Читать книгу Als Lilly schlief - Ivy Bell - Страница 16
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Eva ist sehr nervös. Es ist 17 Uhr, also noch nicht zu spät, um bei einer Familie mit kleinen Kindern zu klingeln. Am liebsten möchte sie die Treppe wieder herunterspringen und sich einfach in ihrer Wohnung verkriechen, aber das hieße ja, dass sie erneut in ihr altes Muster verfallen würde. Nein, sie muss ihr Leben endlich in die Hand nehmen, ein Leben, das sich auch so nennen darf. Nicht dieses Dahinvegetieren der letzten Jahre.
Eva drückt entschlossen auf den Klingelknopf. Hinter der Tür bellt der Hund, dann hört sie eine Männerstimme. »Ruhig Fleck, setzt dich in dein Körbchen«, es raschelt und die Tür wird geöffnet. Herr Schulz guckt verdutzt. »Ja bitte, was möchten Sie?« Eva räuspert sich. »Ich würde gerne kurz mit Ihrer Frau sprechen.« Oliver dreht sich um, in dem Moment kommt Sophie schon zur Tür, sieht Eva und stutzt. »Entschuldigung, kennen wir uns?«, fragt Sophie. Eva glaubt erst, das sei die Rache für ihr schlechtes Benehmen in der letzten Zeit, ach was, in den zurückliegenden Jahren, aber dann wird es ihr schlagartig bewusst: Frau Schulz erkennt sie nicht. Sie war beim Friseur, hat sich die Haare färben und schneiden lassen, und trägt sie nun offen, haselnussbraun und halblang. Ein pfiffiger Pony fällt ihr weich in die Stirn, sie hat Make-up aufgelegt und ein Sommerkleid angezogen. Wie soll Frau Schulz sie da auch wieder erkennen, sie hat sie immer nur mit biestigem Gesichtsausdruck, den ewig praktischen, langweiligen Hosen und einem braun-grauen Zopf gesehen. Eva grinst und hält Sophie die Blumen hin, die sie noch besorgt. »Eva Hartung, ich wohne unter Ihnen und ich möchte mich wirklich entschuldigen für den ganzen Stress, den Sie mit mir hatten. Es tut mir ehrlich leid, vielleicht haben Sie mal Zeit und ich kann versuchen, Ihnen meine Situation zu erklären, aber …«, Eva gehen die Worte aus. Ihre Nachbarin mustert sie und sie hat keine Ahnung, was sich hinter der Stirn der hübschen Frau gerade abspielt. »Manchmal müsste man wirklich Gedanken lesen können«, denkt Eva. Sophie schaut zu Boden. »Das mit der Hexe tut mir sehr leid, das war nicht fair«, flüstert sie. Sophie lächelt breit. »Und jetzt passt es zumindest optisch auch gar nicht mehr zu Ihnen.« Die beiden Frauen sehen sich an und müssen grinsen. Sophie geht einen Schritt zur Seite und bittet Eva hinein. »Ich habe Apfelkuchen gebacken, wir können uns doch bei einem Kaffee aussprechen.« »Gerne, das freut mich wirklich sehr.« Die beiden Frauen gehen in die Küche, Sophie deckt den Tisch, schenkt jedem einen Kaffee ein und stellt die Platte mit dem Kuchen dazu. Eva schnuppert. »Hmmm, der duftet aber köstlich.« Die Beiden setzen sich und schauen sich an. Sophie findet ihre Sprache als erste wieder. »Unglaublich, ich hätte Sie überhaupt nicht erkannt. Sie sehen wirklich großartig aus. Wieso sind Sie jahrelang in Sack und Asche herumgelaufen? Oder ist die Frage zu privat?« Eva lächelt. »Vielen Dank, es fällt mir schwer, darüber zu reden, aber ich wollte Ihnen ja erklären, warum ich zu so einer Hexe geworden bin.« »Nein!«, wirft Sophie ein, »bitte nicht mehr dieses Wort, ich schäme mich wirklich ganz schrecklich.« »Ach was, es stimmt doch, ich war eine Hexe. Zuerst möchte ich jetzt gerne wissen, wie es Ihrem kleinen Sohn geht? Ist er wieder zu Hause? Und haben Sie etwas über die junge Frau erfahren, die ihn zur Seite gestoßen und ihn damit gerettet hat?« »Felix geht es erstaunlich gut, er hat den Unfall problemlos weggesteckt. Ich würde die junge Frau, sie heißt übrigens Lilly Vogel, gerne besuchen, aber sie ist anscheinend immer noch bewusstlos. Ich habe neulich im Krankenhaus eine Weile auf ihre Eltern gewartet und mit ihnen gesprochen, die Schwestern dürfen einem keine Auskunft geben wegen der Schweigepflicht. Sie wollten sich bei mir melden, wenn ich Frau Vogel besuchen kann. Wenn Lilly nicht so beherzt eingegriffen hätte, ich möchte gar nicht wissen, wie das ausgegangen wäre …« Sophie schluchzt und ihre Augen werden schon wieder wässrig, wie überhaupt sehr oft in den letzten zwei Tagen. Eva legt ihr die Hand auf den Arm. »Beruhigen Sie sich, Ihr Sohn ist ja zum Glück wohlauf. Wenn ich nicht so biestig reagiert hätte, wäre der Unfall nicht passiert. Ich mache mir schwere Vorwürfe. Aber immerhin hat mich dieses Erlebnis aus meiner Lethargie geholt.« Die beiden Frauen sehen sich an und lächeln. »Wenn ich Ihnen jetzt ein wenig über mich erzähle, wäre es da nicht schöner, wenn wir uns duzen? Ich heiße Eva.« »Das ist eine gute Idee, mein Name ist Sophie.«
