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VERLASSEN VON VERTRAUTEM

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Es war spätnachmittags an einem Sonntag, einem kühlen Tag im Juni. Mein Partner und ich schlenderten die Maximilianstraße in östlicher Richtung entlang. Das mächtige Maximilianeum begrenzte dort den Horizont. Wir hatten Zeit die exquisiten, sündteuren Waren, die in den Schaufenstern für die Reichen und Schönen der Stadt München ausgestellt waren, ausgiebig zu bestaunen. Leicht dahingesagte Kommentare, gewürzt mit etwas Sarkasmus über die Dinge, die wir sahen, flogen zwischen uns hin und her.

Wir kamen langsam zu meiner Haltestelle, von wo aus ich mit der Straßenbahn nach Hause fahren wollte. Ein weiteres Wochenende, gefüllt mit vielen Gesprächen, viel Lachen und Fröhlichkeit, ging zu Ende. Morgen würde ein gewöhnlicher, vertrauter Arbeitstag sein.

Für kurze Zeit schwiegen wir beide. Dann, in lässiger Manier, fragte er: "Vor einiger Zeit habe ich ein Visum für Australien beantragt. Kommst du mit?"

Ein paar Jahre später, als wir uns an den Anfang unseres gemeinsamen Lebens erinnerten, sagte er mir, dass ich prompt geantwortet hätte: "Ja, warum nicht?"

Ich bin mir sicher, dass ihn seine Erinnerung nicht trog, denn immer wieder versicherte er, dass es ihn, ob dieser leicht und sofort folgenden Antwort, beinahe umgehauen hätte.

"Hast du gewusst, auf was du dich da einlässt?", fragte mein Mann nahezu jedes Mal, wenn wir auf diesen schicksalhaften Tag und seine Frage zurückblickten, denn diese Antwort von mir hat mein Leben auf eine Weise verändert, wie ich sie mir nicht in meinen wildesten Träumen hätte vorstellen können.

Meine Antwort auf diese Frage blieb für Jahre die gleiche: "Ja, ich war mir bewusst. Deine Schülerin, der du in der englischen Sprache Nachhilfeunterricht gabst, hatte mich über deine Absichten informiert. Sie wusste von deinem abenteuerlichen Plan, nach Australien weiterzuziehen. Somit wartete ich ab, ob du mich informieren, ob du dich verabschieden oder mich einladen würdest. Auf letztere Möglichkeit konnte ich mich daher gut vorbereiten. Es war kein Zweifel, dass ich beides wollte, bei dir bleiben und mit dir dieses ferne Land sehen. Weiter dachte ich nicht, denn ich fühlte mich sicher mit dir. Eigentlich hatte ich geradezu unverhältnismäßig starkes Vertrauen in dich, ein Amerikaner, von dem ich nur wusste, was du und deine deutschen Freunde mir erzählt haben."

Später, als unser gemeinsames Leben sich gestaltet hatte, musste ich allerdings meine Überzeugung, dass ich wusste, auf was ich mich einließ, mehr und mehr revidieren. Nach drei Jahrzehnten erkannte ich, dass mein damaliges Statement nur für ein Jahr Gültigkeit hatte. Weiterhin hatte ich eigentlich keine rechte Vorstellung. Im Hintergrund meiner Gedanken hatte ich doch geplant wieder nach Deutschland zurückzukehren. Aber dann … wie weit kann ein Mensch seine Zukunft voraussagen?

