜGNER! LÜGNER! LÜGNER!«
»AUFHÖREN!«, brüllte ich und rannte auf den Kreis der Kinder zu. Inzwischen schubsten sie Justus wie eine Flipperkugel. Sie griffen nach seinen Haaren. Sie zogen ihn an den Ohren und an der Nase.
»SEID IHR ALLE VERRÜCKT?« Mein Herz drohte zu zerspringen. Sieben gegen einen, alle größer als er! Irgendetwas musste ich unternehmen. Aber was?
In meinem Kopf rotierte es. Wotan war der Schlimmste von allen. Er hatte angefangen! Wahrscheinlich taten alle, was er sagte. Ihn musste ich ausschalten. Aber wie? Ich hatte nichts, womit ich ihn ablenken konnte. Oder vielleicht doch?
Ich riss meinen Rucksack auf, holte den Kakao heraus, öffnete den Verschluss und stellte mich hinter Wotan. Meine Hände zitterten. Am liebsten hätte ich ihm den Kakao über den Kopf geleert, aber da kam ich nicht ran.
Deswegen tat ich das Nächstbeste.
Ich schüttete den Kakao in Wotans Hosen. Was mir wahnsinnig leidtat – nicht um Wotan, sondern um den Kakao! Ich liebe Kakao und hatte ihn in der großen Pause trinken wollen.
Er brüllte wie am Spieß. Alle erstarrten. Mir brach der Schweiß aus. Plötzlich verstummte Wotan, verengte die Augen zu Schlitzen und piepste: »Dich mach ich kalt!«
Nichts wie weg. Aber wohin? Das Tor zur Brücke war verschlossen. Tante Inge bellte, sabberte die Glastür im Erdgeschoss voll und wedelte mit dem Schwanz, als wollte sie mich zu sich winken. Ich rannte, hinein in die Schule, dem Mops hinterher.