Читать книгу Als Lilly schlief - Ivy Bell - Страница 8

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2.

Anscheinend ist es Nacht, denn um mich herum scheint es dunkel zu sein. Das Schlimme an meinem Zustand ist, dass ich meine Augen nicht öffnen, mich nicht bewegen kann. Meistens ist alles irgendwie in einem Nebel.

Noch beunruhigender allerdings sind diese erschreckend realistischen Träume. Jedes mal, wenn ich einschlafe, durchlebe ich Ereignisse aus meiner Vergangenheit, aber immer erfahre ich, wie mein Leben sich geändert hätte, wenn ich bzw. jemand in meiner näheren Umgebung damals anders gehandelt hätte. So habe ich in meinem vorletzten »Traum« z.B. festgestellt, dass Mia so oder so meine beste Freundin geworden wäre, auch wenn ich vor 23 Jahren im April NICHT am Dienstag, sondern erst am Donnerstag mit meiner Mama auf den Abenteuerspielplatz gegangen wäre, weil Mia dort eigentlich jeden Tag herumlungerte. Ich konnte mich nur noch sehr dunkel an diesen Tag erinnern, durch meinen Traum wurde er wieder präsent. Damals hatte ich meine Mutter fast zur Weißglut gebracht mit meiner Unentschlossenheit. Der Abenteuerspielplatz war ein wenig weiter von unserem zu Hause entfernt, meine Mutter oder Tante Luise hatten mich damals immer dorthin begleitet. Dieser Spielplatz war für mich etwas besonderes, dort gab es viel mehr Spielmöglichkeiten als auf dem kleinen Babyspielplatz bei mir vor dem Haus. Es gab fünf unterschiedliche Schaukeln, ein tolles Klettergerüst mit Wackelbrücke, zwei Rutschen und einen großen Buddelkasten mit Wasserpumpe.

An diesem besagten Dienstag wollte ich gerne dort hingehen, meine Mutter erklärte sich bereit, mich zu begleiten, aber plötzlich erschien mir meine Puppenstube doch viel reizvoller. Nach einer gewissen Zeit wollte ich doch wieder losziehen, aber dann entdeckte ich ein interessantes, halb fertiges Puzzle usw. Das ging eine Weile so, bis meine Mutter meinte, sie macht dieses Hin und Her nicht mehr mit, Jacke an, Jacke aus, nein, ja, entweder wir gehen jetzt oder gar nicht. Damals habe ich mich schließlich entschieden, auf den Spielplatz zu gehen, an diesem Tag habe ich Mia kennen gelernt.

In meinem realistischen Traum ist die ganze Sache aber anders ausgegangen, meine Mutter hat sich schließlich geweigert, noch loszugehen. Sie meinte, es sei nun zu spät. Alles Flehen half nicht, sie ließ sich nicht mehr erweichen. In meinem Traum sind wir dann zwei Tage später auf den Abenteuerspielplatz gegangen, ohne dass ich permanent unentschlossen und unentschieden war, und siehe da, Mia war auch am Donnerstag dort. Sie sollte mein Dasein wohl bereichern. Einer der wenigen Träume, in denen sich gegenüber meinem wahren Leben nichts geändert hat.

Auch dieses Mal war alles wieder so realistisch, ich fühlte mich wie damals mit 8 Jahren, aber gleichzeitig hatte ich diesen Aha-Effekt, betrachtete alles von Außen mit meinem heutigen Wissen. Ich hatte richtig Angst, dass ich Mia nicht getroffen hätte, wenn ich nicht an jenem besagten Tag doch noch auf dem Spielplatz aufgeschlagen wäre. Umso beruhigter war ich, als ich erfuhr, dass sie so oder so in mein Leben getreten wäre.

Beunruhigend ist allerdings, dass dieser Traum viel länger war als der erste. Ich frage mich, wo das noch hinführt und ob ich irgendwann mal wieder unbehelligt einschlafen kann, ohne diese beunruhigenden Träume. Obwohl es da sicher noch einige spannende Ereignisse in meinem Leben gäbe, an denen ich mich für den einen oder den anderen Weg entscheiden könnte.