Viel Mut brauchte ich, meiner Mutter zu sagen, dass ich das Heim verlassen und nicht nur in die nächste Stadt ziehen wollte, sondern — aus ihrer Sicht — in eine schier unerreichbare Ferne. Ich wollte ihr Einverständnis, Verständnis und ihre guten Wünsche. Damals sah ich alles von dem Blickpunkt einer Tochter. Als ich selbst Mutter geworden war, konnte ich ihre Gefühle nachvollziehen. Manchmal fühle ich immer noch wie ich denke, dass ihr Schmerz gewesen sein muss. Ich ging nicht nur weit weg, sondern auch noch mit einem Mann, den sie kaum kannte. Ich beruhigte und rechtfertigte mich damals mit dem Gedanken, dass ich sie in den Händen ihres Sohnes und seiner Frau zurückließ. Jahre später gestand sie, dass sie nachts immer geweint hatte, um mir am Tag ein zuversichtliches Gesicht zu zeigen. Sie wusste, dass sie mich ziehen lassen und ich das tun musste, einfach weil ich jung war. Aber sie wollte mehr über diesen Mann, mit dem ich liiert war, wissen. Nachdem sie ihn einige Male getroffen hatte, schien sie beruhigt. Er war der erste Amerikaner, den sie nach dem Zweiten Weltkrieg persönlich kennenlernte. Immerhin hatten seine Landsleute am Ende dieses Krieges ihre Wohnung besetzt und sie mit ihren beiden kleinen Kindern im Winter auf die Straße geworfen. Als mein eigener Sohn unser Haus verlassen musste, um auf einem anderen Kontinent auf die Universität zu gehen, erinnerte ich mich an meine Mutter. Die Lektion über selbstlose Mutterschaft, die sie mir wortlos erteilt hatte, wandte ich nun selbst an — zumindest versuchte ich es.

Meine Familie auf dem Bauernhof — drei Onkels und meine Cousine — hatten jedoch keinerlei Hemmungen. Sie ließen mich ihre Einstellung zu meinem Unternehmen schonungslos wissen: "Nach Australien? Was machst du denn dort? Glaubst du, es ist dort besser als bei uns?" Aber der Onkel, dem ich immer am nächsten stand, der für mich etwas Vaterersatz war, reagierte mit Ärger par excellence: "Warum gehst denn nicht gleich auf den Mond!"

Sonnenschein und angenehme Wärme schenkte uns der letzte Sommer in München. Ich führte meinen Partner zu all den schönen Plätzen von Stadt und Land, die er noch nicht gesehen hatte. Er sollte sich an meine Heimat durch meine Augen erinnern, nicht wie ein Tourist oder einer, der dort für ein kurzes Jahr gelebt, gearbeitet und zu wenig Zeit gehabt hat. Gleichzeitig aber betrachtete ich die schönen, geliebten Plätze Münchens mit Abschied im Sinn. Mein Geist hatte diesen Prozess des Scheidens schon begonnen. Bewusst versuchte ich genaue Bilder in meiner Erinnerung zu speichern. Trotzdem verstand ich meinen Wechsel nach Australien nicht als Auswanderung. Der fünfte Kontinent und das Leben dort interessierten mich schon seit langer Zeit. Es begann mit einem Buch über ein Känguru, welches mir meine Mutter einmal gab, als ich noch ein Kind war. Es war ein Ort mit ungewöhnlicher Flora und Fauna, ein Land, das von Pionieren besiedelt wurde.

Über die Dauer unseres Aufenthaltes dort hatte ich mir nicht viele Gedanken gemacht. Aber es war keine Frage, dass wir zur richtigen Zeit das Land wieder verlassen würden. Als mein Freund mich vor unserer Abreise einmal aufforderte jedes deutschsprachige Buch zu lesen, für das ich Zeit fand, "denn es könnte sein, dass du nicht zurückkommst", maß ich seinen Worten nicht viel Bedeutung bei. Das hätte ich jedoch tun sollen. Aber mein inneres Ohr hörte den Vorschlag, der in dieser Aufforderung enthalten war, nicht.

Er hatte mich auch gefragt, ob ich einen Ring wollte. Ich nahm an, dass er mir die Möglichkeit anbot, nicht allzu unverheiratet auszusehen in diesem fremden Land. Nichtsdestotrotz wurde er mein Verlobter, ohne das sichtbare Zeichen dieses Zustandes.

