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Drittes Kapitel Pest an Bord

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Die Sonne hatte den Zenit schon überschritten, als unsere kleine Reisegesellschaft den Hafen von Kyrenia erreichte. Die Abreise verzögerte sich ein wenig durch das unverhoffte Auftauchen Captain Sean MacLeans. Der Schiffsjunge hatte uns bei unserer Unterkunft abgeholt. Er stellte sich als Ridvan vor, was im arabischen Wächter des Paradieses bedeutet, also Engel. Nun ja, wie ein Engel wirkte der kleine Kerl nicht auf mich. Sein verschmitztes Lächeln ließ eher den Schluss zu, dass er ein Engel mit B am Anfang war. Aber er war uns behilflich, unser Gepäck zum Hafen zu befördern, das allerdings durchaus überschaubar war. Dafür ließ er sich dann auch zu gern von mir mit einem Geldstück entlohnen, welches geschwind in seinem Gewand verschwand. Ich nahm an, dass sein Kapitän bei Kenntnis der Entlohnung diese in seine Obhut genommen hätte, was der kleine Kerl aber zu verhindern wusste.

An der Kaimauer erwartete uns ein kleiner Frachter von fast dreißig Metern Decklänge. Die Segel waren gerefft und er entbehrte jeglichen Zusatzantriebs wie etwa dem komfortablen Dampfantrieb der Marley. Die Fahrt zurück an die levantinische Küste würde also etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Hinfahrt nach Zypern. Das Schiff, das uns erwartete, war eine Brigantine, wie ich an den zwei Masten erkannte. Diese Sorte Segelschiff vereinbart die Vorzüge der Brigg mit denen des Schoners. Am vorderen Mast, also dem Fockmast, war sie mit drei Rahsegeln bestückt. Mit denen konnte sie den Wind von achtern besser nutzen als ein Schoner. Am Großmast dagegen führte sie ausschließlich Schratsegel, mit denen sie höher am Wind segeln konnte als eine Brigg. Dies war auch notwendig, um uns wieder in arabische Gefilde zu befördern, denn hauptsächlich würden wir gegen den Wind kreuzen müssen, den Sharki, der uns aus Südosten entgegenwehte.

Doch zunächst wehte uns der Kapitän der Shams Albahr über Deck entgegen. Sein rotbraunes Lockengewirr und der Backenbart wirkten kein bisschen arabisch. Sie erinnerten mich eher an unseren alten Bekannten Captain Terbut.

„Seid mir willkommen, Freunde“, begrüßte er uns überschwänglich und schritt über die ausgelegte Planke, welche als Fallreep diente, vom Schiff auf den Kai. „Die Sonne des Meeres soll für Euch leuchten.“

„Habt Dank, Kapitän …“, erwiderte ich mit einem fragenden Blick.

„Kapitän Geoffrey Abdulwahab, Sir“, stellte er sich daraufhin vor. „Zu Euren Diensten.“ Er deutete eine Verbeugung an. Der Name war recht verwirrend, hatte er doch sowohl englische als auch arabische Anteile. Aber mochte ich den Mann nicht ausfragen. Dies war auch nicht nötig, wie sich alsbald herausstellte, denn er entpuppte sich als eine wahre Quasselstrippe, wie man in meiner Heimat zu sagen pflegt.

„Sir Kara Ben Nemsi, nehme ich an?“

„Ja, Kara Ben Nemsi, ohne Sir.“

„Na dann: Mister Kara Ben Nemsi.“ Ich erwartete fast, dass er die Hacken zusammenschlagen würde, was er jedoch nicht tat. Es hätte wohl auch recht seltsam ausgesehen, denn er trug keine Militärkleidung, sondern rote Pluderhosen mit einer gelben Schärpe gegürtet und dazu eine ebenfalls rote Weste. „Sie wundern sich sicher über meinen Namen“, fuhr er fort.

„In der Tat“, bekannte ich, „ist er mir aufgefallen.“

„Meine Mutter war Schottin. Eine wahre Schönheit mit flammendem Haar. Allerdings heiratete sie meinen Vater – sagen wir mal: nicht ganz freiwillig.“

„Aha, wieder einer von diesen Sklavenhändlern“, mischte sich Halef ein.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“, fragte der Kapitän und grinste Halef herausfordernd an.

Mein guter Freund holte tief Luft und erklärte ihm in einem Atemzug: „Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.“

„Ein großer Name für einen kleinen Kerl.“ Der Kapitän lachte und Halef blickte ihn mürrisch mit zusammengekniffenen Augen an.

„Die Größe eines Mannes berechnet sich nicht nach seiner Körperlänge“, antwortete er stolz.

„Da muss ich Ihnen Recht geben, Mister Hadschi Halef Omar. Und was meinen Vater betrifft – darüber sollten wir das Tuch des Schweigens ausbreiten. Er weilt zudem nicht mehr unter uns.“

Der Kapitän machte eine einladende Geste und Halef und ich betraten das Schiff. Wir reichten den Frauen die Hand, um ihnen an Bord zu helfen. Natürlich war das bei Djamila nicht von Nöten. Sie sprang ganz in Piratenmanier auf die Planken und zog sofort die Blicke der Männer auf sich. Es lag ihr immer noch im Blut, sich wie eine Piratin zu geben. Amscha und Hanneh nahmen unsere Geste dankend an, wohl auch, um nicht aufzufallen. Die Mannschaft des zwielichtigen Kapitäns hatte an den Masten Positur bezogen, bereit, das Schiff aus dem Hafen zu manövrieren. Auf dem Achterdeck stand der Steuermann und mittschiffs waren noch einige Männer damit beschäftigt, Kisten und Fässer im Laderaum zu verstauen. Als Haschim das Schiff betrat, blickten einige der Männer auf. Unser Scheik schien ihnen nicht zu behagen. Er fiel durch seine große Gestalt auf, doch war das sicher nicht der einzige Grund.

