Читать книгу Als Lilly schlief - Ivy Bell - Страница 7
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ОглавлениеIrgendetwas schmeckt nach Metall, um mich herum Stimmen, Hektik, grelles Licht. Ein Pochen im Hinterkopf, jemand öffnet mein linkes Auge, leuchtet mit einer Taschenlampe hinein, viel zu hell. Es schmerzt, dann ist alles dunkel…
Ich komme wieder zu mir und habe keine Ahnung, wo ich bin und was mit mir passiert ist. Da mir meine Umgebung finster erscheint, denke ich, ich bin wohl gestorben. Sehr traurig, ich bin so erschüttert, dass ich weinen möchte, aber das geht nicht so richtig. Ich kann mich kein bisschen bewegen und sehe auch überhaupt nichts. Hoffentlich bin ich nicht blind, das stelle ich mir ganz schrecklich vor. Manchmal stellt man sich mit seinen Freundinnen doch diese Fragen, was wäre schlimmer, blind sein oder taub. Ich fand es immer furchtbarer, nichts mehr sehen zu können, nicht zu wissen, wo ich langgehe, ob mir Hindernisse im Weg liegen, ob jemand hinter mir ins Haus schleicht. Obwohl es auch schrecklich wäre, keine Musik mehr hören zu können, kein Vogelgezwitscher, nie wieder das Rauschen des Regens. Immerhin, denken kann ich noch, das beruhigt mich schon mal. Wenigstens mein Kopf scheint noch zu funktionieren, wenn er nur nicht so schmerzen würde…
So langsam erinnere ich mich an ein paar Dinge. Da ist ein kleiner Junge, so süß und tapsig, eine junge Frau, die sich mit einer verbitterten älteren Dame streitet. Auf den Jungen achtet keiner, er hat hellblonde Wuschelhaare, ein sonniges, herzförmiges Gesicht mit großen, blauen Augen. Er ist ca. 2 Jahre alt, trägt ein weißes T-Shirt und eine grüne Latzhose und zu meinem Erschrecken geht er zielsicher auf die Straße zu. Die Ampel ist rot, ein Schrei. Mein Schrei? Ich renne auf den Jungen zu, stoße ihn weg und dann spüre ich einen dumpfen Stoß, danach nichts mehr.
Ich kann die Bilder nicht so recht zuordnen, das Nachdenken fällt mir schwer, macht mich so unendlich müde. Bin ich nun tot oder nicht? Falls ja, wieso fühle ich mich so matt und zerschlagen? Wenn man nun für immer schlafen kann, dürfte man doch gar nicht erschöpft sein. Überhaupt, hieß es nicht, dass man nichts spürt, wenn man nicht mehr lebt? Mir ist aber eindeutig sehr warm. Könnte an der dicken Decke liegen. Das hier scheint allerdings kein Sarg zu sein, es wirkt alles eher wie ein Zimmer.
Irgendwie fühle ich mich auch so merkwürdig angebunden, irgendwas hängt an meinem linken Arm und über mir piepst etwas.
Die Müdigkeit wird stärker, meine Augen bekomme ich sowieso nicht richtig auf, um mich herum wird alles schwarz.
Ich sehe mich als sehr kleines Mädchen, etwa drei Jahre alt. Ich tobe mit meinem Papa durch den Schnee, wir sind ausgelassen und lachen viel. In der Nähe ist ein niedlicher See, auf dem ein paar Leute Schlittschuh laufen, aber an einer Seite ist der See abgesperrt. Die ganze Szene ist surreal, ich kann mich als Dreijährige sehen, aber gleichzeitig spüre ich die Empfindungen, die ich damals hatte. Als würde ich von oben auf die Szenerie schauen und trotzdem mittendrin stecken. Ich kann auch meinen damals sechsjährigen Cousin sehen, den ich heute nur noch »Großmaul-Tom« nenne, damals war er ganz niedlich, das hat sich leider total geändert.
Mein Onkel taucht ebenfalls auf, ausgelassen tobt er mit uns herum. Plötzlich zwinkert er meinem Papa, seinem Bruder zu und gemeinsam kreisen sie Tom ein, um ihn einzuseifen. Mein d reijähriges Ich ist indes sehr fasziniert von dem rot-weiß glänzenden Absperrband, ich laufe zielsicher darauf zu, schließlich achtet gerade keiner auf mich. Es ist verrückt, ich möchte schreien, meinen Papa rütteln, dass er auf seine kleine Tochter schaut, gleichzeitig sehe ich das Absperrband vor mir, ich renne, rutsche, falle und dann ist um mich herum alles nass und sehr kalt, ein brennender Schmerz in meiner Lunge, dann nichts mehr.