Mit dem 28. Oktober 1971 war der Tag, den ich gefürchtet aber auch herbeigesehnt hatte, gekommen. Meine Mutter kam mit uns zum Flughafen, wo uns zwei Freunde erwarteten. Ein ständiges Geplapper zwischen uns hielt unsere Gefühle in Schach.

Wir saßen zusammen im Flughafenrestaurant. Die Luft schien spannungsgeladen. Ich wünschte, die Zeit möge stillstehen — gleichzeitig wünschte ich, sie sollte schnell vergehen. Ich erinnere mich nicht an den tatsächlichen Abschied von meiner Mutter oder von unseren Freunden. Der Verdrängungsmechanismus für allzu Schmerzhaftes schien am Werk zu sein. Wenn ich heute diese Stunde, bevor unser Flug aufgerufen wurde, in mein Gedächtnis rufe, fühle ich immer noch den Schmerz der Trennung, vor allem den, den ich meiner Mutter zugefügt habe. Ich erinnere mich, dass ich meinen Freunden dankbar war, meine Mutter nach Hause, in eine nun leere Wohnung, zu begleiten.

In Frankfurt hatten wir einige Stunden Wartezeit hinter uns zu bringen, bis der Flug nach Sydney startete. Dort schließlich ließ sich meine Angst nicht mehr verdrängen, sie machte sich stark bemerkbar. Zweifel ob der Enormität meines Unternehmens verunsicherten mich plötzlich. Diese hatten jedoch nichts mit meinem Verlobten zu tun. Mit ihm fühlte ich mich nach wie vor sicher. Meine Überlegungen, wie er sich in einem Land, das ihm weit weniger fremd vorkommen musste als mir, verhalten würde, waren von abstrakter, intellektueller Natur. Aber die Geborgenheit meine Familie, mein Land und alles was mir vertraut war zu verlassen, stellte ich nun infrage. Für einige Sekunden dachte ich sogar, dass ich noch umkehren könnte. War ich denn verrückt, meine soziale und physische Umgebung, die ich so gut kannte, aufzugeben? Stattdessen würde ich zur Ausländerin werden, in einem unbekannten Territorium, mit Sprachschwierigkeiten, mit neuen, unbekannten sozialen Regeln und Bedingungen. Würde ich auch dort die Gesichter und Gesichtsausdrücke der Menschen einschätzen können, die Semantik ihrer Sprache verstehen? Aber das Fernweh, die Sehnsucht exotische Plätze zu sehen und der Wunsch bei diesem Mann zu bleiben, waren sehr stark. Alle meine Bedenken und Ängste wurden von diesen beiden Punkten überstimmt. Zusammen wollten wir diesen Kontinent, der so weit weg war, erfahren.

Es war mir klar, dass die Gefühle, die wir füreinander hegten, dort getestet werden würden. Beide würden wir Ausländer sein. Weder Familie noch Freunde konnten uns mit ihren Meinungen, Ratschlägen und Kommentaren helfen oder beeinflussen. Wir hatten nur uns. Aus Sicht der Existenzialisten war ich alleine. Vielleicht war es dieser rationelle Teil meines Denkens, der bewirkte, dass ich das Geld für ein Rückflugticket mitgenommen hatte. Es war auch Fakt, dass wir die One-Way-Tickets, die die australische Regierung für uns gesponsert hatte, zurückzahlen mussten, sollten wir vor Ablauf von zwei Jahren das Land wieder verlassen. Mein Verlobter hatte keinen solchen Rückhalt. Ich bewunderte seinen Mut und seine Zuversicht, dass alles gut gehen würde.

Dieser Flug von Frankfurt nach Sydney dauerte insgesamt 26 Stunden, einschließlich der Zwischenstopps in Athen, Karachi, Bangkok und Singapur. Wir flogen durch zwei 6-Stundentage und zwei 6-Stundennächte. Am Ende hatte ich meine Orientierung in der Zeit verloren. Wann musste ich meine Pille schlucken? Mein Partner half mir zu rechnen, die Stewardess empfahl eine 24-Stundenuhr.