„Scheik Haschim, nehme ich an?“, fragte der Kapitän.

Haschim nickte bejahend. „Danke für die freundliche Aufnahme.“

„Oh, es ist mir eine Ehre“, säuselte der Kapitän. „Und was das Entgelt für die Passage betrifft …“, fuhr Abdulwahab fort. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen und entblößte eine Reihe gelber Zähne.

„Ich gehe davon aus“, sagte ich freundlich, nahm den Henrystutzen von der Schulter und stützte mich auf den Lauf, „dass Lord Lindsay Sie bereits überaus reichlich für Ihre Freundlichkeit entlohnt hat.“

Der Kapitän schaute mich mit offenem Mund an, da ich ihn mitten in seinem Satz unterbrochen und diesen zudem in eine andere Richtung gelenkt hatte, als er offensichtlich beabsichtigt hatte. Er warf einen Blick auf mein Gewehr, dann wieder in mein Gesicht, dann auf den Bärentöter über meiner Schulter und schließlich blickte er mir erneut in die Augen und begann verlegen zu lächeln.

„Sie haben durchaus Recht, Mister Kara Ben Nemsi. Sir David Lindsay war überaus großzügig. Allah wird ihn dafür beschützen.“

„Nun“, entgegnete ich, „hoffen wir, dass er dies nicht nötig hat und sich in sicherer Hut befindet.“

„Gewiss, gewiss, Mister Kara Ben Nemsi. Mit seinem flotten Boot hat er Kreta sicher bald erreicht, wenn er nicht sogar in diesem Moment schon vor Anker geht.“

Ich fand es recht merkwürdig, dass der Kapitän so genau über Lindsays Pläne informiert war. „Was wissen Sie über seine Absichten, Kapitän?“

„Ach, nicht viel. Nur was mir der Lord selbst erzählte. Dass er nach Kreta wollte, um einem Freund behilflich zu sein.“

„Wann haben Sie mit dem Lord denn gesprochen? Er war doch schon längst auf See, als Sie hier eintrafen.“

Der Kapitän blickte mich an, als hätte ich ihn bei einer Untat ertappt. Bevor er mir Rede und Antwort stehen konnte, eilte einer seiner Männer herbei und meldete, dass wir unsere Kabinen beziehen könnten.

„Dann wollen wir mal“, sagte Abdulwahab sichtlich erleichtert über die Unterbrechung. „Die Damen möchten sich bestimmt etwas ausruhen. Wir werden bald auslaufen und dann wird uns der Smutje etwas Köstliches zum Abendessen zubereiten. Bis dahin können Sie es sich in Ihren Quartieren gemütlich machen. Wir haben nicht allzu viel Platz, insofern habe ich eine Kabine für die Damen und eine für die Herren herrichten lassen. Ich hoffe, das ist in Ihrem Sinne.“

„Es wird für die Überfahrt sicherlich genügen. Vielen Dank.“

Abdulwahab gab seinem Mann ein Zeichen und dieser führte uns achtern einen Niedergang hinunter. Wir folgten ihm in den Bauch des Frachters. Geraden Wegs konnte ich eine Holztür mit reichlichen Verzierungen erkennen, die, so dachte ich bei mir, zur Messe führte, falls solch ein kleines Schiff dergleichen besaß. Nun, es würde zumindest eine Art Aufenthaltsraum für den Kapitän und seine engeren Vertrauten sein, die man auf einem Kriegsschiff als Offiziere bezeichnen würde. Dort wurden die Mahlzeiten eingenommen und vielleicht mochte es auch dem Kapitän als Unterkunft dienen. Zunächst erkundeten wir unsere Kabinen, die links und rechts eines kleinen Gangs lagen. Sie waren sehr beengt, da jeweils eine dritte Liege hineinbugsiert worden war. Doch für die Überfahrt sollte uns das genügen, redeten wir uns ein. Die Frauen wollten sich ein wenig erfrischen und wir Männer zogen uns deshalb in unsere eigene Kajüte zurück. Ein Bullauge ließ uns einen kleinen Ausblick auf die Hafenmole. Die Frauen blickten im Moment wahrscheinlich auf die Kaimauer. Doch bald würde uns der Ausblick vom Wasser des offenen Meers bevorstehen. Auf Deck hörten wir nämlich nun Rufe und Kommandos.

„Ich werde mir das Auslaufen von Deck aus ansehen. Möchtest du mich begleiten, Halef?“ Mein Gefährte wirkte reichlich blass.

