Читать книгу Die Todesstrafe I - Jacques Derrida - Страница 11

Erste Sitzung 8. Dezember 1999

Оглавление

Was würden Sie jemandem antworten, der Ihnen gleich zu Beginn, wenn alles noch im Dämmer liegt1, sagen würde: „Wissen Sie, die Todesstrafe ist das Eigene des Menschen“?

(Langes Schweigen)

Ich meinerseits wäre versucht, demjenigen – allzu schnell – zu antworten: Ja, Sie haben recht. Wenn sie nicht das Eigene Gottes ist – oder ebendies nicht auf dasselbe hinausläuft. Dann, kraft einer anderen Versuchung – oder einer Gegen-Versuchung – der Versuchung widerstehend, wäre ich bei näherem Nachdenken versucht, nicht allzu schnell zu antworten und ihn warten zu lassen – Tage und Nächte lang. Bis der Morgen dämmert.

(Langes Schweigen)

Es dämmert, jetzt, wir befinden uns in der einsetzenden Dämmerung. Im ersten Licht der Dämmerung. Im weißen Licht der Morgendämmerung [aube] (alba). Noch vor dem Anfang, wollen wir beginnen. Würden wir beginnen.

Wir würden beginnen, indem wir so tun, als würden wir vor dem Anfang anfangen.

So als ob wir bereits das Ende hinauszögern wollten, da wir dieses Jahr, mit der Todesstrafe, eben gerade über das Ende sprechen werden. Es ist zwar ein Ende, aber ein beschlossenes Ende, beschlossen durch ein Verdikt, ein Ende, das durch eine Gerichtsentscheidung [arrêt de justice] festgelegt wurde [arrêtée], es ist ein beschlossenes [décidée] Ende, über das wir bestimmt [décidément] endlos sprechen werden, aber ein Ende, das vom Anderen beschlossen wurde, was nicht unbedingt, a priori, bei jedem Ende und bei jedem Tod der Fall ist, zumindest wenn man annimmt, diesmal in Bezug auf die Entscheidung, auf das Wesen der Entscheidung, dass sie überhaupt jemals anders getroffen wird als durch den Anderen. Und wenn man annimmt, dass die Entscheidung, über die zu sprechen wir uns gerade anschicken, die Todesstrafe, nicht der Archetyp selbst der Entscheidung ist. Wenn man also annimmt, dass jemals irgendjemand eine Entscheidung trifft, die die seine, für ihn selbst, seine eigene ist. Ich habe diesbezüglich schon oft meine Zweifel zum Ausdruck gebracht. Die Todesstrafe als souveräne Entscheidung einer Macht erinnert uns vielleicht, vor allem anderen, daran, dass eine souveräne Entscheidung immer eine des Anderen ist. Vom Anderen kommend.

Wir würden also so tun, als begännen wir nicht nach dem Ende, nach dem Ende der Todesstrafe, die heute nur in einer begrenzten Zahl von Nationalstaaten der Welt abgeschafft ist, einer zwar wachsenden Zahl, die aber noch begrenzt ist (vor zehn Jahren eine Minderheit – 58 Länder –, heute eine knappe Mehrheit2), sondern als begännen wir vor dem Anfang, am Vorabend des Anfangs, in der Morgendämmerung, am frühen Morgen, so als wollte ich, etwas pathetisch (aber wer würde wagen, ein nicht-pathetisches Seminar über die Todesstrafe zu halten) [so als wollte ich lieber, auf bewusst pathetische Weise] damit beginnen, Sie – noch bevor wir anfangen, noch in der Dämmerung – in jene frühen Morgenstunden der Gefängnisse, sämtlicher Inhaftierungsorte der Welt zu führen oder Sie dort mit mir festzuhalten, wo zum Tode Verurteilte darauf warten, dass man kommt, um ihnen entweder einen souveränen Gnadenerweis zu verkünden (jene Gnade, über die wir letztes Jahr im Zusammenhang mit der Vergebung viel gesprochen haben), oder sie abzuholen, wobei stets ein Priester anwesend ist (und ich insistiere darauf, denn ich werde heute vor allem über politische Theologie sprechen, und über die Religion der Todesstrafe, über die Religion, die bei der Todesstrafe immer präsent ist, über die Todesstrafe als Religion) [sie also abzuholen], um sie zu einer der zahlreichen Einrichtungen zur legalen Tötung zu bringen, die die Menschen einfallsreich erfunden haben, die gesamte Geschichte der Menschheit hindurch, als einer Geschichte der Techniken – Techniken im Bereich der Polizei, des Kriegswesens und des Militärs, aber auch auf dem Gebiet von Medizin, Chirurgie und Anästhesie –, um die sogenannte Kapitalstrafe3 zu verabreichen [administrer]. Mit der Grausamkeit, die Sie kennen, einer Grausamkeit, die immer dieselbe ist und von der Sie zumindest wissen, dass sie von der größten Brutalität des Abschlachtens bis zur perversesten Raffinesse, von der blutigsten oder brennendsten Folter bis zur höchst verleugneten, maskierten, unsichtbaren, überaus subtil bewerkstelligten Qual gehen kann, wobei die Unsichtbarkeit oder die Verleugnung niemals, in keinem Fall, etwas anderes sind als ein Teil der theatralischen, ja voyeuristischen Maschinerie des Spektakels. Per definitionem, ihrem Wesen nach sowie ihrer Berufung gemäß, wird es für eine legale Tötung, für eine Anwendung der Todesstrafe nie Unsichtbarkeit gegeben haben, für dieses Verdikt hat es prinzipiell nie eine geheime oder unsichtbare Vollstreckung [execution] gegeben. Schauspiel und Zuschauer sind unabdingbar. Das Gemeinwesen, die polis, die Politik insgesamt, die Mit-Bürgerschaft – sie selbst oder vermittelt durch ihre Vertretung [représentation] – muss4 dabei sein und bestätigen, sie muss öffentlich bezeugen, dass der Tod gegeben oder zugefügt wurde, sie muss den Verurteilten sterben sehen.

Der Staat muss und will den Verurteilten sterben sehen.

Der Moment, in dem das zum Staat oder Nationalstaat gewordene Volk den Verurteilten sterben sieht, ist übrigens auch jener Moment, an dem es sich selbst am besten sieht. Es sieht sich [se voit] am besten, das heißt es nimmt seine absolute Souveränität zur Kenntnis und wird sich ihrer bewusst, und es wird gesehen [se voit], in dem Sinne, in dem il se voit im Französischen bedeuten kann, dass es sich sehen lässt, dass es sich zu sehen gibt.+ 5 Nie ist der Staat, oder das Volk, oder die Gemeinschaft, oder die Nation in ihrer staatlichen Gestalt, nie ist die Souveränität des Staates in ihrer begründenden Versammlung sichtbarer, als wenn sie sich zum Zuschauer und zum Voyeur der Vollstreckung eines Verdikts ohne Berufungsmöglichkeit und ohne Begnadigung, eben einer Exekution macht. Denn dieses Zeugnis – der Staat als Zeuge der Exekution und seiner selbst, seiner eigenen Souveränität, seiner eigenen Allmacht –, dieses Zeugnis muss visuell sein: augenscheinlich. Es geht also nie ohne eine Bühne und ohne Licht, das natürliche Tageslicht oder künstliches Licht. Im Laufe der Geschichte konnte es geschehen, dass das Licht des Feuers hinzukam. Nicht immer und nicht nur die Feuerstöße des von einem Erschießungskommando oder mit einer einzigen Kugel in den Nacken Füsilierten, sondern bisweilen auch das Feuer des Scheiterhaufens.

Wir haben noch nicht angefangen, noch hat nichts angefangen. Wir befinden uns noch im frühen Morgengrauen. In der Dämmerung, der Dämmerung von wer weiß wovon, von Leben oder Tod, Begnadigung oder Exekution, der Abschaffung oder dem Fortbestehen der Todesstrafe, beziehungsweise dem Begehen der Todesstrafe.6 Was auch immer wir im Laufe dieses Seminars denken oder sagen mögen, man muss, wir werden – indem wir uns mit dem Herzen und der Einbildungskraft, auch mit dem Körper, darauf beziehen – unablässig an die frühen Morgenstunden dessen denken müssen, was man eine Exekution nennt. An die/In der Morgendämmerung [À l’aube] des letzten Tages.

Es dämmert also erst. Es ist früh am Morgen, ganz früh am Morgen. Vor dem Ende, sogar noch bevor wir anfangen, vor den drei Schlägen [coups], sind die Akteure und die Örtlichkeiten bereit, sie warten auf uns, um anzufangen.

So wie wir im letzten Jahr Theater spielten, ohne zu spielen, wie wir so getan haben, als spielten wir In-Szene-setzen, so theatralisch, aber auch so wenig theatralisch wie möglich, vier Männer in Szene zu setzen, vier Staats- oder Kirchenmänner, Denker des Staates oder der Kirche oder beides zugleich (Hegel, Mandela, Tutu, Clinton: vier Protestanten der Moderne – keine Frau, kein Katholik, kein Orthodoxer, kein Jude und kein Moslem)7, nun, so werden wir dieses Jahr, noch bevor wir anfangen, und weil die Frage des Theaters unsere Aufmerksamkeit noch mehr und auf andere Weise wird fesseln müssen als in der bühnenlosen Szene der Vergebung (die Geschichte der Beziehungen zwischen der Todesstrafe und dem Schauspiel, der Inszenierung, dem wesentlichen Voyeurismus, der mit einer Tötung verbunden ist, die öffentlich, weil legal sein muss, diese Geschichte des Theaters der Todesstrafe würde ein Seminar für sich allein verdienen und wir werden ihr viel Interesse entgegenbringen, wenn wir es auch nie genügend tun werden), nun, dieses Jahr noch werde ich, bevor ich anfange, damit beginnen, einige Figuren, große Gestalten, große „characters“ aufzurufen, herbeizurufen oder zu neuem Leben zu erwecken, die uns unablässig begleiten werden – unabhängig davon, ob wir sie nun nennen und sehen oder nicht. Es werden immer noch vier sein, es gibt aber keine Protestanten mehr unter ihnen, sie werden immer noch vier sein, aber Männer und Frauen8, denn dieses Mal wird eine Frau kommen, um eine der sexuellen Differenzen in dieser Wahrheit der Todesstrafe in Erinnerung zu rufen. (Erinnern Sie sich an die Frage, die wir uns letztes Jahr stellten, oder die wir zitierten, ausgehend vom Südafrika Antjie Krogs, der Autorin von Country of My Skull, und der weiblichen Opfer, die vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission Zeugnis ablegen oder eben nicht ablegen können+: „Does truth have a gender?“, oder, wie der Titel eines Buchkapitels lautet: „Truth is a Woman9.)