Das nächste, was ich sehe, sind meine Eltern, verweint, fertig. Sie stehen vor einem Grab, ich kann die Inschrift sehen und erstarre. Es ist mein Grab und ich bin nur drei Jahre alt geworden….
Plötzlich spüre ich einen Stich und bin anscheinend wieder in der Gegenwart. Das kann doch nicht wahr sein, ich verstehe nichts mehr. Wenn das ein Traum war, dann ein sehr realer. Meine Eltern haben mir von diesem Tag oft erzählt, aber damals bin ich nicht gestorben. Mein Onkel hat mich ins Eis stürzen sehen, ist mit meinem Papa zu mir gerannt und dann sind sie auf dem Bauch zu mir gerobbt und haben mich aus dem Eis gezogen. Sie haben mich dann schnell in ein Restaurant in der Nähe gebracht, dort wurde ich mit Decken warm gerubbelt bis der Krankenwagen kam. Ich lag ein paar Tage im Krankenhaus, aber dann war ich wieder in Ordnung. Warum jetzt dieser Traum, und wieso fühlte sich das so real an, als wäre ich da und es passiert alles wirklich?
Um mich herum ist Hektik, etwas steckt in meinem Arm und ich höre eine männliche Stimme, die ich nicht kenne. Ich bekomme meine Augen nicht geöffnet, sie sind bleischwer, aber es muss hell sein. Da ich gerade sowieso nichts anderes tun kann, beschließe ich, zunächst mal der Männerstimme zu lauschen.
»Sie hat mehrere gebrochene Rippen. Das Auto hat sie erwischt, sie wurde über die Fahrbahn geschleudert und schlug mit dem Kopf hart gegen einen Laternenpfahl, soweit wir es bis jetzt beurteilen können, hat sie aber keine schweren Kopfverletzungen.« »Sie ist eben ein Dickschädel, schon immer gewesen. Können Sie uns sagen, wann sie aufwachen wird?« Moment mal, das war meine Tante Luise, was macht die hier? Wenn sie auch hier ist, dann kann ich doch eigentlich nicht tot sein??? Und was quatscht der Typ da von einem Auto??? Dann war das mit dem kleinen Jungen anscheinend real, ich habe ihn wirklich gesehen, wie er über die Straße laufen wollte und bin ihm hinterhergelaufen, ohne auf mich zu achten. Wie es ihm wohl geht? Ich hoffe, er hat nicht so einen Schädel wie ich jetzt gerade.
»Wir haben bereits eine Computertomografie durchgeführt, um Blutungen im Gehirn ausschließen zu können. Ich hatte zunächst vermutet, dass sie ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma hat und die anhaltende Bewusstlosigkeit daher kommt, aber danach sieht es nicht aus. Wir müssen sie allerdings gut beobachten, um eventuell noch auftretende Blutungen richtig zu behandeln. Sie atmet selbstständig, das ist sehr gut. Ihr linker Arm ist gebrochen, am linken Fuß hat sie überdehnte Bänder, geprellte Rippen und viele blaue Flecken und Schürfwunden. Ihr Körper schützt sich sozusagen selbst, indem er sie in diesen tiefen Schlaf versetzt. Vermutlich hat sie einen starken Schock erlitten.« Luise seufzt. »Kann ich irgendetwas für sie tun?« »Das haben ihre Eltern und ihr Freund vorhin auch schon gefragt. Es tut ihr gut und hilft ihr, wenn Sie da sind, mit ihr reden. Sie wird sich bestimmt bald wieder erholen«.
Dann hatte ich wohl einen Unfall, anscheinend einen etwas schwereren. Schön, dass meine Eltern und Jan auch schon bei mir waren. Komisch, dass ich davon gar nichts mitbekommen habe.