„O nein, Sihdi. In mir steigen gerade die Erinnerungen an unsere Überfahrt nach Zypern auf. Ich denke, ich werde das Auslaufen besser von hier aus betrachten.“

„Wie du meinst, Halef. Aber an Deck, an der frischen Seeluft lässt es sich besser ertragen, wenn man nicht ganz seetüchtig ist.“

„Sihdi, geh ohne mich hinauf. Mir ist schon jetzt ganz flau bei dem Gedanken an die Überfahrt.“

„Willst du mit an Deck, Haschim?“

„Ja, Kara, ich werde gern diese Insel noch einmal vom Meer aus betrachten.“

So verließen Haschim und ich Halef und begaben uns an Deck. Die Mannschaft hatte alle Hände voll zu tun und der Kapitän bellte seine Kommandos. „Klar zum Ablegen! – Leinen los! – Rahsegel setzen! – Ruder zehn Grad backbord!“

Kurz darauf begann sich die Brigantine in Bewegung zu setzen. Die Shams Albahr löste sich vom Pier und glitt behäbig der Hafenausfahrt entgegen. Haschim stand neben mir und betrachtete Kyrenia. Die kleine Stadt schmiegte sich im Halbrund um den Hafen. Das Minarett der Moschee erhob sich hinter den Dächern der dicht gedrängt stehenden Häuser wie ein Leuchtturm aus den Fluten des Meers. Zwischen den Mauern ragte das Grün von Palmen, Bäumen und Blütensträuchern hervor. Dahinter erhoben sich die Kyrenia-Berge, die der Stadt ihren Namen gegeben hatten, wie eine blaugrüne zerklüftete Mauer. Aus diesen Zacken und Graten stach ein markanter Kalksteinfelsen besonders hervor. Wie daraus erwachsen thronte auf dessen Graten die Burganlage Sankt Hilarius. Ich bedauerte, dass die Zeit und die Umstände es nicht erlaubten, dieses Zeugnis vergangener Zeiten selbst zu betreten und zu erkunden und in den Ruinen der Türme und Bastionen die ehemalige Pracht und den königlichen Glanz dieser Burg erfühlen zu können. Nun, vielleicht würde mich mein Weg irgendwann einmal wieder hierher führen.

Die Brigantine passierte nun die Festung Kyrenias, deren sandfarbene Mauern bis in das Hafenbecken reichten und, im Gegensatz zu Sankt Hilarius’ Eleganz, wie eine Steinbarriere gegen ungebetene Gäste wirkten. Dahinter begann die See. Der Wind surrte in den Seilen und blies einen steten Summton vom Mast zu uns herunter. Kaum hatten wir den umfriedeten Hafen verlassen, erschollen erneute Kommandos und die Focksegel, restlichen Rahsegel sowie die Schratsegel am Großmast wurden gehisst. Das Tuch knallte laut, als es vom Wind erfasst und gebläht wurde. Die Sonne des Meeres neigte sich leicht zur Seite. Die Planken knarzten. Unter vollen Segeln flogen wir über die raue See nach Osten dem Karpas folgend, dieser langgestreckten Halbinsel Zyperns, die wie ein drohender Finger nach Nordosten wies.

„Der Kapitän scheint etwas vor uns zu verbergen“, vertraute ich Haschim meine Gedanken an. Ich hatte meine Stimme gesenkt, sodass nur er es zu hören vermochte. Mein Freund stand an der Reling, beide Hände auf das Geländer gestützt, und schaute zur Küste. Der Wind griff in sein Gewand und ließ es geheimnisvoll seine große schlanke Gestalt umwallen. Als er mir antwortete, sah er mich nicht an, sondern blickte weiter in Richtung des Eilands, welches wir nun verließen.

„Da magst du Recht haben, Kara Ben Nemsi. Ich habe ein ungutes Gefühl bei dieser Unternehmung.“

„Wir sollten Geoffrey Abdulwahab im Auge behalten“, flüsterte ich.

Noch bevor Haschim etwas zur Antwort geben konnte, vernahmen wir aufgeregte Stimmen am Bug. Ich blickte in die Richtung des Tumults und sah einige Seeleute heftig gestikulieren. Was der Anlass dazu war, konnte ich nicht ausmachen. Doch kam sofort Ridvan, der Schiffsjunge, herbeigelaufen.

„Mister Kara Ben Nemsi und ehrwürdiger Scheik Haschim, der Kapitän lässt Ihnen ausrichten, dass Sie sich in Ihre Kabine begeben sollen.“ Er schien recht außer Atem zu sein.

„Ist etwas geschehen?“, fragte ich neugierig.

„Das weiß ich nicht“, antwortete der kleine Kerl. „Aber es ist besser, wenn Sie mitkommen.“ Ob er die Wahrheit sagte oder uns wissentlich anlog, konnte ich nicht ergründen. Wir folgten ihm nach unten. Ich hoffte, dass wir bald über die Lage unterrichtet würden. In der Kajüte harrte Halef noch immer mit bleichem Gesicht auf seinem Lager aus.

„Was ist dort oben los?“, fragte er.

„Wir wissen es nicht“, antwortete ich. „Deshalb sind wir der Aufforderung nachgekommen, in die Kabine zurückzukehren.“

„Vielleicht sollten wir nach den Frauen schauen?“, fragte mein Gefährte.

Noch bevor ich zu antworten vermochte, klopfte es an unsere Tür. Haschim öffnete. Im Gang stand der Kapitän mit ernster Miene.

„Ich möchte die Herren bitten, in Ihrer Kabine zu bleiben. Es ist ein Krankheitsfall aufgetreten. Wir werden eine Seemeile vor der Küste vor Anker gehen und auf ärztliche Hilfe warten. Ich habe die entsprechende Flagge gehisst.“

„Ich werde nach meiner Frau sehen“, erklärte Halef und versuchte sich durch die Tür zu schieben. Sogleich traten zwei Matrosen mit ihren kräftigen Leibern dem Kapitän zur Seite und verwehrten den Durchgang.

„Bitte, meine Herren. Es ist zu Ihrem eigenen Schutz“, erklärte der Kapitän.

Mürrisch trat Halef zurück.