Wer werden also dieses Jahr diese – männlichen und/oder weiblichen – „Figuren“ sein? Zum Tode Verurteilte, natürlich, oder Begleiter, ein Chor großer zum Tode Verurteilter aus unserer Geschichte, aus der Geschichte des griechisch-abrahamitischen Abendlands, zum Tode Verurteilte, die durch die Szene, durch die Sichtbarkeit, durch die Zeit und die Dauer ihrer Tötung hindurch die im eigentlichen Sinne theologisch-politische Bedeutung dessen, was man die „Todesstrafe“ nennt, illustriert, ja begründet haben.

Jedes Mal, auf unterschiedliche Weisen, die zu untersuchen sein werden, wird der – mit einer klerikalen oder religiösen Macht verbundene – Staat diese Verurteilungen ausgesprochen und diese großen zum Tode Verurteilten (hier sind es, wie nochmals gesagt sei, vier) exekutiert haben, die da waren10 (ich werde sie einen nach dem anderen nennen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist), zunächst Sokrates, natürlich, der erste der vier. Sokrates, dem, Sie wissen es, aber wir werden noch darauf zurückkommen, dem also vor allem vorgeworfen wurde, die Jugend verdorben zu haben, indem er nicht an die Götter der Polis geglaubt und sie durch neue Götter ersetzt habe, so als ob er die Absicht gehabt hätte, eine andere Religion zu gründen und einen neuen Menschen zu denken. Lesen sie Die Apologie des Sokrates und den Kriton noch einmal, Sie werden dort sehen, dass eine im Wesentlichen religiöse Anklage von einer Staatsmacht übernommen wird, von einer Macht der polis, einer Politik, einer juridisch-politischen Instanz, was man mit einer schrecklichen Zweideutigkeit eine souveräne Macht als Exekutiv- beziehungsweise Exekutions-Macht [pouvoir exécutif] nennen kann. Die Apologie (24 b-c) sagt es ausdrücklich: Die kategoria, die gegen Sokrates vorgebrachte Anklage, lautet dahingehend, den Fehler begangen zu haben, schuldig geworden zu sein, die Ungerechtigkeit (adikein) begangen zu haben, die Jugend zu verderben und (oder um) aufgehört zu haben, die Götter (theous) des Gemeinwesens oder die vom Gemeinwesen verehrten Götter zu ehren (nomizein) – vor allem aber, an ihre Stelle nicht einfach neue Götter gesetzt zu haben, wie die Übersetzungen oft sagen, sondern neue daimonia11 (etera de daimonia kaina); und daimonia, das sind zweifellos Götter, Gottheiten, aber bisweilen, etwa bei Homer, auch untergeordnete Götter oder Wiedergänger, die Seelen der Toten; der Text unterscheidet genau zwischen den Göttern und den daimonia: Sokrates hat die Götter (theous) des Gemeinwesens nicht geehrt, und er hat neue daimonia eingeführt (etera de daimonia kaina). Die Anklage ist ihrem Gehalt nach also eine religiöse, eigentlich theologische, ja exegetische. Sokrates wird der Häresie beziehungsweise der Blasphemie, des Sakrilegs oder der Heterodoxie beschuldigt: Er täuscht sich hinsichtlich der Götter, er täuscht sich oder er täuscht die anderen, die Jungen vor allem, in Bezug auf die Götter; er ist hinsichtlich der Götter einem Missverständnis erlegen beziehungsweise hat hinsichtlich der Götter des Gemeinwesens Missachtung [mépris] und Missverständnis [méprise] erzeugt. Diese Beschuldigung, dieser Hauptanklagepunkt, diese kategoria religiösen Wesens wird – wie immer, und wir werden uns regelmäßig für diese immer wiederkehrende Verbindung interessieren – von einer Staatsmacht als Souverän übernommen, von einer Staatsmacht, deren Souveränität ihrerseits phantasmatisch-theologischen Wesens ist und sich, wie jede Souveränität, durch das Recht über Leben und Tod des Bürgers auszeichnet [se marque], durch die Macht, zu entscheiden, das Gesetz vorzugeben, zu urteilen und sowohl die Ordnung als auch den Verurteilten zu exekutieren. Selbst in den Nationalstaaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben – eine Abschaffung der Todesstrafe, die mitnichten einer Abschaffung des Rechts auf Töten gleichkommt, zum Beispiel im Krieg – nun, jene wenigen Nationalstaaten der demokratischen Moderne, die die Todesstrafe abgeschafft haben, behalten ein souveränes Recht über das Leben der Bürger, die sie in den Krieg schicken können, um zu töten oder getötet zu werden in einem Raum, der dem Raum der internen Legalität, des Zivilrechts, in dem die Todesstrafe ihrerseits aufrechterhalten oder abgeschafft sein kann, radikal fremd gegenübersteht.+

Um einen Augenblick zu Sokrates und Platon zurückzukehren, sowie zum grundlegend religiösen Charakter des Hauptanklagepunktes, der Beschwerde, der Inkriminierung, der Kriminalisierung, der Beschuldigung, der bzw. die vom Staat übernommen wurde, verweise ich Sie auf die Gesetze von Platon, der die Todesstrafe im Falle von Gottlosigkeit (asebeia), hartnäckiger Gottlosigkeit, wiederholten Rückfalls in die Gottlosigkeit rechtfertigt. Lesen Sie diese langen und spannenden Seiten in den Gesetzen (10. Buch, 907d-909d) bitte selber ausführlich nach. Das Gemeinwesen, die polis, muss allen verkünden, dass die Gottlosen Sühne leisten und sich zu einem frommen Leben bekehren müssen, und dass, falls sie dies nicht tun, wenn sie in Worten und Taten Gottlosigkeit (asebeia) bekunden, der erstbeste Zeuge sie beim Magistrat anzeigen muss, der sie vor das zuständige Gericht zitieren wird. Es folgen die Beschreibung der verschiedenen Arten der Gottlosigkeit (darunter, wie ich im Hinblick auf das Thema unseres Seminars anmerken möchte12, die Respektlosigkeit gegenüber Eiden (orkous)) sowie schließlich die Taxonomie der drei Typen von Gefängnis oder Besserungsanstalt; lesen Sie all das also bitte alleine. Ich werde aus dieser langen und reichhaltigen Passage nur zwei oder drei Hinweise festhalten.

1. Erster Hinweis. Um bei dieser Zeit der Morgendämmerung zu verharren, halte ich fest, dass in der Beschreibung der Strafen gesagt wird, dass der Gefangene keinen Besuch von Bürgern empfangen dürfe, mit Ausnahme der Mitglieder eines gewissen Nächtlichen Rats13. Nun, wenn Sie wissen wollen, was das ist, dieser Nächtliche Rat (den ich also wegen der Morgendämmerung und wegen der Religion in Erinnerung rufe, wegen der Morgendämmerung der Religionen, wenn nicht der Götterdämmerung14), dann schauen Sie dort nach, wo er von Platon zum ersten Mal definiert wird, das heißt nicht im 10. Buch der Gesetze, 907-909, woraus ich soeben zitiert habe und wo der Nächtliche Rat sicherlich genannt wird, aber nur genannt, sondern weiter hinten in den Gesetzen, im 12. Buch, 951d-e, wo der Athener diesen Nächtlichen Rat beschreibt, jenen syllogos der Nacht als Ort der Versammlung, einer Versammlung, die aus Jüngeren und Älteren gemischt besteht und die, ich zitiere, „Tag für Tag vom ersten Morgengrauen bis zum Sonnenaufgang sich zusammenzufinden haben“ (951d)15. Dieser syllogos ist weder eine Synagoge (erklären)+ noch ein Sanhedrin, jener Oberste Rat der Nation, der auch ein Oberster Gerichtshof war (ebenjener, der Jesus zum Tode verurteilte, wir werden noch darauf zu sprechen kommen), doch wird ein syllogos (kommentieren) Priester enthalten, und unter den Priestern (tōn hiereōn, das heißt wörtlich eine Hierarchie, eine sakrale Ordnung oder Autorität von leitenden Priestern) jene, die die höchsten Auszeichnungen erhalten haben, und weiter unter den Hütern des Gesetzes (tōn nomophylakōn) die zehn ältesten, anschließend alle Oberaufseher des Erziehungswesens, alle mit der Erziehung der Jugend Beauftragten (tes paideias pases epimeletes), seien sie noch im oder bereits außer Dienst. (Stellen Sie sich ein Äquivalent dieses Nächtlichen Rats im Frankreich von heute vor – Lustiger, der Oberrabbiner, der Großmufti, Allègre, seine Vorgänger und so weiter.16) Dieser große syllogos, dieser große pädagogisch-konfessionelle Rat versammelt sich also in der Morgendämmerung [à l’aube]. Und er allein ist berechtigt, den Gefangenen zu besuchen. Erster Hinweis.