Nach dem Start in Singapur ließen Aufregung und Erwartung mein Herz schneller schlagen. Endlich, nach Stunden über dem Meer, kam Land in Sicht. Wir klebten beide am Fenster. Langsam färbte sich der Kontinent unter uns immer rötlicher und blieb so für die nächsten drei Stunden. Außer einem gelegentlichen einzelnen Haus in der Wüste, gab es weder Orte noch Straßen zu sehen. Das muss das berühmte Outback sein, dachte ich.

Mein Verlobter neben mir war vollkommen still. Ich kann mich an keine Kommentare von ihm während dieser Flugstrecke erinnern. Jahre später gestand er, dass er sich jede Minute schlechter und schlechter fühlte. Oh du meine Güte, was habe ich getan, habe er gedacht. Die rote, leere Wüste schien kein Ende nehmen zu wollen.

Allerdings kamen die positiven Lebensgeister angesichts des Grüns der Küste schnell wieder zurück. Sydney, mit seinen Hochhäusern, seinem wunderschönen Opernhaus, seiner eindrucksvollen Hafenbrücke kam in Sicht. We are ready! Lasst uns landen und uns hineinstürzen.

Nach der Passkontrolle winkten uns die Zollbeamten im Warenzollbereich einfach durch. Ich war fast enttäuscht (wenig wusste ich damals über die Menschen vom Zoll). Konnten diese beiden Männer denn nicht sehen, dass ich gerade dabei war, einen monumentalen Schritt in meinem Leben, in ihr Land zu machen? Schließlich war dies eine Sache von gewaltigen Veränderungen für mich: Ich wechselte von der nördlichen in die südliche Hemisphäre der Erde, vom Herbst in den Frühling, von Rechts- auf Linksverkehr, von der deutschen zur englischen Sprache, von Bekanntem zu Unbekanntem, vielleicht sogar von Sicherheitsgefühl zu Unsicherheit und, zumindest für die nächste Zeit, von einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Gefühl des Außenseiterseins.

Diese Überlegungen und Erwartungen hatten sich windmühlenartig in meinem Kopf gedreht und mich so auf die Herausforderungen, die da kommen sollten, vorbereitet. Aber die allmähliche Erkenntnis, dass mit dem Sprachwechsel eine neue Seite meines Verlobten zutage trat, die ich noch nicht kannte, überraschte mich doch. Englisch ist seine Muttersprache, stellte ich in Gedanken fest, als ob ich es noch nicht gewusst hätte. Er klang sicher und nicht so zögerlich, wie in der deutschen Sprache. Seine Rede und Rhetorik war flüssig. Als wir am ersten Tag mit einem Stadtbus in das Zentrum fuhren, ging er voran und übernahm die Führung. Staunend beobachtete ich ihn. Es schien, als ob der Wechsel von seinem bescheidenen Deutsch in seine Muttersprache, beziehungsweise die australische Version, eine Art Metamorphose ausgelöst hätte. Vielleicht hatte die Erfahrung mit seinem Professor für deutsche Sprache auf der University of California, Berkeley, als ein mentaler Bremsklotz gewirkt. Anderweitig nämlich hatte mein Verlobter ein durchaus sehr liberales Verständnis in linguistischen Dingen. Mit schalkhaftem Grinsen hatte er mir von einem Angebot seines Professors erzählt: Er versprach seine Note eine Stufe zu erhöhen, wenn er sich nicht noch einmal für einen Deutschkurs eintragen ließ. So waren wohl die 18 Monate in Deutschland eine Mischung aus dem Genuss, die akademische Art Fremdsprachen zu unterrichten als uneffektiv darzustellen, und dem Ertragen des Spottes wegen der Fehler, die er machte. Sein Konversationsdeutsch hatte sich jedoch durch Zuhören und Sprechen und dem Ignorieren der Lacher sehr verbessert. Sein Professor hätte sich vielleicht sehr gewundert. Am Ende ist linguistischer Mut wohl ein erfolgreiches Werkzeug zum Erlernen einer Fremdsprache.

Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin

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