Mia war heute auch schon bei mir und hat mir von Ihrem neuen Auftrag berichtet. Sie ist genauso alt wie ich, Single und Grafikerin. Momentan macht sie Illustrationen für ein Kinderbuch. Eigentlich war ich noch mit ihr in unserem Lieblingscafé verabredet, aber dann kam mir ja mein Unfall dazwischen. Sie wollte mir neue Zeichnungen zeigen, nun hat sie mir detailliert davon erzählt. Zwischendurch hat sie wohl ein paar Tränchen verdrückt, ihre Stimme wurde manchmal brüchig und sie schluchzte kurz, um sich danach wieder zu fassen und weiter zu erzählen. Das hat mir klar gemacht, dass ich wahrscheinlich einen ziemlich schlimmen Anblick bieten muss, denn Mia bringt so leicht nichts aus der Ruhe. Sie ist sehr lustig, hat eine große Klappe und ist die schlagfertigste Person, die ich kenne. Beschwerdebriefe schreibt sie grundsätzlich in zwei Ausführungen, eine, die sie nicht verschickt, in die sie aber jede Menge Spitzen und Anmerkungen packt, die sie der anderen Partei gerne sagen würde. Da das jedoch garantiert noch mehr Probleme (und evtl. eine Anzeige wegen Beleidigung) nach sich ziehen könnte, schickt sie diese Version nie ab, speichert sie und versendet dann die überarbeitete, harmlosere Variante. Auf diese Art schreibt sie sich ihren Ärger vom Hals und wir haben danach immer was zu lachen. Heute hat sie mir wieder von den neusten Querelen mit ihrer Hausverwaltung erzählt, ein unerschöpfliches Thema. Sie hat mir von ihrer Mail berichtet, die sie in ihrem ersten Unmut entworfen hat und ich hätte so gerne laut gelacht, weil es so komisch war, aber es ging leider nicht.

Nachdem Mia weg war, bin ich erneut eingedöst und hatte meinen dritten, beunruhigend realistischen Traum.

Ich kann mich noch gut an Frank erinnern, dieser fiese Junge mit dem verschlagenen Gesichtsausdruck. Damals war ich ca. 10 Jahre alt und bekam mit, dass Frank auf dem Spielplatz kleinere Kinder erpresst hat. Ich dachte zuerst, er spielt mit dem Mädchen, aber sie wirkte nicht so glücklich. Ein paar Tage später konnte ich beobachten, wie ein anderer kleiner Junge Frank ein wenig Geld gab. Ich habe damals einen günstigen Moment abgewartet und mit dem Kleinen gesprochen. Zuerst wollte er mir nichts sagen, aber dann gab er schließlich zu, dass Frank von jüngeren Kindern Geld oder kleine Geschenke verlangt, damit sie in Ruhe auf dem Spielplatz spielen können, ansonsten gäbe es Ärger. Der Kleine wollte erst nicht zahlen, wurde dann aber in unbeobachteten Momenten immer wieder von Frank gepiesackt. Er brachte schließlich kleine Spielsachen mit, und an jenem Tag, als ich ihn beobachtet habe, sein Taschengeld. Ich war entsetzt und sprach erstmal mit Mia. Das wollten wir Frank so nicht durchgehen lassen, er hatte eine Lektion verdient.

Mia hatte die Idee, eine alte, leere Filmrolle von Ihrem Vater mitzubringen und Frank gegenüber zu behaupten, man habe ihn bei seiner Erpresserei gefilmt. Wenn er nicht damit aufhören würde, kleine Kinder zu piesacken, werden wir den Film seinen Eltern übergeben. Gesagt, getan. Wir passten Frank alleine ab und erzählten ihm, dass wir über seine üblen Machenschaften Bescheid wussten. Ich weiß noch genau, dass er damals richtig erschrocken reagiert hat und versprach, nie wieder kleine Kinder zu erpressen. Wir haben danach noch mal mit dem Jungen gesprochen, den ich mit Frank beobachtet und danach ausgefragt hatte. Er bestätigte mir, dass er nun seine Ruhe hatte und Frank auch die anderen Kinder in Ruhe ließ.

In meinem Traum lief die ganze Sache aber etwas anders ab.

Frank gab sich uns gegenüber sehr selbstsicher und überheblich, und plötzlich schnappte er sich die Filmrolle und rannte davon. Wir hatten zwar behauptet, noch eine Kopie des Filmes zu haben, da auf der Filmrolle aber nichts zu sehen war, befanden wir uns in einer sehr ungünstigen Situation, um Forderungen zu stellen. Einige Tage später stellte sich mir nach der Schule Frank in den Weg und lachte hämisch. »Auf eurem Film ist gar nichts, nur Schnee, und deshalb werde ich auch weiterhin machen, was ich will und niemand wird mich daran hindern, schon gar nicht ihr.« Hinter Frank tauchte plötzlich noch Bernd auf, ein richtig fieser Typ, um den wir alle einen Bogen machten. Immer schlecht gelaunt und permanent bereit, zu raufen. Bernd stellte sich neben Frank und sagte: »Ihr mischt euch nicht mehr in unsere Angelegenheiten, habt ihr verstanden? Ansonsten wird euch das leidtun.« Dann packte er mich an meinem Schulranzen, schüttelte mir den Ranzen grob vom Rücken, öffnete ihn und verteilte den ganzen Inhalt auf den Bürgersteig. Er warf den Ranzen auf den Boden und grinste mich an. Frank grölte noch: »Lass dir das eine Warnung sein, beim nächsten Mal kommst du mir nicht so einfach davon«, dann gingen beide und ich kniete mich zitternd auf den Boden und sammelte meine Sachen ein.