2. Zweiter Hinweis. Der Rat, der syllogos, empfängt Besucher, Berater, Beobachter, Experten, die aus der Fremde zurückkehren, wo sie die Sitten und die Gesetze anderer Länder studiert haben. Nun, wenn einer von ihnen verzogen oder verdorben zurückkehrt, wenn er dann fortfährt, seine falsche Weisheit zu verbreiten und sich unüberlegt auf fremde Vorbilder zu beziehen, und wenn er dem Magistrat nicht gehorcht, „so soll ihn die Todesstrafe treffen (tethnatō) für den Fall, daß er vor dem Gerichtshof der sträflichen Einmengung in Erziehungs- und Gesetzgebungsfragen (peri ten paideian kai tous nomous) überführt wird“17. Sobald der Gerichtshof bewiesen hat, dass er zu Unrecht, im Namen des Fremden in die Bildung der Jugend und die Entstehung der Gesetze eingreift, wird er mit dem Tode bestraft. Soviel zur Definition und zur theatralischen Szene dieses Nächtlichen Rats, der über Leben und Tod entscheiden und der allein die Gefangenen besuchen kann. Wenn wir jetzt vom 12. Buch der Gesetze, wo der Status, die Zusammensetzung und die Kompetenzen dieses Rats in der Morgendämmerung auf diese Weise definiert werden, zum 10. Buch zurückkehren, von dem ich ausgegangen war, finden wir dort die Legitimation der Todesstrafe in der Aufzählung sämtlicher Strafen, sämtlicher Arten und Orte der Einkerkerung. Wenn jemand freizügige Reden zum Beispiel in Bezug auf die Götter, die Opfer oder die Eide gehalten hat, oder wenn er zum Glauben an bestechliche Götter ermutigt und sich so des Verbrechens der Gottlosigkeit, der Irreligiosität schuldig gemacht hat, wird er ins Zuchthaus gesperrt, in ein sōphronisterion, wörtlich einen Ort zum Klugwerden [assagissement]. Zuchthaus oder Besserungsanstalt an einem Ort des Klugwerdens, einem Ort, an dem man die sōphrosyne wiedererlangen soll, die Klugheit, die Klugheit im präzisieren Sinne von Besonnenheit, Mäßigung, Selbstkontrolle, Gesundheit des Geistes und des Herzens. Es geht darum, überwacht zu werden, um wieder „klug/besonnen [sage]“ zu werden, die Klugheit/Besonnenheit (sōphrosyne) in jenem Sinne wiederzuerlangen, den man im Französischen dem Wort sage beilegt, dem enfant sage als bravem, ruhigem, diszipliniertem Kind. Das Sophronisterion ist eine Disziplinaranstalt. Man wird dort für mindestens fünf Jahre eingesperrt. Während dieser Zeit darf kein Bürger den Schuldigen dort besuchen, mit Ausnahme eben der Mitglieder des Nächtlichen Rats (tou nykterinou syllogou), die zu ihm kommen, um ihn zu ermahnen und – das ist der wichtigste Punkt – seine Seele zu retten, um des Heils seiner Seele willen (tes psychès soteria omilountes). Diese soteriologische Funktion ist wesentlich: Zunächst gilt es, die Seele des Verurteilen zu bessern, zu retten, zu rehabilitieren, und diese soteriologische Mission, dieses Heils- oder Erlösungswerk wird statutarisch dem Nächtlichen Rat anvertraut, zugewiesen, denjenigen, die allein das Besuchsrecht haben im Sophronisterion, in der Besserungsanstalt, in der dem Besonnen-werden geweihten Institution. Wenn der Verurteilte nun (und wir finden hier bereits unser Thema der Vergebung und der Reue wieder), wenn also nach diesem soteriologischen Versuch der Verurteilte sich selbst rettet, wenn er bereut, wenn er zur Reue gelangt und wieder besonnen wird, wenn er sich rehabilitiert, dann wird er das Recht haben, unter den Tugendhaften zu leben; wenn nicht, wenn er sich ein zweites Mal dieselbe Verurteilung einhandelt, wenn er rückfällig wird und nicht bereut, wird er mit dem Tode bestraft werden (thanatō zemioustho). Wenn er nicht bereut und sich nicht bessert, dann kann ihm nicht vergeben werden, und die Sanktion für das Nichtvergebbare [impardonnable], das Unsühnbare, das ist die Todesstrafe. Ich lege aber Wert darauf, bereits hier zu unterstreichen – denn das wird ein organisierendes Thema unserer Überlegungen werden –, dass sich die Todesstrafe, die legale und legitime Verurteilung, vom Mord [meurtre] oder von der außergesetzlichen Tötung, von der vorsätzlichen und hinterhältigen Ermordung [assassinat]18 gewissermaßen, eben darin unterscheidet, dass sie den Verurteilten als Rechtssubjekt, als Subjekt/Untertan [sujet] des Gesetzes, als Menschen behandelt, mit jener Würde, die das immer noch voraussetzt. Hier, in einer Logik, die wir bei Kant und vielen anderen wiederfinden werden, bei Kant jedoch in ganz herausragender Weise, hier also ist der Zugang zur Todesstrafe ein Zugang zur Würde der menschlichen Vernunft, sowie zur Würde eines Menschen, der, im Unterschied zu den Tieren [bêtes], ein Subjekt/Untertan des Gesetzes ist, das sich über das natürliche Leben erhebt. Daher markiert in dieser Logik, im logos dieses syllogos die Todesstrafe den Zugang zum Eigenen des Menschen und zur Würde der Vernunft beziehungsweise des logos und des menschlichen nomos. All dies, der Tod eingeschlossen, würde von der Vernünftigkeit der Gesetze (logos und nomos) zeugen und nicht von natürlicher oder bestialischer Wildheit, so sehr, dass der zum Tode Verurteilte, wenn er auch des Lebens oder des Rechts auf Leben beraubt wird, ein Recht auf das Recht und also, in gewisser Weise, auf Ehre und ein Begräbnis/Grabmal19 hat. Denn es gibt Schlimmeres als die Verurteilung zum Tode in dieser Logik, in dieser düsteren Syllogistik, im Syllogismus dieses nächtlichen Rats oder Syllogos. Das ist bei jenen Schuldigen der Fall, die wie Tiere [bêtes] sind, die keine Menschen mehr sind und die nicht einmal mehr ein Recht auf die Verurteilung zum Tode haben, die kein Recht auf ein Grab und auf Besuche des Nächtlichen Rats mehr haben. Es wird am besten sein, wenn ich mich diesbezüglich damit begnüge, eine außergewöhnliche Passage aus den Gesetzen vorzulesen (10. Buch, 909b-d). Das folgt unmittelbar, nachdem auf die Todesstrafe Bezug genommen wurde, jene Strafe, die diejenigen verdienen, die keine Reue zeigen, die Strafe, die jenen bestimmt und zugewiesen ist, die sich nicht rehabilitieren, die denjenigen vorbehaltene Strafe, die unverbesserlich bleiben und denen man nicht vergeben kann. In der Passage, die ich vorlesen werde, werden Sie entdecken, dass es Schlimmeres gibt als die Todesstrafe: Es gibt eine noch schrecklichere, weil unmenschlichere, a-humanere Strafe als die Todesstrafe, die ihrerseits immer noch eine Sache der Vernunft und des Gesetzes bleibt, eine Sache, die der Vernunft und des Gesetzes (logos und nomos) würdig ist. Das Unterscheidungskriterium zwischen der Todesstrafe und dem, was noch schlimmer wäre als die Todesstrafe, diese Demarkationslinie zwischen dem Schlimmen und dem Schlimmeren wird nicht im Rahmen dessen bestimmt, was dem Tod vorausgeht, auch nicht im Augenblick des Todes, nicht in der Gegenwart des Ereignisses des Todes selbst, nicht im Tod, sondern anhand des Leichnams, anhand dessen, was auf den Tod folgt und dem Leichnam zustößt/ geschieht [arrive]. Denn hier ist es das Recht auf ein Begräbnis/ Grabmal, das die Differenz zwischen dem Menschen und dem Tier [bête] markiert, zwischen dem zum Tode verurteilten Menschen, der noch ein Recht auf ein Begräbnis/Grabmal, auf die Ehre der Menschen hat, und demjenigen, der nicht einmal mehr den Namen Mensch und also nicht einmal die Todesstrafe verdient. Ich möchte diesen Punkt deutlich unterstreichen, weil wir auf diese Vorstellung, dass die Todesstrafe ein Zeichen für den Zugang zur Würde des Menschen sei, eine Eigentümlichkeit des Menschen, der sich darauf verstehen müsse, sich in seiner Würde über das Leben zu erheben (worauf die Tiere sich eben nicht verstünden), weil wir also auf diese Vorstellung von der Todesstrafe als Bedingung des menschlichen Gesetzes und der Würde des Menschen, man könnte beinahe sagen des Adels des Menschen, später erneut stoßen werden, insbesondere im Zusammenhang mit dem Argumentationsgang Kants, wenn er die Todesstrafe definiert oder mehr noch, wenn er in ihr die Letztbegründung des jus erblickt, der Gerechtigkeit [justice] und des Rechts. Es gäbe kein menschliches jus, kein Recht und keine Gerechtigkeit in einem System, das die Todesstrafe ausschlösse (Gesetze, 10. Buch, 909b-d lesen):

In Beachtung also dieses Unterschiedes soll der Richter diejenigen, die nur durch Unverstand, nicht aber durch böse Triebe und verwerfliche Gesinnung zu ihrem Standpunkt gelangt sind, der Besserungsanstalt überweisen und zwar kraft des Gesetzes auf mindestens fünf Jahre. Und in dieser Zeit soll kein anderer Bürger mit einem solchen Gefangenen verkehren als die Mitglieder des nächtlichen Rats, die durch ihren Umgang mit ihnen auf ihre Besserung hinwirken und ihr Seelenheil fördern sollen. Ist aber die Zeit der Gefangenschaft abgelaufen, so soll, wenn einer wieder zur Vernunft gekommen zu sein scheint, dieser auch wieder mit den Vernünftigen zusammen wohnen, ist dies aber nicht der Fall, so soll er mit dem Tode bestraft werden. Wer aber, nicht genug, daß er sich einer der drei Formen der Gotteslästerung schuldig gemacht hat, geradezu zum Tiere herabgesunken ist und voll Verachtung gegen die Menschen nicht nur viele Lebende durch seine Künste an sich fesselt, sondern auch die Toten wieder erscheinen zu lassen sich für fähig ausgibt und die Götter durch Opfer, Gebete und Zaubersprüche zu berücken und gnädig zu stimmen verheißt, und so zur Befriedigung seiner Habgier nicht nur Einzelne, sondern ganze Familien und Staaten von Grund aus zu verderben sich nicht scheut, den soll wie alle seinesgleichen, wenn er für schuldig befunden wird, das Gericht kraft des Gesetzes dazu verurteilen, in jenem im Innern des Landes gelegenen Gefängnis gefesselt untergebracht zu werden, und kein Freier soll je ihn besuchen; seine Nahrung aber soll er, so wie sie ihm von den Gesetzeswächtern zugesprochen worden ist, aus der Hand von Sklaven empfangen. Stirbt er, so soll sein Leichnam über die Grenze geworfen werden und da unbeerdigt liegen bleiben. Nimmt sich aber ein Freier seiner an und beerdigt ihn, so soll jedermann befugt sein, ihn wegen Gottlosigkeit gerichtlich zu belangen. Hat er aber Kinder hinterlassen, die dem Staate nützlich werden könnten, so soll die mit der Waisenfürsorge betraute Behörde auch diese als Waisenkinder unter ihre Obhut nehmen und ebenso gewissenhaft für sie sorgen wie für die anderen und zwar von dem Tage ab, wo die Verurteilung ihres Vaters erfolgte.20

(Lektüre hier wiederaufnehmen)

Verzeihen Sie bitte, wenn ich nun, gleich am Anfang, anlässlich des Beispiels von Sokrates und ein für alle Mal, einige massive Evidenzen in Erinnerung rufe, insbesondere die zwei größten und, zumindest dem Anschein nach, gröbsten unter ihnen. Diese zwei Evidenzen werden mich eine Zeit lang aufhalten, aber vergessen Sie nicht, dass wir diesen langen Umweg aus Anlass und am Rande des Falles Sokrates, der ersten unserer vier exemplarischen oder prototypischen Persönlichkeiten, unternehmen werden – wonach wir dann die drei anderen exemplarischen zum Tode Verurteilten zu uns kommen oder wiederkommen lassen werden.