Eva räuspert sich und fängt an zu sprechen. Sie erzählt, wie sie Georg kennen gelernt hat, er forderte sie zum Tanzen auf, als sie bei der Hochzeit einer Freundin war. Der höfliche, sehr schick gekleidete Mann ist Eva damals sofort ins Auge gefallen, aber sie war viel zu schüchtern, um ihn anzusprechen. Sie haben den ganzen Abend zusammen getanzt und dann hat Georg sie ins Kino eingeladen, zum Essen, er hat sie bekocht, alles war so wundervoll. Nach einem halben Jahr fragte er Eva, ob sie gemeinsam in eine Wohnung ziehen wollen und Eva glaubte damals, noch glücklicher könne sie kaum werden. Schließlich machte Georg ihr sogar einen Heiratsantrag, es wurde eine schöne, große Feier und eigentlich auch eine glückliche Ehe, bis auf diese eine Sache …. Eva schluckt. Es fällt ihr schwer, darüber mit Sophie zu sprechen, aber irgendwie ist nun ein Knoten geplatzt und sie möchte das endlich auch einmal loswerden. Sophie merkt, dass es ihrer Nachbarin sehr schwerfällt, weiter zu sprechen »Oh mein Gott, was ist dann passiert, ist Georg etwa…?« »Nein, er ist nicht gestorben. Das dachtest du doch? Hmmm, also, wir hatten nicht so oft…. Sex. Georg ist schwul, er hoffte, er könne mit mir trotzdem glücklich werden, er wollte ein normales Leben, dabei ist er ja normal, er liebt nur eben Männer. Ich hätte es bereits auf der Hochzeitsreise nach Spanien merken müssen. Ständig hat er einem Kellner Blicke zugeworfen, aber ich dachte mir nichts dabei. Na ja, vor 12 Jahren konnte Georg dann nicht mehr. Er hatte sich in einen Mann verliebt und wollte endlich so leben, wie er es schon immer hätte tun sollen. Das war hart für mich. Ich fiel in ein tiefes Loch, wurde verbittert, regte mich über alles Mögliche auf. Ich ging nicht mehr zur Arbeit, aber das war mir egal. Ich hatte gespart, ich verkroch mich zu Hause und brauchte nicht viel. Georg machte sich Sorgen um mich und wollte immer wieder den Kontakt zu mir. Er hatte mich nach wie vor sehr gerne, nur verliebt ist er eben nicht in mich, sondern in Dirk, seinen Freund.« Eva guckt zu Boden. Sie horcht in sich hinein und erwartet, den ganzen Schmerz wieder zu fühlen, der sie erfasst hat, als Georg ihr sein Geständnis machte. Komischerweise fühlt sie sich aber bloß erleichtert. Endlich kann sie mal mit jemandem sprechen, alles raus lassen, und das tut ihr überraschend gut. Eva hebt den Kopf und lächelt Sophie an »Weißt du was? Das ist das erste Mal, dass ich so richtig über die ganze Sache rede. Ich habe mich dauernd nur geschämt und eingeigelt, habe meine Familie und Freunde vor den Kopf gestoßen und gedacht, ich bin schuld, ich war nicht gut genug. So ein Quatsch, Georg war schon immer so, ein lieber Kerl mit einem Faible für Männer. Mann, so gut wie der angezogen war, hätte ich das eigentlich gleich merken müssen. Und diese Parfumwolke ….« Eva fängt schallend an zu lachen und Sophie lacht erleichtert mit. Sie hatte schon befürchtet, ihre Nachbarin würde doch noch in Tränen ausbrechen und ihrer verlorenen Liebe hinterher weinen. Aber danach sieht es zum Glück nicht aus. Eva wischt sich Lachtränen aus den Augen. »Das hat richtig gutgetan. Endlich konnte ich mir das alles von der Seele reden.« »Das freut mich, und es ehrt mich, dass du mir so vertraust. Schließlich kennen wir uns kaum.« »Manchmal ist es einfacher, sich jemandem anzuvertrauen, den man noch nicht lange kennt. Ich muss gestehen, dass ich kaum Freunde habe, eigentlich gar keine, nachdem ich mich jahrelang zurückgezogen habe. Das kann nicht gesund sein.« Eva grinst und beginnt, den Apfelkuchen zu essen. »Der ist ja wahnsinnig gut. Bist du Bäckerin?« Sophie lächelt geschmeichelt. »Nein, Backen ist einfach nur ein Hobby von mir. Es entspannt mich, ich ändere gerne Rezepte ab oder denke mir etwas eigenes aus.« Eva schließt genießerisch die Augen, als sie das nächste Stück Kuchen im Mund hat. »Ehrlich, das ist eine Geschmacksexplosion, so einen unglaublich guten Apfelkuchen habe ich wirklich noch nie gegessen. Und ich habe schon so einige gegessen, das kannst du mir glauben. Schmecken deine Kuchen alle so gut? Dann solltest du ein Geschäft aufmachen, es wäre schade, wenn nicht mehr Menschen in den Genuss deiner Kuchen kämen.« Sophie geht wieder der Spruch ihrer Tochter durch den Kopf. »Du kannst so gut erklären, Mama.« Hat sie gesagt. So langsam formt sich ein Gedanke in ihrem Kopf. Vielleicht hat sie mit Evas und Neles Hilfe gerade eine zukunftsweisende Idee.