„Den Frauen geht es gut, so viel kann ich Ihnen bestätigen“, fügte Abdulwahab noch hinzu. Dann wurde die Tür geschlossen und wir vernahmen das kratzende Geräusch eines Riegels, der vorgeschoben wurde. Sie hatten uns eingesperrt. Ich blickte mich um. In der Ecke standen der Henrystutzen und der Bärentöter sowie die Waffen meiner Freunde. Wir hätten uns sicher den Weg freischießen können. Doch wussten wir nicht, was der Grund des Ganzen war. Also erschien es mir nicht angebracht, ein Blutbad zu riskieren. Es konnte durchaus möglich sein, dass der Kapitän die Wahrheit sprach. Was hätte er für einen Vorteil aus unserer Gefangensetzung ziehen können? Wir hatten keine Wertsachen bei uns, die ihm Beute eingebracht hätten. Zumindest keine, mit denen er etwas anzufangen gewusst hätte. Auch waren wir keine reichen Europäer, durch die sich ein Lösegeld im Heimatland erpressen ließ. Dies alles schien mir sehr sonderbar. Bevor ich jedoch einen Plan zur Flucht zu schmieden vermochte, war es notwendig, das Geschehen aufzuklären.

Aus dem Bullauge konnten wir nach Norden blicken und dort war nur das Meer auszumachen. Aber anhand der Geräusche von Deck erkannte ich, dass die Segel gerefft und der Anker herabgelassen wurden. Wir mussten demnach schon wieder nahe der Küste sein. Denn, soweit ich mich erinnerte, zeigte die Seekarte an Zyperns Norden nur bis ungefähr einer Seemeile vor der Küste eine Tiefe, in der es möglich war, zu ankern. Danach fiel der Grund rasch bis auf sechshundert Meter Tiefe ab.

„Das gefällt mir nicht, Sihdi“, gab Halef von sich und kontrollierte seine Waffen.

„Mir auch nicht, mein Freund. Doch sollten wir uns zunächst in Geduld üben. Ich möchte nicht durch einen unnötigen Kampf Unschuldige in den Tod reißen. Noch wurden wir nicht offensichtlich bedroht.“

„Sie haben uns eingesperrt. Ist das keine Bedrohung?“ Halef war ungehalten. Ich wusste, dass er sich Sorgen um Hanneh machte. Und natürlich um Djamila und Amscha. Wobei die beiden Letzteren bei einer Bedrohung sicher schon einen Riesentumult angezettelt hätten, dessen wir gewahr geworden wären. Doch draußen im Korridor war es still. So harrten wir zunächst der Dinge, die da kommen sollten, verhielten uns still und lauschten.

Es mochten vielleicht zwei Stunden vergangen sein, als ich das Zischen und Stoßen eines Dampfmotors vernahm. Ein Schiff war demnach in Anmarsch. Ich blickte durch unser kleines rundes Kabinenfenster hinaus. An den Reflexionen des Wassers erkannte ich, dass die Sonne schon tief stand. Es war also längst später Nachmittag. Das Schiff tuckerte heran und ging längsseits. Wir konnten es durch unser Bullauge hindurch beobachten. Ich erkannte sofort ein britisches Patrouillenboot darin. Was hatten die Briten mit der Sache zu tun? Die Erklärung folgte kurz darauf. Der Riegel an unserer Tür wurde zurückgeschoben und der kleine Ridvan erschien mit einem Tablett. Hinter ihm erkannte ich die zwei Matrosen, die offenbar beauftragt waren, sicherzustellen, dass wir die Kajüte nicht verließen. Ridvan stellte das Tablett auf einem kleinen Tisch ab.

„Der Kapitän schickt Euch Wasser und Früchte. Das Abendessen verzögert sich durch den Krankheitsfall leider ein wenig, lässt er ausrichten.“

„Weißt du schon Näheres, Ridvan?“, fragte ich und hielt ihm eine Münze vor das Gesicht. Die Augen des kleinen Kerls begannen zu leuchten. Er streckte die Hand danach aus. Doch ich zog das Geldstück zurück.

„Erst die Information, dann die Bezahlung.“

Ridvan blickte sich verstohlen zu den Matrosen an der Tür um. Dann beugte er sich verschwörerisch zu mir über den Tisch und flüsterte: „Ein britischer Schiffsarzt hat den Kranken untersucht. Niemand darf zu ihm und niemand darf von Bord. Man hat die blutrote Flagge gehisst.“

Diese Nachricht war keineswegs eine gute. Doch ich stand zu meinem Wort und gab dem Jungen die Münze. Er versteckte auch diese freudestrahlend in seinem Gewand und hastete zur Tür hinaus. Der Riegel wurde erneut davorgeschoben.

„Was bedeutet das, Sihdi?“, fragte Halef. Er goss Wasser aus der Karaffe in drei Gläser. Nach den Stunden des Eingesperrtseins waren wir durchaus durstig. Die Erfrischung wurde zur rechten Zeit aufgetragen. Halef reichte mir und Haschim je ein Glas mit dem kühlen Nass.

„Die rote Flagge bedeutet Pest an Bord“, erklärte ich. Halef blickte mich schockiert an. Und dann beging ich einen großen Fehler.

Normalerweise waren meine Sinne so geschärft, dass ich ein übles Spiel schon von Weitem roch. Mir war durchaus bewusst, dass hier etwas nicht stimmte. Aber die Tragweite des Ganzen war mir verborgen geblieben. Auch die Ablenkung mit der Pestflagge hatte ihr Übriges dazugetan. So sah ich, wie Halef trank, und auch ich setzte das Glas an meine Lippen und nahm einen tüchtigen Zug. In dem Moment erblickte ich Haschims erschrockenes Gesicht, der das Glas auf dem Weg zu seinem Mund abrupt stoppte. Diese Fähigkeit machte offenbar das Geheimnis eines Magiers aus. Er konnte manche Bedrohung noch besser erahnen als ich.