Welches sind nun also diese zwei massiven Evidenzen?

Einerseits die (schon lange, seit einigen Jahrzehnten, seit Ende des Zweiten Weltkriegs aber beschleunigt) im Gange befindlichen Kämpfe für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe (Kämpfe, die wir zumindest in ihren groben Zügen und juristischen Skandierungen untersuchen werden, die internationaler Art sind, da sie oft die Form von allgemeinen Erklärungen und Empfehlungen internationaler Gemeinschaften angenommen haben), diese Kämpfe für die Abschaffung der Todesstrafe also betreffen nicht die Tötung oder das Töten im Allgemeinen, zum Beispiel in Kriegszeiten, sondern nur die Todesstrafe als gesetzliche Einrichtung der Innenpolitik eines für souverän erachteten Nationalstaats. Es ist immer legal, in der Situation eines erklärten Krieges einen ausländischen Feind zu töten, selbst im Falle eines Landes, das die Todesstrafe abgeschafft hat (und wir werden uns also in dieser Hinsicht zu fragen haben, was einen Feind, einen Ausländer21 und einen Kriegszustand – als Bürgerkrieg oder als zwischenstaatlicher Krieg – definiert; die Kriterien sind immer schwer zu bestimmen, und ihre Bestimmung wird immer schwerer werden).

Andererseits, zweitens: Bis hin zu gewissen jüngsten, eng umgrenzten Phänomenen der gesetzlichen Abschaffung der Todesstrafe im engen Sinne in einer immer noch begrenzten Anzahl von Ländern haben die Nationalstaaten abrahamitischer Kultur, jene Nationalstaaten, in denen eine abrahamitische Religion (Judentum, Christentum, Islam) vorherrschte, sei es, dass sie Staatsreligion, die offizielle und verfassungsmäßige Religion war, sei es, dass sie in der Zivilgesellschaft schlicht und einfach überwog, nun, bis hin zu gewissen jüngsten, eng umgrenzten Phänomenen der Abschaffung der Todesstrafe haben diese Nationalstaaten keinen Widerspruch empfunden zwischen der Todesstrafe und dem sechsten Gebot, „Du sollst nicht töten“ (von dem Levinas sagt, dass es, obgleich das sechste auf der Liste, in Wirklichkeit das erste sei, das grundlegende Gebot und die Ur-Grundlage der Ethik, das Wesen selbst der Ethik und die erste Bedeutung, die mir das Antlitz bedeutet22), haben also diese Nationalstaaten abrahamitischer Kultur zwischen diesem „Du sollst nicht töten“ (also diesem scheinbar absoluten Recht auf Leben, diesem Verbot, den Tod zu geben) und der Todesstrafe in Wahrheit nicht mehr Widerspruch empfunden als Gott selbst, als er, nachdem er auf diese Weise (Exodus 20, 1-17) das „Du sollst nicht töten“ vorgeschrieben hatte, Moses befahl, die Söhne Israels dem auszusetzen, was man mit „jugements [Urteilssprüche]“23 übersetzt. Was sagen insbesondere die genannten „Urteilssprüche“, unmittelbar nach den Zehn Geboten? Nun, im Grunde genommen, dass man all diejenigen zum Tode verurteilen, all denjenigen den Tod geben müsse, die dieses oder jenes dieser zehn Gebote übertreten. Es gibt da, Sie ahnen es, heikle und entscheidende Fragen der Semantik und also der Übersetzung, wir werden noch darauf kommen, aber ich zitiere zunächst die Übersetzung von Dhorme in der Pléiade-Ausgabe, die das sechste Gebot mit „Tu ne tueras point24 übersetzt hat; auf Deutsch (modernisierte und revidierte Luther-Übersetzung): „Du sollst nicht töten“*; auf Englisch (King James Version): „thou shallt not kill“. Chouraqui übersetzt anders und wir werden gleich noch darauf kommen, um eine kritische Differenz zu situieren zwischen zwei Weisen, den Tod zu bringen oder zu geben beziehungsweise das Leben zu nehmen. Nun, wenn Gott nach den Zehn Geboten, und also nach dem „Du sollst nicht töten“, Moses vorschreibt, den Söhnen Israels eine Liste mit „Urteilssprüchen/Rechtsordnungen“ vorzulegen (und hierbei handelt es sich sehr wohl um Urteilssprüche [jugements], nach einem hebräischen Wort (michpat), das die Gerechtigkeit, das Urteil, die Rechtsprechung, das Recht betrifft: Gott schreibt seinem Volk oder seiner Nation, den Söhnen Israels, eine Verfassung vor, ein Recht, eine Rechtsprechung, insbesondere ein Strafrecht – die Übersetzungen markieren das im Französischen alle, bei Dhorme wie bei Chouraqui handelt es sich um „jugements“), < wenn > Gott also Moses befiehlt, diese „Urteilssprüche“ den Söhnen Israels vorzulegen: „Voici les jugements que tu exposeras devant eux“ (Dhorme)25, „Voici les jugements que tu mettras en face d’eux“ (Chouraqui)26, auf Englisch (King James): „Now these are the judgments which thou shallt set before them“; auf Deutsch ist die Bezugnahme auf das Recht, auf die Strafjustiz noch expliziter: „Dies sind die Rechtsordnungen die du ihnen vorlegen sollst“*27, dann gibt es unter diesen Urteilssprüchen/Rechtsordnungen, unter dem, was buchstäblich ein Strafgesetzbuch ist, eine Reihe von Prinzipien oder Regeln, um Gerichtsentscheide [arrêts de justice] festzulegen, nun, dann gibt es darunter just eine ganze Reihe an Todesurteilen [arrêts de mort], an Verurteilungen zum Tode. Gott schreibt buchstäblich vor, all diejenigen zum Tode zu verurteilen beziehungsweise der Todesstrafe zu unterziehen, die bestimmte der durch die Zehn Gebote aufgestellten Verbote übertreten, insbesondere das „Du sollst nicht töten“. Ich zitiere zunächst die französische Übersetzung von Dhorme und schiebe die von Chouraqui etwas auf [je diffère], die uns gleich helfen wird, in all dem etwas klarer zu sehen.28 Unter den Urteilssprüchen/Rechtsordnungen, bezüglich derer Gott anordnet, dass sie den Söhnen Israels zur Kenntnis gebracht werden, gibt es also folgende, die ich auswähle, weil sie Todesstrafen beinhalten:

Wer einen Menschen (so) schlägt, daß er stirbt, muß getötet werden. Hat er ihm aber nicht nachgestellt, sondern Gott hat es seiner Hand widerfahren lassen, dann werde ich dir einen Ort bestimmen, wohin er fliehen soll. Doch wenn jemand an seinem Nächsten vermessen handelt, indem er ihn hinterlistig umbringt – von meinem Altar sollst du ihn wegnehmen, damit er stirbt. Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, muß getötet werden.

Wer einen Menschen raubt, sei es, daß er ihn verkauft, sei es, daß er in seiner Gewalt gefunden wird, (der) muß getötet werden.

Wer seinem Vater oder seiner Mutter flucht, muß getötet werden.29

Auf Englisch, immer noch in der King James Version, lautet das Äquivalent für „(der) muß getötet werden [il sera mis à mort]“: „he shall be surely put to death“, oder für jenes Motiv eines Para-Opfers, „Wenn jemand an seinem Nächsten vermessen handelt, indem er ihn hinterlistig umbringt – von meinem Altar sollst du ihn wegnehmen, damit er stirbt“: „thou shalt take him from my altar, that he may die.“ Auf Deutsch lautet die revidierte und modernisierte Luther-Übersetzung jedes Mal: Wer dies oder jenes getan hat, „der soll des Todes sterben“*, oder, in der Szene des Para-Opfers: „so sollst du ihn von meinem Altar wegreißen, daß man ihn töte“*.