Ich bin immer noch so müde und kann mich auf das Gespräch zwischen dem Arzt und meiner Tante nicht richtig konzentrieren. Immerhin weiß ich nun, wo ich bin und was so ungefähr mit mir los ist. Dass ich lebe, ist natürlich schön und erleichtert mich sehr, obwohl, wenn ich so über mein bisheriges Leben nachdenke, was habe ich denn groß geleistet? Hätte mich überhaupt jemand lange vermisst? Gut, meine Eltern mit Sicherheit, und vielleicht auch Jan, aber sonst? Zu mir gibt es doch gar nicht viel zu sagen, Ich heiße Lilly und bin 31 Jahre alt. Vor Kurzem bin ich mit Jan zusammengezogen, und konnte tatsächlich endlich meinen ersten, richtigen Arbeitsvertrag unterschreiben. Nachdem ich weder vor dem Abitur noch danach genau wusste, was ich möchte, habe ich zunächst angefangen, BWL zu studieren. Somit tat ich also genau das, was alle Abiturienten machen, die noch nicht wissen, was sie werden wollen. Da mich das Studium nicht besonders interessierte, fiel ich sowohl im ersten als auch im zweiten Semester durch fast alle Prüfungen. Daraufhin jobbte ich eine ganze Weile vor mich hin, sehr zum Unmut meiner Eltern. Irgendwann bin ich dann bei McDonalds gelandet. Der permanente Essensgeruch hat allerdings dazu geführt, dass ich dauernd irgendetwas in mich hineingestopft habe und 5 Kilo zunahm, alle an den Oberschenkeln bzw. am Po. Immerhin habe ich dort auch Jan kennengelernt, er hat ab und zu einen Burger bei mir gekauft, später manchmal einen Salat. Ich bin ja der Meinung, dass er immer mehr zum Grünzeug überging, je mehr Kilos ich auf die Waage brachte, aber das streitet er ab. Er behauptet, er hätte meinen Hintern sowieso nie gesehen, da ich so klein bin, dass mein Unterkörper völlig hinter dem Tresen verschwindet. Außerdem, so sagt er, wäre ihm das eh nicht aufgefallen, er war vom ersten Augenblick an hingerissen von meinen hellgrünen Augen und meinen dunklen Wuschelhaaren, den Rest hat er angeblich gar nicht wahrgenommen. Irgendwann fragte er mich, ob ich mit ihm ausgehen möchte und da er mir bereits seit einiger Zeit gefiel, sagte ich zu. Da wir uns auch jenseits des Fast Food-Tresens gut verstanden dauerte es nicht so lange und wir waren ein Paar. Die zusätzlichen Kilos war ich dann schnell los, wenn ich frisch verliebt bin, esse ich nur das nötigste. Der Job bei McDonalds machte mir keinen Spaß mehr, außerdem stank ich danach immer nach dem Fett aus der Fritteuse. Jan hat mir damals einen Job bei seinem Vater vermittelt. Er ist Architekt, ein recht erfolgreicher mit eigenem Architekturbüro, und brauchte dringend eine Unterstützung, nachdem seine Sekretärin sich in den Mutterschutz verabschiedet hatte. Da ich durchaus in der Lage bin, Telefonate zu führen, Briefe zu tippen und Termine zu koordinieren, stellte er mich vorübergehend als Aushilfe ein. Durch diesen Job kam ich auf die Idee, Architektur zu studieren. Da ich aber noch lieber Innenräume gestalte, statt Häuser zu konstruieren, wurde ich Innenarchitektin. Ein toller, kreativer Beruf, vor allem einer, bei dem man wirklich schwer einen Job findet. Komischerweise rannten mir die Schönen und Reichen in unserer Stadt so gar nicht die Bude ein, um sich von mir ihre Räumlichkeiten verschönern zu lassen. Da hatte ich nun ein Studium abgeschlossen, sogar erfolgreich, und fand keine Arbeit. Ich jobbte kurzzeitig in einem Copyshop, aber irgendwann hatte ich auch Glück. Ein Jahr vor meinem Unfall wurde ich von einem Möbelhaus eingestellt, um dort die Verkaufsflächen zu gestalten. Man gab mir ein Thema vor, z.B. Wohnzimmer einer Familie mit zwei Kindern, ein paar Möbel wurden gestellt und dann konnte ich mit meinem Team die Fläche so herrichten, dass die Kunden hoffentlich Lust bekamen, sowohl die Couch als auch die Deko, die Tapeten und die Vorhänge zu erwerben. Zwar arbeitete ich nicht für Privatpersonen, wie ich es zunächst gedacht hatte, aber ich konnte einen Raum gestalten und war glücklich. Ärgerlich ist nur, dass immer, wenn ich erzähle, was ich in dem Möbelhaus mache, die Leute ausrufen »Ach, du bist Dekorateurin!« Das ist natürlich ebenfalls ein schöner Beruf, aber ich bin eben Innenarchitektin und für die gesamte Gestaltung eines Innenraums zuständig, auch wenn es sich nur um einen fiktiven handelt.
Mein Freund Jan hat Medizintechnik studiert und entwickelt medizinische Geräte. Eigentlich wollte er gerne Arzt werden und hat nach dem Abitur sofort ein Praktikum in einem Krankenhaus gemacht. Dabei stellte er aber zwei Dinge fest: Erstens: Er bildete sich dauernd ein, diverse Krankheiten, mit denen er gerade zu tun hatte, auch zu bekommen. Ständig hat er nach seinem Dienst in Büchern nachgelesen, worum es bei den verschiedenen Erkrankungen geht und dann sämtliche Anzeichen bei sich selbst beobachtet. Das ist für einen angehenden Arzt sehr unvorteilhaft, andauernd unter den Krankheiten zu leiden, die seine Patienten gerade haben.