„Haltet ein!“, entfuhr es ihm. „Trinkt das nicht!“

Doch es war schon zu spät. Ich sah neben mir Halef zu Boden sinken und gleich darauf schwanden auch mir die Sinne. Das Glas entglitt meiner Hand, fiel auf die Dielen, zerbrach jedoch nicht, sondern kullerte Haschim vor die Füße. Der Rest des Inhalts verteilte sich auf den Planken. Während sich die Schwärze um mich ausbreitete und meine Muskeln den Dienst versagten, schalt ich mich, dass ich so leicht von diesem Kapitän Geoffrey Abdulwahab überrumpelt werden konnte. Wie ich zu Boden sank, entzog sich schon meinem Bewusstsein.

Ich vernahm ein Rascheln. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Um mich herum war es dunkel. Nun, ich war offensichtlich nicht tot. Es war also kein Anschlag auf unser Leben gewesen.

„Du weilst wieder im Land der Lebenden, mein Freund“, flüsterte jemand neben mir. Ich wendete den Kopf und erwartete bei diesen Worten und meiner noch anhaltenden Benommenheit fast schon einen guten alten Freund mit langem schwarzen Haar und bronzener Haut zu erblicken. Dem war natürlich nicht so, denn ich befand mich nicht in den Great Plains Amerikas, sondern im magischen Orient. Mittlerweile hatten sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt und ich erkannte Haschim. Das Rascheln kam von seinem Gewand.

„Was ist geschehen?“, fragte ich noch reichlich benommen.

„Ein Gift. Kein tödliches. Aber eins von jener Sorte, die einen Menschen ins Land der Träume schickt. Bei euch nennt man es Narkotikum.“

„Und Halef?“

„Er schläft noch“, antwortete Haschim.

Ich blickte mich um und sah meinen Gefährten in tiefem Schlaf versunken auf seinem Lager liegen. Aber er atmete, also nahm ich an, dass es ihm gut ging und er alsbald erwachen würde wie ich. Damit lag ich gar nicht falsch, wie sich bald herausstellte. Halef begann sich zu regen. Durch das Bullauge blickte mich die Schwärze der Nacht an. Wir mussten also einige Stunden bewusstlos gewesen sein. Meine Uhr zeigte die elfte Stunde – bald Mitternacht.

„Wir sind fünf Stunden betäubt gewesen“, folgerte ich.

„Lieber Kara“, begann Haschim fast sacht, so, als müsse er mir eine schreckliche Botschaft schonend übermitteln. Dies war auch so. „Es sind mehr als drei Tage vergangen.“

„Wir waren drei Tage bewusstlos?“, entfuhr es mir lauter, als ich beabsichtigt hatte.

„Sihdi, wie kann das sein?“, hörte ich Halef. Er kam gerade zu sich und hatte meinen letzten Satz wohl verstanden.

„Das ist unmöglich, Haschim. Wir wären in der Zeit verdurstet. Und was für ein Elixier sollte so etwas bewirken können?“, fragte ich. Es gab einige Substanzen, die einen Menschen in tiefen Schlaf versetzen konnten. Man nutzte das vor allem bei Operationen. Äther war zum Beispiel so eine betäubende Verbindung, die aus Ethanol und Schwefelsäure gewonnen wurde. Doch dieses Mittel inhalierte man gewöhnlich und trank es nicht. Obwohl, da fiel mir ein, dass es als sogenannte Hoffmannstropfen auch in Wasser gelöst zum Trinken Verwendung findet bei Ohnmachten oder Schwächeanfällen. Jedoch war dies kein Mittel, um einem Mann drei Tage das Bewusstsein zu rauben. Zudem hätte ich es am Geruch erkannt.

„Freunde, ich weiß nicht zu sagen, was es für ein Gift war, dass euch die Sinne raubte, aber ich sorgte dafür, dass ihr diese Zeit unbeschadet überstanden habt“, erklärte Haschim. „Denn kaum hatte ich mich nach eurem Fall davon überzeugt, dass ihr nur betäubt wart, kam der Kapitän herein. Er war reichlich verwundert, mich wohlauf und munter zu sehen. Ich gab mich fügsam. Seine Gehilfen nahmen sämtliche Waffen an sich, ließen mich aber unbehelligt.“

„O lieber Scheik Haschim, verzeiht mir; doch warum, in Allahs Namen, habt Ihr denen nicht die Stirn geboten?“ Halef war äußerst erregt.

„Um was zu tun? Mit zwei bewusstlosen Männern und drei Frauen von Bord zu springen und an Land zu schwimmen?“

„Du hast Recht Haschim. Es war vernünftig, die Ruhe zu bewahren.“

„In der Tat. Denn ich spürte, dass diese Leute uns zwar hier festsetzen wollten, doch durchaus nicht töten. Der Kapitän machte auch weiter keine Anstalten, mich ebenfalls zu betäuben. Er ließ sogar frisches trinkbares Wasser bringen, welches ich euch einflößte. Ihr wart nämlich nicht die ganze Zeit über völlig bewusstlos und unansprechbar, sondern hattet beide durchaus eine Art Wachphasen. In denen war es mir möglich, euch mit Wasser zu versorgen, damit eure Körper keinen Schaden nahmen, ohne Gefahr zu laufen, euch zu ersticken. Mir ist sehr wohl bekannt, dass man einem Bewusstlosen nichts einflößen darf, weil die Flüssigkeit ohne den richtigen Schluckreflex in die Lungen gelangen kann.“

„Aber ich erinnere mich nicht an eine Zeit des Wachseins“, erwiderte ich verwundert.