Wie aber kann Gott dem Moses sagen, er solle den Söhnen Israels befehlen „Du sollst nicht töten“, und einen Augenblick später, auf unmittelbar konsekutive und scheinbar inkonsequente Art und Weise, „Du sollst den, der dieses oder jenes Gebot übertritt, dem Tod überliefern“30? Wie kann er ein Strafgesetzbuch, ein Recht erlassen, das einem flagranten Vergehen gegen die Ethik der Zehn Gebote ähnelt? Ich beschränke mich für den Augenblick natürlich nur auf dieses erste, sehr anfängliche Beispiel aus dem Buch Exodus, denn wenn wir uns daranmachen würden, die Todesstrafe in der Bibel zu untersuchen, bräuchten wir ein unendliches Seminar. Nun, der Grund dafür ist, Sie ahnen es, und Sie haben es vermutlich bereits verstanden, dass die Todesstrafe, die „Rechtsordnung“*, der Urteilsspruch, das Verdikt, das den Tod festlegt [arrête la mort], sich nicht auf denselben Tod bezieht, < auf > dieselbe Tötung wie die, von der im „Du sollst nicht töten“ die Rede ist. Man muss darauf insistieren, auf dieser Differenz zwischen zwei Toden, zum einen deshalb, um die Spezifität der Todesstrafe zu erkennen, die, de jure, etwas anderes sein sollte als ein einfacher Mord, zum anderen gleichzeitig aber auch, weil in der Moderne der für die Abschaffung der Todesstrafe kämpfenden Bewegungen31, die wir untersuchen werden, häufig auf ein Recht auf Leben als Menschenrecht Bezug genommen wird, das, sich implizit scheinbar auf das biblische „Du sollst nicht töten“ beziehend, alles übersteigt oder ignoriert, was in diesem biblischen Text mitnichten das absolute Recht auf Leben oder auch nur einen einfachen Gegensatz zwischen Leben und Tod betrifft, sondern zunächst eine Unterscheidung zwischen zwei Weisen, den Tod zu geben, wobei die eine durch das „Du sollst nicht töten“ verboten wird, und die andere durch das Strafgesetzbuch, das Gott seinem Volk durch seinen Mittelsmann Moses diktiert, vorgeschrieben wird. Und die Worte sind nicht dieselben, Gott wählt seine Worte wohl, wenn ich so sagen kann, und das ist der Grund dafür, warum uns hier die Übersetzung von Chouraqui interessiert. Chouraqui übersetzt das sechste Gebot nicht mit „tu ne tueras pas [Du wirst nicht töten]“, sondern mit „tu n’assassineras pas [Du wirst nicht morden]“32, so als ob man hier daran erinnern müsse, dass das Entscheidende nicht der Unterschied zwischen dem Leben und dem Tod ist, zwischen der Tatsache, leben zu lassen oder das Leben zu nehmen, sondern die Modalität, die nicht zu rechtfertigende Qualität der Aggression oder der Gewalt, die Kriminalität dessen, was das Leben antastet, nicht aber die Tatsache, das Leben zu nehmen. Und was die jugements, die Rechtsordnungen* betrifft, so übersetzt Chouraqui sie, so nahe wie möglich am Buchstaben und an der Wiederholung im Hebräischen, durch „wird/soll sterben, er wird/ soll sterben“: „Frappeur d’homme qui meurt, mourra, il mourra [Wer jemanden schlägt, daß er stirbt, / sterben muß er, sterben]“; „Qu’un homme prémédite contre son compagnon de le tuer par ruse, de mon autel, tu le prendras pour qu’il meure [Wenn aber jemand sich vermißt gegen seinen Genossen, ihn mit Hinterlist umzubringen, von meiner Schlachtstatt hinweg hole ihn, daß er sterbe]“; „Frappeur de son père, de sa mère, mourra, il mourra [Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, / sterben muß er, sterben]“; „Voleur d’homme et qui le vend, trouvé en sa main, mourra, il mourra [Wer jemanden stiehlt, / er habe ihn verkauft oder er werde in seiner Hand befunden, / sterben muß er, sterben]“; „Maudisseur de son père, de sa mère, mourra, il mourra [Wer seinen Vater oder seine Mutter verwünscht, / sterben muß er, sterben]“.33 +

Die beiden Tode, die beiden Tötungen stünden in keinerlei Zusammenhang, oder in einem so geringen Zusammenhang, sie wären derart heterogen, dass keinerlei Widerspruch bestünde, den einen zu verbieten [proscrire], während man den anderen vorschreibt [préscrit], zu sagen „Du sollst nicht töten“ im Sinne von „Du wirst/sollst nicht morden“, sowie anschließend zu sagen, anzuordnen, dass, wer mordet, mit dem Tode bestraft werde. In dieser Logik besteht keinerlei Affinitätsbeziehung zwischen dem Mord und der Todesstrafe, zwischen dem außergesetzlichen Mord und der legalen Todesstrafe. Der entscheidende Unterschied besteht hier nicht zwischen dem Leben und dem Tod, sondern zwischen zwei Weisen, den Tod zu geben. Der eine Tod, der der Todesstrafe, stellt das Gesetz oder das Gebot wieder her, das der andere Tod (der Mord) verletzt hat. Ebendiese göttliche Logik wird übrigens bisweilen buchstäblich die kanonischsten philosophischen Texte zugunsten der Todesstrafe inspirieren, die wir, wie ich hoffe, später noch genauer untersuchen werden. Alle großen Denker der Renaissance und der Reformationszeit haben sich im Übrigen auf die Bibel bezogen. Grotius tat es explizit. Hobbes und Locke rechtfertigten die Todesstrafe für Mörder, wie es auch Kant später tun wird, wir werden noch dazu kommen. Locke, Second Treatise of Government:

Unter politischer Gewalt verstehe ich dann ein Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls.34 +

Auch Rousseau rechtfertigt im Gesellschaftsvertrag die Todesstrafe gemäß einer mindestens analogen (vielleicht auch bloß analogen) Logik, in einem sehr schönen, ziemlich komplexen Kapitel, das ich später mit Ihnen genauer zu lesen hoffe; es handelt sich dabei um das 5. Kapitel des Zweiten Teils des Gesellschaftsvertrags, das den Titel „Vom Recht über Leben und Tod“ trägt, ein Kapitel, das nicht zufällig auf die Kapitel über die Souveränität folgt. Im Laufe einer verwickelten, nuancierten, beunruhigten, ja sogar besorgten Argumentation, aus der ich für den Augenblick nur folgenden Vorschlag herausgreife, billigt Rousseau auf diese Weise die Todesstrafe:

Die Todesstrafe, die über Verbrecher verhängt wird, kann man etwa unter demselben Gesichtspunkt betrachten [unter dem, an den er soeben erinnert hatte, dem des Staates, dessen „Fürst sagt: Es ist dem Staat dienlich, daß du stirbst“, und dessen Bürger also „sterben [muß]; denn einzig unter dieser Bedingung hat er bisher in Sicherheit gelebt, und sein Leben ist nicht mehr nur eine Gabe der Natur, sondern ein bedingtes Geschenk des Staates“++]: um nicht selbst das Opfer eines Meuchelmörders zu werden, ist man einverstanden zu sterben, wenn man einer wird.+++ Weit entfernt davon, über sein eigenes Leben zu verfügen, versucht man durch diesen Vertrag nur, es sicherzustellen, und es ist nicht anzunehmen, daß dabei einer der Vertragschließenden die Absicht hat, sich hängen zu lassen.35

Ein in vielerlei Hinsicht außerordentlicher Satz, sowohl deshalb, weil er die Todesstrafe in einen berechnenden, berechneten Vertrag einschreibt: Ich will ein wohlbehaltenes und gesichertes Leben haben, also muss ich versprechen, das meine gegen diese Versicherung zu verlieren, falls ich dahin komme, das Leben eines Anderen zu bedrohen oder anzutasten. Ein rationaler und vertragsmäßiger Tausch, ein totaler Gesellschaftsvertrag und eine zirkuläre Ökonomie, die zudem in genialer Weise auf dem Prinzip der Erhaltung des Lebens beruht, auf einem Erhaltungstrieb, von dem Rousseau ebenso vorsichtig wie unvorsichtig sagt, dass man dies „annehmen“ könne, das heißt dass man annehmen könne, dass kein Vertragspartner die Absicht hegt, sich hängen zu lassen! Man wird sehen! Man wird sehen! Denn wenn dem so ist, wenn niemand daran dächte, sich hängen zu lassen oder es zu riskieren, gehängt zu werden, dann gäbe es niemals einen Mord noch die Todesstrafe. Es stimmt, dass Rousseau in seinem Ausdruck minutiöser ist, denn er spricht davon, „anzunehmen [présumer]“, dass niemand „die Absicht hat [prémédite], sich hängen zu lassen“.+ Wir werden rasch sehen, mit welchen Zangen beziehungsweise Pinzetten [pincettes] man eine solche Annahme nehmen muss, auch ohne irgendeinen Todesstrieb geltend zu machen. Rousseau selbst übrigens hat in diesem Kapitel, das ich für eines der zerklüftetsten und interessantesten des Gesellschaftsvertrags halte, voller Beunruhigung immer weitere Vorbehalte, Faltungen, Gewissensbisse angeführt (ich hoffe, die Chance zu haben, darauf zurückzukommen, um dieses Kapitel mit ihnen Wort für Wort zu lesen, wie es das verdienen würde). Ich schematisiere also provisorisch die Vorbehalte, die Rousseau in dem Moment vorbringt, da er das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhält, und zwar scheinbar gemäß der biblischen Tradition, nach der der Mörder den Tod verdient.

1. Erster Vorbehalt: Er macht aus der Todesstrafe [peine de mort] ein Verdikt, das sich dem Zivilrecht entzieht und de facto auf dem Kriegsrecht beruht, so als ob es im Zivilrecht für die Todesstrafe [peine capitale] keinen Platz gäbe. Kriegsrecht, weil der Missetäter, indem er das gesellschaftliche Recht bricht, zu einem Verräter am Vaterland wird; er ist kein Glied des Staates mehr und wird, Rousseaus Wortlaut gemäß, zu einem „Staatsfeind [ennemi public]“: „Denn solch ein Feind ist keine sittliche Person, er ist nur irgendein Mensch; und unter diesen Umständen ist es Kriegsrecht, den Besiegten zu töten.“36 Was nur eine bestimmte Art und Weise ist, die Todesstrafe aus dem internen zivilen Strafrecht zu verdrängen, man könnte sogar sagen, sie a priori aufzuheben, um sie nur als Kriegsrecht zuzulassen. Ein Gestus, der umso seltsamer [étrange] anmutet, als die Frage der „Außenpolitik [politique étrangère]“, insbesondere des Kriegsrechts, aus dem Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen ist beziehungsweise nur mittels Auslassung behandelt, auf später verschoben wird, in den letzten Absatz des Schlusses (sieben Zeilen über „diesen neuen, für meinen beschränkten Gesichtskreis zu ausgedehnten Gegenstand; stets hätte ich meinen Blick auf das mir Näherliegende richten sollen“37).