Zweitens: Er kann überhaupt kein Blut sehen. Dies zeigte sich bereits, als er eine Stunde in der Ersten Hilfe Dienst hatte und ein Mann mit einer stark blutenden Wunde an der Hand auf ihn zu kam und ihn fragte, wo er sich anmelden müsse. Jan fiel einfach in Ohnmacht, direkt vor dem armen, verletzten Mann, der dann übrigens Jan sehr routiniert in die stabile Seitenlage gebracht und Hilfe geholt hat. Diese zwei Episoden tragen in unserem Freundeskreis immer wieder zur Erheiterung bei, so nach dem Motto »Wenn Jan eine eigene Arztpraxis hätte, wäre die ständig wegen Erkrankung des Herrn Doktors geschlossen … hahaha«. Zum Glück hat ein sehr netter Arzt Jan dann auf die Idee gebracht, Medizintechnik zu studieren, so kann er an der Entwicklung neuer medizinischer Geräte oder Prothesen mitwirken, arbeitet auch wie gewünscht im Gesundheitswesen, muss aber niemanden untersuchen, verbinden oder gar aufschneiden. Der perfekte Job für einen kleinen Hypochonder.
Jedenfalls ist doch ersichtlich, dass ich in den letzten 31 Jahren nichts Großes geleistet habe. Ich habe keine weltverbessernden Erfindungen gemacht, keine Waisenhäuser gebaut, keine Kinder bekommen, nichts Bleibendes erschaffen. Momentan bin ich sehr deprimiert.
Tante Luise streichelt mir über die Wange und nimmt meine Hand. »Kind, was machst du bloß für Sachen. Rennst auf die Straße und lässt dich von einem Auto umfahren. Aber ehrlich, ich bin stolz auf dich, der kleine Junge wäre ohne dein mutiges Eingreifen sicher tot. Seine Mutter erkundigt sich dauernd nach dir, sie macht sich solche Vorwürfe, dass sie ihren Kleinen aus den Augen ließ und du nun dafür büßen musst.« Ach Luise, ich würde so gerne mit dir reden, aber es geht nicht. Ich bekomme meinen Mund nicht auf, kann nicht mal blinzeln oder ihre Hand drücken.
Luise ist die Zwillingsschwester meiner Mutter, allerdings sind sie zweieiige Zwillinge, was man nicht nur sieht, sondern auch merkt, denn die zwei sind sehr verschieden. Gemeinsam haben sie ihr großes Herz, sie können beide zuhören und haben oft gute Ratschläge, wenn man mit Problemen zu ihnen kommt. Meine Tante ist aber viel verrückter als meine Mutter, eine sehr auffällige Frau, die ihr Geld mit dem Schreiben von Groschenromanen verdient. Sie schreibt die Heftchen allerdings unter einem Pseudonym, sehr erfolgreich, doch die meisten ihrer Freundinnen wissen gar nicht, woher sie ihr Einkommen hat. Luise ist groß, kurvenreich, mit langen blonden Haaren, die ihr in Wellen über die Schultern fallen und immer schick im Kostüm gekleidet, was sie aber nie davon abhielt, im Sommer mit mir auf Spielplätzen herumzutollen. Die Frau kann ewig und überall in Pumps herumlaufen. Meine Mutter ist dagegen eher klein, schmal, mit dunklen, ganz glatten Haaren, um die ich sie glühend beneide. Ich habe die komischen Wuschelhaare von meinem Papa geerbt. Ich hasse Regen oder hohe Luftfeuchtigkeit, weil meine Haare sich dann immer total wirr kringeln und ich nie weiß, was sie als Nächstes vorhaben. Bei schönem Wetter kann ich sie sogar zähmen und habe dann wenigstens eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Mama.
Luise hält meine Hand und seufzt. »Was könnte ich dir denn erzählen? Der nette Arzt meinte, wir sollen viel mit dir reden, du würdest alles hören, aber das ist so schwer, wenn man keine Antwort bekommt. Vielleicht sollte ich dir was vorsingen…« Oh nein, bitte nicht. Luise kann eine Menge, singen gehört allerdings nicht dazu. Sie schafft es, mit einer Karaoke-Einlage eine Bar zu leeren, aber sie will das nicht wahrhaben und ist der Meinung, sie hätte eine schöne Singstimme. Zum Glück entscheidet sie sich anders und redet noch ein wenig mit mir, irgendwann höre ich sie gar nicht mehr, ich bin schon wieder ganz woanders.