Haschim konnte dieses Phänomen nicht erklären und auch ich wusste nicht, wie dies bewerkstelligt worden war. Ein Mittel, welches so eine Wirkung zeigte, war mir gänzlich unbekannt.

Halef war inzwischen aufgestanden und hatte seine schimmernde Kugel hervorgeholt. So hatten wir ein wenig Licht. Auch wenn sie nicht mehr in alter Pracht erstrahlte, genügte ihr Schein doch noch immer, um auf dem Tisch Speisen und Wasser zu erkennen. Ich merkte bei diesem Anblick, dass ich überaus hungrig war. Dies war gewiss nicht verwunderlich nach drei Tagen unfreiwilligen Fastens. Also wagten wir es, von den Früchten und dem kalten Fleisch und Brot zu essen. Während wir uns stärkten, entwickelten wir einen Plan.

„Wir müssen Kontakt zu den Frauen aufnehmen, um zu sehen, wie es ihnen geht, und zu beraten, was zu tun ist“, brachte ich meine Gedanken hervor.

„Aber Sihdi, die Tür ist fest verschlossen.“ Halef rüttelte demonstrativ daran. „Womöglich sitzen welche von diesen Piraten davor, um uns zu bewachen.“

„Das könnte durchaus wahr sein. Doch wenn es nur die zwei Seeleute sind, werden wir auch ohne Waffen mit ihnen fertig, Halef.“

Haschim trat schweigend an die Tür und schob den kauenden Halef ein Stück zur Seite. Seine Hände glitten über das Schloss, dass es den Anschein hatte, er würde versuchen mit einem Magneten den inneren Schließmechanismus zu manipulieren. Natürlich hatte der Scheik keinen Magneten, sondern setzte vielmehr seine magischen Fähigkeiten ein, die ich nicht zu hinterfragen gedachte. Sein Bemühen war von Erfolg gekrönt. Es klickte leise und die Tür sprang einen Spalt weit auf. Schnell trat ich vor und schob vorsichtig den Kopf hindurch. Im Dämmerlicht des Gangs erblickte ich keine Menschenseele.

„Die Luft ist rein“, flüsterte ich.

Lautlos schlichen wir zur Tür der Frauenkabine. Hier musste Haschim keine Magie anwenden, da ich einfach nur den Riegel aufzuschieben brauchte, um die Tür zu öffnen. Als das Schloss aufsprang, wandte sich Halef schnell wie eine Schlange durch den Türspalt. Seine Sorge um Hanneh ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Und so war es nur meinem siebten Sinn zu verdanken, dass das Stuhlbein, welches Amscha durch die Luft wirbelte, nur knapp seinen Kopf verfehlte, da ich dem herabsausenden Holz einen Stoß in eine andere Richtung versetzte.

„Bei Allah. Beinahe hätte ich meinen Schwiegersohn erschlagen“, brummte die Frau. „Was tut ihr hier? Warum schleicht ihr des Nachts in die Kabine schlafender Frauen?“

„Wir wollten nach euch sehen“, antwortete ich. Halef stand noch ein wenig unter Schock von dem Angriff seiner Gattinnenmutter.

„Warum erst jetzt? Was habt ihr die letzten drei Tage getan?“ Amscha konnte selbst im Flüsterton äußerst ungehalten klingen. „Habt ihr geschlafen?“

Ich musste mir ein Lachen verkneifen.

„So könnte man sagen“, knurrte Halef. Inzwischen hatte er in dem dunklen Raum Hanneh entdeckt und sich an ihr Lager gesetzt. Sie erwachte gerade und freute sich sichtlich beim Anblick des geliebten Gatten. Auch Djamila war nun wach und rieb sich die Augen.

„Geht es endlich los?“, fragte sie und gähnte ungeniert.

„Was geht los?“, fragte ich.

„Na, der Kampf. Dem lieben Kapitän werde ich eins überbraten, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Wie kann er es wagen, uns hier einzusperren.“

„Das sollten wir zunächst herausfinden“, beruhigte ich das Mädchen. „Für ein unbedachtes Gefecht ist nicht die rechte Zeit. Außerdem hat man uns unsere Waffen genommen.“

„Wir können doch nicht hier rumsitzen und einfach nur warten“, grummelte Djamila weiter.

„Nein, wir werden zunächst Informationen sammeln und hernach beschließen wir, was zu tun ist“, entschied ich. „Ich werde mich an Deck schleichen und mir ein Bild von der Lage machen.“

„Aber was ist, wenn die Sache mit der Pest, wie uns der kleine Ridvan berichtete, echt ist?“, gab Hanneh zu bedenken.

„Ich glaube, in dieser Richtung haben wir nichts zu befürchten. Wenn wirklich das Schiff wegen der Pest unter Quarantäne stünde, hätte es Kapitän Abdulwahab nicht nötig gehabt, uns zu betäuben. Ich denke, dass er den Auftrag hat, uns hier festzuhalten, uns jedoch kein Haar krümmen soll. Denn sonst hätte er schon längst die Möglichkeit gehabt, uns den Fischen zum Fraß vorzuwerfen.“

„Aber, wer sollte Interesse daran haben, dass wir auf diesem Schiff festsitzen?“, fragte Halef.

„Nun“, erwiderte ich, „möglicherweise sollen wir an unserer Abreise von Zypern gehindert werden.“

„Du meinst, Sihdi, dieser Captain Sean MacLean könnte …“, grübelte Halef.