2. Zweiter Vorbehalt: Rousseau trennt, er ist bereit – eine in der Tradition noch nie da gewesene Geste –, die Ausübung der Souveränität und die Ausführung der Verurteilung, jeglicher Verurteilung, voneinander zu trennen; er anerkennt, dass die Verurteilung eines Verbrechers nicht der allgemeine Akt des Souveräns ist, sondern ein partikulärer Akt; und er fügt, ziemlich verlegen hinzu:

Aber, wird man einwenden, die Verurteilung eines Verbrechers ist ein einzelner Akt. Einverstanden; deshalb steht diese Verurteilung nicht dem Souverän zu; sie ist ein Recht, das er zwar übertragen, aber nicht selbst ausüben kann. Meine Vorstellungen hängen alle zusammen, aber ich kann sie nicht alle auf einmal vorbringen.38 [Kommentieren.39]

3. Dritter Vorbehalt: Man kann den Schuldigen immer rehabilitieren oder bessern, die Idee der Strafe als Exempel ist ungerechtfertigt (womit sich Rousseau von vornherein der hartnäckigsten aller Argumentationen zugunsten der Todesstrafe entgegenstellt: ihrem exemplarischen Charakter, ihrer Wirkung durch das Exempel). Trotz dieses Einwands und dieses Vorbehalts erhält Rousseau das Prinzip der Todesstrafe im Falle einer im Prinzip unabwendbaren Gefahr aufrecht, was zum Beispiel des Staatsfeinds und des Kriegsrechts zurückführt. Er schreibt: „Es gibt keinen Bösewicht, den man nicht für irgend etwas tauglich machen könnte. Man hat nicht das Recht, jemand zu töten, nicht einmal zur Abschreckung [pour l’exemple], ausgenommen jemand, den man ohne Gefahr nicht erhalten kann.“40

Diese drei Vorbehalte verkomplizieren die grundlegende Absicht (die Bejahung der Legitimität der Todesstrafe) auf so merkwürdige Weise und überdeterminieren sie in ausreichendem Maße, um Rousseau ganz zu verwirren, der einen abschließenden Abschnitt über das Begnadigungsrecht (ein Recht, das dem Souverän zusteht und dem Rousseau nicht sehr wohlgesonnen zu sein scheint) [der also den Abschnitt über das souveräne Begnadigungsrecht und das Kapitel „Vom Recht über Leben und Tod“ mit folgenden Herzensworten und folgender Unterzeichnung eines Bekenntnisses] abschließt: „Aber ich spüre, wie mein Herz aufbegehrt [man verstehe darunter: gegen meinen Einwand gegen das Begnadigungsrecht des Staates] und die Feder stocken läßt; lassen wir den Gerechten diese Fragen erörtern, der niemals gefehlt hat und der für sich selbst nie der Gnade bedurfte.“41 (Schuld, Bekenntnis/Beichte [confession], autobiographische Signatur, keine politisch-juridische Metatheorie42 – vergleiche den eingeschobenen Satz: „Meine Vorstellungen hängen alle zusammen, aber ich kann sie nicht alle auf einmal vorbringen.“43 +)

Der langen Liste derer, die die Todesstrafe für Mörder legitimieren, wie Gott es im Buch Exodus tut, könnte man, um in Frankreich zu bleiben, auch Diderot und Montesquieu hinzufügen (aber wir werden noch auf diese Geschichte zurückkommen), Diderot, der sagte (ich finde die Referenz nicht mehr, das wird wiederkommen): „Es ist natürlich, dass die Gesetze die Ermordung der Mörder angeordnet haben“44, oder Montesquieu, der, zurückhaltender und restriktiver in der Aufzählung der Fälle der Todesstrafe, in Vom Geist der Gesetze dennoch nicht für deren Abschaffung war, wie der große Beccaria, über den wir noch sprechen werden, der die Todesstrafe durch lebenslange Gefängnishaft ersetzen wollte und dem es gelang, Voltaire, Jefferson, Paine, La Fayette zu überzeugen, und selbst Robespierre, der, bevor er seine Meinung änderte, im Moment der Abfassung des Code pénal im Jahre 1791, und es gilt daran zu erinnern, erfolglos die Thesen zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe unterstützte. Später wird er die Hinrichtung Ludwigs XVI. fordern, den er als einen „Verbrecher gegen die Menschheit“45 beschreibt, ein Umschwung, den Thomas Paine für einen Verrat am Ideal der Abschaffung der Todesstrafe hält, das er zunächst mit Robespierre geteilt hatte. Allerdings ist der die Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe leitende Geist aus der Revolution nicht verschwunden, denn nach der Hinrichtung Robespierres hat der Konvent auf seiner letzten Sitzung beschlossen, ich zitiere: „Mit Datum des Tages der allgemeinen Verkündung des Friedens, wird die Todesstrafe in der Französischen Republik abgeschafft sein“ (4. Brumaire des Jahres VI).46 Es wird nötig gewesen sein, auf diesen „Tag“ und dieses „Datum“ zu warten [„Mit Datum des Tages der allgemeinen Verkündung des Friedens“], beinahe zweihundert Jahre lang, damit die Todesstrafe in Frankreich abgeschafft wird (September-Oktober 1981 – keine Hinrichtung mehr seit dem 17. September 197747). Zwei Jahrhunderte, das ist eine Unendlichkeit an Ewigkeiten, und das ist ein Bruchteil einer Sekunde in der Geschichte der Menschheit. Alles und nichts.

Ich führe diese wenigen Beispiele nur an, um Ihnen eine erste begrenzte Vorstellung zu geben von der quälenden Komplexität dieser Geschichte, vor allem aber, um dem Erbe oder der Tradition der Logik der „Urteilssprüche/Rechtsordnungen [jugements]“ zu folgen, die im Buch Exodus auf die Zehn Gebote folgen. Bevor ich aber diesen Kontext verlasse, den einer Sequenz, in deren Verlauf ich mir also gleich am Anfang, und ein für alle Mal, erlaubt habe, einige massive Evidenzen in Erinnerung zu rufen, insbesondere die zwei größten und, zumindest dem Anschein nach, gröbsten unter ihnen, bevor ich also diesen Kontext verlasse, möchte ich noch festhalten, dass es in ebendieser Passage aus dem Buch Exodus, unmittelbar nach den Zehn Geboten und vor den „Urteilssprüchen/ Rechtsordnungen“, jenen ergreifenden und höchst aufschlussreichen Moment gab, Sie werden sich zweifellos daran erinnern, an dem das Volk, die Söhne Israels, nachdem sie die Zehn Gebote, aber noch nicht die „Urteilssprüche/Rechtsordnungen“ gehört hatten, [an dem also die Söhne Israels] nicht mehr hören wollen. Sie wollen Gott nicht mehr hören48. Zumindest wollen sie dem göttlichen Wort nicht mehr direkt ihr Ohr leihen, sie wollen Gott nicht länger zuhören, als wären sie auf das Schlimmste gefasst [s’attendaient], das in der Tat auch auf sie wartete [les attendait], und sie bitten Moses, mit ihnen zu sprechen, denn ihm, Moses, würden sie zuhören, während das Wort Gottes, wenn sie es direkt, ohne Mittler vernehmen, droht, sie sterben zu lassen, ihnen den Tod zu geben. So als ob (Sie werden den Text gleich hören), so als ob, als Gott ihnen, unter anderen Geboten, „Du sollst nicht töten!“ sagte, aber bevor er als gewissermaßen legale, rechtswissenschaftliche Konsequenz daraus folgerte, dass jeder, der töten wird, sterben soll, dass jeder, der morden wird, mit dem Tod bestraft werden soll, so als ob also Gott Gefahr liefe, sie mit seiner eigenen Stimme zu töten, just nachdem er ihnen gesagt hatte „Du sollst nicht töten!“. So als ob die Söhne Israels gespürt, geahnt hätten, dass die Stimme Gottes eine düstere Botschaft bringen, die Neuigkeit des Todes, die Drohung mit dem Tod, mit der Todesstrafe ankündigen würde, in ebenjenem Moment, in dem er das Töten soeben verboten hatte. Es ist dasselbe Gesetz, das ethische Gesetz, „Du sollst nicht töten!“, welches das rechtliche oder strafrechtliche Gesetz bestimmt, die Todesstrafe für den Verbrecher, der das ethische Gesetz übertritt. Sie ahnen, dass Gott gerade dabei ist, nicht das Töten, aber die Todesstrafe zu erfinden – und die Juden, die Söhne Israels, sind erschrocken über dieses göttliche Wort, das sie erwählt, das sie auserwählt, um ihnen gegenüber, an ihre Adresse gerichtet zu verkünden, um sich anzuschicken, die erste Drohung mit der ersten Todesstrafe der Welt, auf der Erde der Menschen [terre des hommes], auszusprechen. Dieser Übergang [transition], diese Trance49, die sich nun der Söhne Israels bemächtigt, ist außerordentlich. Sie sehen die Todesstrafe kommen, sie sehen sie von Gott kommen. Ich lese zwei Übersetzungen. Das ist just nach dem letzten der Zehn Gebote, in Kap. 20, Vers 18. < Übersetzung Dhorme50 >:

Und das ganze Volk nahm den Donner wahr, die Flammen, den Hörnerschall und den rauchenden Berg. Als nun das Volk das wahrnahm, zitterten sie, blieben von ferne stehen und sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören! [Als ob sie nicht, nicht mehr in der Lage wären, Gott unmittelbar, von Nahem zu hören] Aber Gott soll nicht mit uns reden, damit wir nicht sterben. Da sagte Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht! Denn nur um euch zu prüfen, ist Elohim gekommen, und damit die Furcht vor ihm euch vor Augen sei, damit ihr nicht sündigt. So blieb denn das Volk von ferne stehen. Mose aber näherte sich dem Dunkel, wo Elohim war.

Da sprach Jahwe zu Mose: So sollst du zu den Söhnen Israel sprechen […].51

Bald darauf wird die Liste mit den „Urteilssprüchen/Rechtsordnungen“ kommen (das Strafgesetzbuch und die Todesstrafe). Andere Übersetzung, die von < Chouraqui52 >:

Alles Volk aber, sie sahn

das Donnerschallen, das Fackelngeleucht,

den Schall der Posaune, / den rauchenden Berg,

das Volk sah, / sie schwankten, / standen von fern.