Ich hatte Angst. Frank war unangenehm für die Kleinen, Bernd konnte ich bis jetzt immer super aus dem Weg gehen, weil er mehr auf dem Bolzplatz war und da mit anderen Jungen herum raufte oder denen die Bälle klaute. Aber nun hatten die beiden mich und wahrscheinlich auch Mia im Auge. Mia. Ich rannte nach Hause und rief bei ihr an, um ihr alles zu erzählen. Wir beschlossen, auf dem Spielplatz die Augen offen zu halten, evtl. war Frank weiterhin alleine unterwegs. Schließlich haben wir vorher nie mitbekommen, dass er mit Bernd befreundet war, Bernd hatte keine Freunde und wir konnten uns nicht erklären, wie die beiden zusammengekommen waren.

Wir trafen Frank aber nicht mehr auf dem Spielplatz an, er fing an, nach der Schule mit Bernd in irgendwelchen Hauseingängen herumzulungern und dort Kinder abzufangen und zu erpressen. Die ganze Sache eskalierte schließlich, als ein kleines Mädchen sich weigerte. Zuerst wurde sie nur geschubst, aber als sie am nächsten Tag immer noch nicht zahlen wollte, schlug Bernd das Mädchen so übel ins Gesicht, dass sie ungünstig stürzte und sich den Arm brach. Da der damals 14 jährige Bernd schon häufiger auffällig geworden war und seine Eltern sich nicht um ihn kümmerten, kam er in eine betreute Wohngruppe für schwer erziehbare Jugendliche.

Wir haben eine Zeit lang nichts von Bernd gehört und auch Frank begegneten wir kaum, aber ein paar Jahre später sahen wir die zwei in den Nachrichten. Sie hatten sich als Handwerker getarnt Zugang zu Wohnungen von älteren Menschen verschafft. Während der eine den Bewohner in ein Gespräch über angeblich notwendige Reparaturen verwickelte, hatte der andere Wertsachen geklaut. Eines Tages bemerkte ein Mann den Diebstahl und wollte seine Sachen, da zückte Bernd ein Messer und stach ihn nieder. Er starb in seiner Wohnung, eine Nachbarin hatte ihn zwar schreien gehört und die Polizei gerufen, aber der Mann hatte zu viel Blut verloren, er war schon tot, ehe die Polizei eintraf.

Ich sehe im Traum den Fernsehbericht von der erfolgreichen Festnahme von Bernd und Frank, da wache ich plötzlich auf, bemerke durch meine geschlossenen Lider, dass es immer noch stockdunkel um mich herum ist, und bin schweißgebadet.

Gut, dass wir Frank damals unter Druck setzen konnten, erst neulich habe ich ihn gesehen, als er abends in die Kneipe ging, in der er kellnert. Krumme Dinger hat er nie gedreht. Nachdem wir ihn mit unserer Filmrolle erschreckt hatten, hielt er sich von den anderen Kindern fern und mit Bernd war er auch nie befreundet. Der ist nämlich ein paar Monate, nachdem wir Frank so erfolgreich die Hände gebunden haben, bei einem selbst verschuldeten Unfall mit einem geklauten Moped gestorben.

Ob das alles wirklich so gekommen wäre, wenn Mia und ich Frank damals nicht mit unserem Trick in die Schranken gewiesen hätten? Was wäre dann noch alles passiert? Warum habe ich solche Träume? Ich soll doch gesund werden, da kann man wohl erwarten, dass man im Schlaf nicht so schrecklich gestresst wird. Ich sollte von schönen Dingen träumen, z.B. von sonnigen Sandstränden in der Karibik, einem fruchtigen Cocktail in meiner Hand und Jan, der mir den Rücken mit Sonnenmilch eincremt. Das wäre entspannend, aber nein, ich muss ja mein Leben neu träumen.

Ich liege noch eine Weile im Dunkeln, bin verwirrt und denke über meinen Unfall nach. Ich ärgere mich, dass ich meine Augen, obwohl ich doch wahrscheinlich wach bin, einfach nicht öffnen kann, bis ich schließlich wieder einschlafe.

Als Lilly schlief

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