„Ich weiß nicht, ob er es veranlasst hat oder vielleicht höhere Stellen. Aber wir werden versuchen, es herauszubekommen“, antwortete ich.

Haschim blickte mich geheimnisvoll an. „Ich werde dich begleiten, Kara.“

„Und was ist mit mir, Sihdi?“

„Halef, ich halte es für besser, wenn du in der Kajüte wartest. Zu viel herumschleichende Menschen erregen sicher Aufsehen auf diesem kleinen Schiff. Und Haschim … danke für das Angebot, aber …“

„… aber, wir können uns gänzlich ungesehen umschauen.“ Der Scheik spielte wie zufällig mit dem Amulett, dass er stets um den Hals trug. Sein Lächeln war verheißungsvoll. Da dämmerte mir, was er ersonnen hatte. Ich erinnerte mich, dass dieses Amulett in der Lage war, seinen Träger und auch Personen in der unmittelbaren Umgebung unsichtbar erscheinen zu lassen. Wie das wissenschaftlich zu erklären sein könnte, war mir in diesem Moment unwichtig. Ich fand das Angebot durchaus interessant. So konnten wir vielleicht auch Gespräche der Mannschaft belauschen.

„Gut, Haschim. Ich denke, das ist ein guter Plan. Also: Die Frauen verhalten sich bitte wieder still in ihrer Kabine. Wir werden, sobald es uns möglich ist, erneut Kontakt aufnehmen und besprechen, wie wir vorgehen sollen. Halef, mein Freund, du verweilst ebenfalls in der Kabine, denn für drei Geister …“ Ich grinste bei diesem Wort unwillkürlich. „… ist es hier zu beengt. Außerdem möchte ich jemanden für den Notfall in der Nähe der Frauen wissen.“

Halef wiegte bedächtig den Kopf hin und her. Ich sah, wie es in ihm arbeitete. „Na gut, Sihdi. Ich werde tun, was du sagst.“

Nachdem nun alles geklärt war, schlossen wir die Frauen wieder ein und auch Halef, damit kein Verdacht aufkam, sollten der Kapitän oder einer der Seeleute die Türen überprüfen. Als Haschim und ich allein in dem dunklen Durchgang zwischen den Kabinen standen, überließ ich ihn seinen magischen Handlungen und wartete ab, bis er mir ein Zeichen gab.

„Halte dich eng bei mir“, sagte er schließlich leise.

Ob wir nun tatsächlich unsichtbar waren, vermochte ich in diesem Moment nicht festzustellen, denn ich sah den Scheik wie eh und je vor mir stehen. Aber ich vertraute ihm, denn er hatte uns schon des Öfteren mit seinen unerklärlichen Kräften aus den seltsamsten Situationen befreit. Also folgte ich ihm dicht auf den Fersen, als er die Treppe zum Deck hochstieg. Die Stufen knarrten leicht unter unserem Gewicht. Das wäre wahrscheinlich für eine Wache, so denn oben eine gestanden hätte, eine Warnung gewesen. Doch es war niemand zu sehen. Zudem ging ein leichter Wind, und die Dünung, welche zwar nicht sehr hoch war, aber ausreichte, das Schiff zu bewegen und es sacht hin- und herzuschaukeln, sorgte für ein Knacken und Knarzen in allen Ecken. Hier oben an Deck kamen die Wellen stärker zur Geltung als unten in der Kabine. Deshalb bewegten wir uns möglichst lautlos bis zur Reling, um dort ein wenig Halt zu finden. Ich blickte mich von da aus um. Das Meer breitete sich dunkel um uns aus. Wenige Sterne blinkten zwischen aufkommenden Wolken. Der Mond war nur als matt leuchtender Fleck hinter einer dicken Wolke zu erahnen. Doch sein blasser Schein reichte aus, um, sobald sich das Auge an die Finsternis gewöhnt hatte, die Berge der Küste als schwarze Silhouette vor uns aufragen zu lassen. Ich ließ den Blick über das Deck schweifen und entdeckte den Steuermann auf dem Oberdeck am Ruder stehen sowie einen Matrosen in seiner Nähe an der Reling sitzen. Ein weiterer Mann stand vorn am Bug und blickte auf die See.

Durch Zeichen deutete ich Haschim an, dass wir uns in Richtung des Steuermanns bewegen sollten. Wo zwei Leute waren, konnten wir eher auf Informationen hoffen, die in einem Gespräch offenbart wurden, als durch den einen Mann am Bug. Vorsichtig stiegen wir die Treppe zum Oberdeck hinauf. Das Knarzen der Stufen ging, zum Glück, im allgemeinen Knacken des arbeitenden Holzes unter. Wir hörten, wie sich der Steuermann mit dem anderen Seemann unterhielt, konnten aber kein Wort verstehen. Dabei stützte er sich auf das Steuerrad, welches mit einem Seil fixiert war. Was hätte er auch steuern sollen, wenn das Schiff vor Anker lag.

Als wir gerade an ihm vorbeischleichen wollten, blickte er abrupt auf, mir direkt in die Augen und rief mit unterdrückter Stimme: „Hei!“

Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Meine Muskeln spannten sich und die Rechte ballte sich zur Faust, um im geeigneten Moment einen Schlag anzubringen. Auch Haschim war stehengeblieben, erstarrt wie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung.

„Hei!“, rief der Mann erneut und ich glaubte, dass er mir direkt in die Augen schaute. „Hamit, kannst du etwas ausmachen?“

Ich entspannte mich. Jetzt begriff ich. Er blickte durch mich hindurch zu dem Mann am Bug, der die See betrachtete. Wir waren also tatsächlich unsichtbar für die Seeleute. Nun sah ich auch, dass der Matrose am Bug ein Fernglas in seiner Hand hielt, mit dem er das Wasser absuchte.