Sie sprachen zu Mosche: Rede du mit uns, wir wollen hören

[Als ob sie Gott nicht hören könnten, einen Gott, der allzu furchteinflößend und bedrohlich ist, der sie, nachdem er ihnen gesagt hat „Du sollst nicht töten!“, mit dem Tode bedrohen wird, mit jener Todesstrafe, die er zu erfinden gedachte],

aber nimmermehr rede mit uns Elohim [Als ob sie sagen würden: Er soll schweigen, dieser Gott, schweig, sprich nicht mehr zu uns, Moses, sag ihm, dass er schweigen und sich damit begnügen soll, dir zu sagen, was er uns mitteilen will], aber nimmermehr rede mit uns Gott, sonst müssen wir sterben.

Mosche sprach zum Volk: / Fürchtet euch nimmer!

Denn um des willen, euch zu prüfen, ist Elohim gekommen,

und um des willen, daß seine Furcht euch überm Antlitz sei,

damit ihr vom Sündigen lasset.

Das Volk stand von fern,

Mosche aber trat zu dem Wetterdunkel, wo Elohim war.53

(Eine Zeit des Stillschweigens einlegen)

Erinnern Sie sich, von woher wir kommen. Erinnern Sie sich, dass es der Fall unseres ersten zum Tode Verurteilten ist, des Griechen, Sokrates, der uns hierher geführt hat. Nun gibt es aber unter all den Tönen, die zwischen derart verschiedenen, scheinbar inkommensurablen Szenen wie denen des Dekalogs und des Prozesses gegen Sokrates auf analoge Weise zusammenklingen oder widerhallen, auch folgenden: eine Anprangerung eines Kults falscher Götter, schlechter Götter. Auf der einen Seite wird Sokrates beschuldigt, neue Götter eingeführt zu haben, auf der anderen Seite verdammt Jahwe – den Zehn Geboten vorangehend, sie beginnend und ihnen folgend – die Anbetung von Götzen, von aus Stein gehauenen Göttern, von Abbildern und Elohims aus Silber und Gold.

Unter all den exegetischen Mitteln und hermeneutischen Modellen, die sich um eine solche Erzählung drängeln mögen, können einige natürlich versuchen, in ihr eine historische Offenbarung zu dechiffrieren, andere eine Mythologie, die der Geburt des Gesetzes als Geburt der Todesstrafe eine allegorisch-narrative Form gibt; wieder andere können versuchen, durch das narrative (offenbarte oder mythologische) Raster hindurch zu dechiffrieren, wie die Struktur selbst des absoluten Gesetzes in eine fabelartige Geschichte gebracht wird, und zwar als in der Todesstrafe, in der Androhung des für eine Tötung zu zahlenden Preises, eben der Todesstrafe, gründend, am Ursprung des Gesellschafts- oder Nationalstaats-Vertrags, am Ursprung aller Souveränität, aller Gemeinschaft oder aller Genealogie, jeglichen Volkes.

Ich habe also gerade die Analogie mit dem Fall Sokrates in Erinnerung gerufen, dem ersten, aber es gibt auch den Fall Jesus. Ich sage jedes Mal Fall [cas], um daran zu erinnern, dass es sich um eine Rechtssache [cause judiciaire], einen Prozess und um Strafrecht handelt (übrigens: Die gesamte amerikanische Verfassungsrechtsprechung, auf die wir noch zurückkommen werden, insbesondere in Bezug auf die Todesstrafe, einer Todesstrafe, die zunächst eingeführt, dann abgeschafft, schließlich wiedereingeführt, ausgesetzt, dann in dieser oder jener einzelstaatlichen Gesetzgebung erneut angewandt wurde, diese gesamte Rechtsprechungsgeschichte wird von einer Geschichte des Rechts um „Fälle [cas]“ herum skandiert, „case X versus Y“, die jedes Mal ein Datum der Entscheidung – zum Beispiel der Obersten Gerichtshöfe – festhalten, Entscheidungen, die für die Rechtsprechung als Autorität maßgebend sind). Ich sage also Fall, um an diese juristische Dimension und diese Prozesse zu erinnern, aber auch, weil der Fall [cas] auch der Fall im Sinne von Sturz [chute] ist, eine kapitale Überstürzung, ja die Enthauptung [décapitation], die den Kopf oder das Leben oder den Körper niederwirft, die fallen oder herabfallen, zu Boden, unter das Schafott oder ans Kreuz. Es wird da also den Fall Jesus geben, hinsichtlich dessen wir dasselbe aufzeigen können werden: eine religiöse Anklage, die, natürlich, von einer Souveränität und einer politischen Exekutivbeziehungsweise Exekutionsmacht [pouvoir d’exécution] übernommen wird. Sokrates und Jesus also, aber auch Jeanne d’Arc (1431: selbes Schema, auf das wir immer wieder zurückkommen werden: eine religiöse Anklage im Dienste einer politischen Souveränität oder von dieser, die die Tötung zu vollstrecken beziehungsweise exekutieren vermag, bedient: Bündnis von Religion und Staat). Diese drei, Sokrates, Jesus, Jeanne, sind natürlich keineswegs die Einzigen oder die Ersten, noch weniger die Letzten, aber es sind große emblematische Figuren, anhand derer ich, in der Morgendämmerung dieses Seminars, beginnen möchte, noch bevor wir anfangen. Dieses Mal gibt es keine Protestanten mehr, oder noch keine, es gibt einen mehr oder weniger heidnischen Griechen, der sich nach „neuen daimonia“ sehnt54, Sokrates, es gibt eine sehr christliche, aber nicht protestantische Frau, und es gibt eine Art Juden namens Jesus, vor dem paulinischen Christentum.

Der vierte, mein „Moslem“, wenn man so sagen kann, könnte Al-Halladsch sein, zwischen der Zeit Jesu und der Zeit von Jeanne d’Arc, was uns gestattet, an die Texte von Massignon anzuknüpfen, die wir vor einigen Jahren im Seminar über die Gastfreundschaft55 untersucht haben, vor allem an das, was Massignon die Gastfreundschaft Abrahams nannte. Nun gilt aber Al-Halladsch, wie uns Massignon in seinem Vorwort von 1914 zu seinem großen Buch über La Passion de Hallâj, martyr mystique de l’Islam56 in Erinnerung ruft, und wenn man der islamischen Legende (bei arabischen, persischen, türkischen, indischen oder malaiischen Dichtern) Glauben schenkt, nun gilt also Al-Halladsch als „vollkommener Liebhaber Gottes“ – man wird ihn auch den „Verrückten Gottes“ nennen, der zum Galgen (Hängen, begleitet von Martern) verurteilt wurde, weil er in einer Art Trunkenheit ausgerufen habe: „Ich bin die Wahrheit“. Worte, die buchstäblich nach Christus klingen, Worte eines Christus, der sich nicht damit zufrieden gibt zu sagen, wie Sokrates es oft tat, dass er die Wahrheit nur sucht, sondern dass er die Wahrheit ist. „Ich bin die Wahrheit“: Jesus beruft sich in den vier Evangelien nicht nur unablässig auf die Wahrheit. In dem nach Johannes sagt er zu Thomas: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich (Ego sum via, et veritas, et vita; nemo venit at Patrem, nisi per me. Ego eimi he hodos kai he aletheia kai he zoë; oudeis erchetai pro ton patera ei me di’emou)“ (Joh 14, 6).57

Al-Halladsch wird also zum Galgen verurteilt, weil er in trunkener Ekstase ausrief „Ich bin die Wahrheit“, und er rief es noch vom Galgen herab: „Anâ’l-haqq (Hier bin ich, die Wahrheit)“, was dem großen Christen, der Massignon war, keineswegs missfiel, der erzählt, wie Al-Halladsch im Jahre 922 unserer Zeitrechnung, und dieser Punkt ist mir hier wichtig, in der Geschichte der abbassidischen Kalifen von Bagdad zum „Opfer“ (Opfer ist das Wort, das Massignon wählte) eines großen politischen Prozesses wurde, der durch seine öffentlichen Predigten provoziert wurde. In diesem politischen und durch und durch theologisch-politischen Prozess trafen sämtliche islamischen Kräfte der damaligen Zeit aufeinander: Imamiten und Sunniten, fuqahâ und sufis.

Der Reihenfolge nach also Sokrates, Jesus, Al-Halladsch (922), Jeanne d’Arc (1431). Jedes Mal eine Anklage, eine religiöse Beschuldigung und Inkriminierung, die die blasphemische Beleidigung irgendeiner göttlichen Sakralität im Visier hat, eine religiöse Beschuldigung, die von einer souveränen politischen Macht besetzt58, übernommen, verkörpert, einverleibt, ins Werk gesetzt, enforced, angewendet wird, welche eben dadurch ihre Souveränität, ihr souveränes Recht über die Seelen und über die Körper markiert, welche ihre Souveränität in Wahrheit definiert mit Hilfe dieses Rechts und dieser Macht: über das Leben und den Tod der Untertanen. Das Wesen der souveränen Macht, als politischer, zunächst aber theologisch-politischer Macht, präsentiert und repräsentiert sich auf diese Weise als Recht, eine Todesstrafe auszusprechen und zu vollstrecken. Oder willkürlich, in souveräner Weise zu begnadigen.