„Sie umkreisen uns in weitem Bogen und haben die Positionslichter gelöscht. Aber Hamit können sie nicht täuschen, diese Íngilizce. Ich erkenne ihr dampfspuckendes Ungeheuer auch ohne Licht.“

„Behalte sie im Auge. Wenn ihnen der Alman so wichtig ist, warum holen sie ihn sich nicht einfach? Ich würde zehnmal mit ihm fertig.“

„Das weiß nur Allah“, gab der Matrose an der Reling neben dem Steuermann von sich. Er saß auf den Planken und schnitzte an einem Stück Holz herum. „Sollen sie ihn doch mitnehmen. Ich benötige keinen Ärger. Ich möchte einfach nur nach Hause zurück.“

Haschim und ich bewegten uns so lautlos wie möglich zur Reling. Dann folgten wir ihr bis achtern, sodass wir hinter den zwei Seeleuten zu stehen kamen. Da sie den Mann am Bug beobachteten, war hier der sicherste Ort für uns.

„Die Pestflagge ist doch immer wieder für eine Finte gut.“ Der Steuermann lachte leise vor sich hin.

„Ja, das ist wahr. So halten wir uns andere Schiffe vom Leib und die Passagiere bleiben in ihren Kabinen.“ Der Mann an der Reling schnitt einen weiteren Holzspan ab und betrachtete prüfend sein Werk. Es sollte wohl ein Tier werden, mutmaßte ich.

„Da war sich der Kapitän nicht so sicher. Vorsichtshalber hat er den Alman betäubt. Die Íngilizce-Spione haben dafür wunderbare Mittel zur Verfügung“, tat der Steuermann kund.

Der Schnitzkünstler blickte mit missmutiger Miene auf. „Wie lange soll das denn hier andauern?“

„Das weiß ich nicht zu sagen. Die Íngilizce bezahlen gut. Was kümmert’s uns dann?“

Ich zupfte Haschim am Ärmel und deutete ihm an, dass wir uns zurückziehen sollten. Ich hatte genug gehört. Der Alman – der Deutsche – damit konnte nur ich gemeint sein. Also hatten die Íngilizce – die Engländer – irgendeinen Handel mit dem Kapitän geschlossen, um mich an der Abreise zu hindern. Was der genaue Grund dafür war, konnte ich nur mutmaßen. Ich vermutete, dass es mit der Bitte dieses Captains Sean MacLean zusammenhing, das Höhlensystem auf Kreta zu untersuchen. Ich musste zugeben, dass die Briten in dieser Angelegenheit ziemlich hartnäckig waren. Aber das bestärkte mich nur weiter in meinem Beschluss, nicht klein beizugeben. Was auch immer sie vorhatten, sie mussten es allein tun.

So in Gedanken versunken schlich ich hinter Haschim her zum Niedergang auf das tiefer gelegene Hauptdeck. Plötzlich stieß ich unverhofft mit dem Fuß gegen ein Stück Holz, welches auf dem Boden lag. Es kullerte davon und prallte mit leisem Tock gegen das Geländer zu diesem tiefergelegenen Deck. Das Geräusch ließ den Steuermann aufblicken. Er erstarrte. Diesmal sah er mir tatsächlich in die Augen. Ich hatte den Abstand zu Haschim zu groß werden lassen und war nun für den Mann sichtbar geworden. Jedoch nur für einen Wimpernschlag. Schnell schloss ich zum Scheik auf, der seinerseits nun für mich unsichtbar war, und verschwand wieder vor dem Blick des Steuermanns. Seine Kinnlade klappte herunter. Er musste glauben, einen Geist gesehen zu haben. Ich gewahrte noch seine vor Schreck geweiteten Augen. Dann entschwand er aus meinem Blickfeld, als ich die untere Stufe der Treppe zum Hauptdeck erreicht hatte. Haschim konnte ich nun wieder sehen, da ich mich im magischen Feld des Amuletts befand. In diesem Moment hörten wir einen lauten Schrei, der sicherlich von dem Steuermann ausgestoßen worden war. Scheik Haschim begriff die Lage sofort, packte mich am Arm, damit wir eng beieinander blieben, und wir eilten gemeinsam die Treppe zu den Kabinen hinunter. Schnell schoben wir den Riegel unserer Tür auf und schlüpften hinein. Auf Deck war derweil ein Gezeter ausgebrochen, das bis nach hier unten drang. Hastig verschlossen wir die Tür hinter uns. Keinen Augenblick zu früh, denn schon hörten wir Schritte im Gang, dann laute Stimmen. Es hörte sich so an, als ob der Kapitän geweckt würde.

Haschim verriegelte mit einer eleganten Geste seiner Hand geschwind die Tür. Seine Magie ließ den Mechanismus außen einrasten. Ich gab Halef ein Zeichen und er verstand sogleich. Wir legten uns auf unser Lager, als wären wir noch betäubt. Gleich darauf hörte ich mit verschlossenen Augen, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. Durch meine Lider nahm ich Licht wahr. Jemand leuchtete mit einer Laterne in unsere Kajüte.

„Sie sind noch hier und bewusstlos“, berichtete eine Stimme.

„Gut“, hörte ich den Kapitän antworten, „schließ sie wieder ein. Jussuf hat wohl geträumt oder ein falsches Kraut in seiner Shisha geraucht.“

Ich vernahm Lachen und Schritte, die sich entfernten.

Der Herrscher der Tiefe

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