Wenn man sich fragen möchte, „Was ist das, die Todesstrafe?“ oder „Was ist das Wesen und < was ist > die Bedeutung der Todesstrafe?“, dann wird man diese Geschichte und diesen Horizont der Souveränität als Bindestrich des Theologisch-Politischen rekonstruieren müssen. Eine enorme Geschichte, die ganze Geschichte, die wir im Augenblick nur streifen oder flüchtig betrachten können. Es ist nicht einmal sicher, ob der Begriff der Geschichte und der Begriff des Horizonts einer Dekonstruktion des komplexen Gerüsts [échafaudage] dieser Schafotte [échafauds] standhalten. Unter Gerüst verstehe ich sowohl die zu dekonstruierende Konstruktion oder Architektur als auch die Spekulation, das Kalkül, den Markt, aber auch den spekulativen Idealismus, der ihnen als Stütze dient. Die Geschichte, der Begriff der Geschichte ist vielleicht, in seiner Möglichkeit selbst, in seinem Gerüst, mit der abrahamitischen und vor allem christlichen Geschichte der Souveränität verbunden, und folglich mit der Möglichkeit der Todesstrafe als theologisch-politischer Gewalt. Die Dekonstruktion ist vielleicht immer, im Allerletzten, durch die Dekonstruktion des Karnophallogozentrismus59 hindurch, die Dekonstruktion dieses historischen Gerüsts der Todesstrafe, der Geschichte dieses Schafotts oder der Geschichte als Gerüst dieses Schafotts. Die Dekonstruktion, was man mit diesem Namen benennt, ist vielleicht, kann sein, vielleicht60 die Dekonstruktion der Todesstrafe, des logozentrischen, logo-nomozentrischen Gerüsts, in dem die Todesstrafe eingeschrieben oder vorgeschrieben ist. Der Begriff der theologisch-politischen Gewalt ist noch unscharf, dunkel, ziemlich undifferenziert (trotz dieses Bindestrichs, der sich, wie wir klar und unabweislich sehen, in die vier großen Beispiele, in die vier großen paradigmatischen „Fälle“ einschreibt, die ich vorhin so rasch erwähnte: ein Prozess mit thematisch religiösem Inhalt und eine Hinrichtung, eine Tötung durch eine politischstaatliche Instanz, das Recht selbst, das Juridische, angefangen mit den „Urteilssprüchen/Rechtsordnungen“ und dem Kodex des Buches Exodus, dem Juridischen also, das stets die Vermittlung zwischen dem Theologischen und dem Politischen gewährleistet); dieser relativ grobe, aber bereits ziemlich bestimmte Begriff des Theologisch-Politischen, Theologisch-Juridisch-Politischen wird eine unendliche Analyse von uns erfordern. Eine Analyse, in deren Verlauf wir nicht voraussetzen dürften, als wüssten wir bereits, was „theologisch-politisch“ sagen will, und als bräuchten wir diesen Allgemeinbegriff anschließend nur auf einen Einzelfall oder ein einzelnes Phänomen namens „Todesstrafe“ anzuwenden. Nein. Es gilt vielleicht genau das Gegenteil davon zu tun. Man muss vielleicht genau andersherum vorgehen, das heißt versuchen, das Theologisch-Politische in seiner Möglichkeit von der Todesstrafe her zu denken. Dann würde man fragen: „Was ist das Theologisch-Politische?“ Und die Antwort würde sich wie folgt ankündigen: Das Theologisch-Politische ist ein System, ein Dispositiv der Souveränität, dem die Todesstrafe notwendig eingeschrieben ist. Theologisch-Politisches gibt es überall da, wo es Todesstrafe gibt.

Diese unendliche Analyse, diese Dekonstruktion könnte heute, zumindest in einem sehr präliminarischen Sinne, durch die Beschäftigung mit folgendem Zug, mit folgender Komplikation angeschnitten werden. In den vier betrachteten Fällen gibt es einen weiteren gemeinsamen Zug, den wir noch nicht hervorgehoben haben, einen gemeinsamen Zug, der umso bemerkenswerter ist, als die Kontexte, die Religionen und die staatlichen Strukturen in jedem von ihnen unähnlich und ziemlich weit voneinander entfernt sind (Athen, Jerusalem, Bagdad, Rouen). Es ging nämlich nicht darum, im Namen der Staatsräson, der Sicherheit der Stadt oder des Staates, die hier Verbündete oder Komplizen der religiösen Autorität sind, zu verurteilen oder hinzurichten [es ging also nicht darum], allem Anschein und allen Behauptungen oder Leugnungen zum Trotz, einen Feind des Staates und noch weniger einen Feind Gottes [zu töten]. In allen vier Fällen ging es darum, ein Sprechen zu töten, den Körper eines Sprechens [parole], das behauptete, nur die Präsentation einer göttlichen Rede [parole] zu sein, für die die staatlich-klerikalen Instanzen, die Doppelmacht der Kirchen und der Staaten, die Zwillingsmacht, die vereinigte Macht von Kirche und Staat taub blieb – und sich gut darauf verstand [entendait bien], nichts zu hören [ne rien entendre]. Alle vier, Sokrates, Jesus, Al-Halladsch und Jeanne d’Arc sagten im Grunde genommen, dass sie Stimmen hörten, die Stimme Gottes, und dass sie in dieser Hinsicht die Wahrheit seien. „Ich bin die Wahrheit“, sagten Jesus und Al-Halladsch wörtlich. Jeanne sagte wörtlich, dass sie Stimmen hören würde. Jesus und Al-Halladsch haben dasselbe Zeugnis dafür abgelegt, denn indem sie beide sagten „Ich bin die Wahrheit“, wollten sie, bisweilen wörtlich, sagen: Ich bin der Zeuge, ich kann von einer Wahrheit Zeugnis ablegen, die größer ist als ich und als ihr, die in mich kommt, aber in mich vom Jenseits her (ich unterstreiche diese Transzendenz, und insbesondere dieses Wort „Jenseits“ aus evidenten und allgemeinen Gründen, aber auch aus mehr buchstäblichen [littérales], ja literarischen Gründen, die sich später noch klären werden). Man tötet sie vielleicht deshalb, weil man Angst hat, die Stimme Gottes direkt, unmittelbar zu hören, wie die Söhne Israels, von denen ich vorhin sprach. Vielleicht tötet man sie auch deshalb, weil sie insofern als Bringer des Todes empfunden werden, als sie sagen, Träger der Stimme Gottes zu sein. Diese zeugenhafte, ja märtyrerhafte Beziehung zur Transzendenz einer vom Jenseits her sprechenden Stimme ist in den Fällen von Jesus, Al-Halladsch und Jeanne allzu evident, sie gilt jedoch auch schon für Sokrates, der nicht nur behauptete, nur im Namen der Wahrheit zu sprechen und Fragen zu stellen, sondern der auch sagte, dass er in sich einen daimon trage und von Gott Zeichen empfange. Dieses Wort „daimon“ ist für uns hier wichtig, mit all seiner griechisch-christlichen, zuallererst griechischen Ambivalenz, denn der daimon ist sowohl göttlich als auch dem Gott (theos) untergeordnet; er bezeichnet sowohl die Seele des Toten und den Wiedergänger, aber auch das Schicksal, das besondere Geschick, eine Art Erwählung, und häufig, im schlechten Sinne, das unglückliche Geschick, den Tod; und in christlicher Sprache, im Griechischen der Evangelien, bei Matthäus, Markus und Lukas, wird der daimon immer im schlechten Sinne genommen, als böser Geist, als das Dämonische, als Geist des Bösen. Bei diesem instabilen und zweideutigen Ausdruck daimon haben wir es also sowohl mit dem Motiv der transzendenten und heiligenden Gottheit als auch mit dem Motiv des dämonisch Verschlagenen [malin], des malin génie zu tun, mit dem Guten und dem Bösen, dem Verfluchten und dem Heiligungswürdigen; diese beiden sakralen Werte werden wir in der Szene der Verurteilung zum Tode und in der sakralen (verfluchten und geheiligten) Gestalt des zum Tode Verurteilten unaufhörlich aufscheinen sehen. Um nun auf Sokrates zurückzukommen, genauer auf eine berühmte Passage aus der Apologie (40a-b), so sagt auch er, dass er regelmäßig die Stimme seines daimon vernehme. Und was geschieht in ebenjenem präzisen Moment der Szene? Nun, er kündigt seinen Richtern an, ihnen sagen zu wollen, wie er deutet, was ihm geschieht [arrive], den Unfall/Zufall [accident], der ihm zustößt [arrive]: sein casus, sein Fall [cas] gewissermaßen, jener Unfall/Zufall, der seinen Sturz [chute] verursachen [causer] wird. Dieser Unfall/ Zufall ist eine „wundersame“ (thaumasion) Sache. Und was es da an thaumasion, an Erstaunlichem, Außerordentlichem, Wundersamem gibt, das ist hier, in diesem Fall die Tatsache, dass die Stimme seines daimon, die divinatorische (wahrsagende) Macht seines daimonischen Gottes [dieu démoniaque], die für gewöhnlich, üblicherweise in ihm spricht und ihn warnt (hè gar eiōthyia moi mantikè hè tou daimoniou), um ihm bis in die alltäglichsten Dinge des Lebens hinein Orientierung zu geben, nun, dieses Mal, als er sich dem Schlimmsten auszusetzen scheint, dem höchsten Unglück (eschata kakōn: das Äußerste der Übel, der Tod), nun, dieses Mal hat sein daimon geschwiegen, er hat ihn fallen lassen, es ist, als ob er ihn im Stich gelassen hätte, auch das, als ob sein Fall [cas], sein casus, sein Gott ihn nicht zurückgehalten hätte, vor das Tribunal zu treten und das Verdikt zu akzeptieren:

[…]; gleichwohl trat das göttliche Zeichen mir weder heute früh beim Verlassen meiner Wohnung warnend entgegen [ich zitiere die Übersetzung für to theou sémion: kein Zeichen Gottes hat mich zurückgehalten], noch bei meinem Gang hierher auf das Gericht, noch an irgendeiner Stelle meiner Rede, wenn mir etwas auf der Zunge lag.61

Anschließend – lesen Sie, was darauf folgt – interpretiert Sokrates dieses plötzliche Schweigen seines Gottes oder seines daimon, und die guten Gründe, die er, der Gott, haben kann, zu schweigen und ihn fallen zu lassen, ihn sprechen zu lassen, um seinen Tod an den Gesetzen des Gemeinwesens zu akzeptieren. Und vielleicht ist es die ganze Philosophie, würde ich allzu elliptisch sagen, die Platonische Philosophie, die Philosophie kurzum, die ihren Ort in diesem Schweigen des daimon im Moment der Verurteilung des Sokrates findet. Ich werde dieses Schweigen des Gottes von Sokrates nicht mit jener Szene vergleichen, in der die Söhne Israels im Moment der Aufstellung der „Urteilssprüche/Rechtsordnungen [jugements]“ und der Erlasse des Strafgesetzes verlangen, nicht mehr Jahwe zu hören, sondern nur noch seinen menschlichen Vermittler, Moses, < ich werde dies nicht vergleichen > die Versuchung dazu aber wäre groß.

Was ich durch diese Erinnerung entwirren wollte, ist die Tatsache, dass in der theologisch-politischen Struktur, von der wir sprechen, und im Zuge [trait] dieses Bindestrichs [trait d’union], die Allianz des Theologisch-Politischen sich nicht gegen das Nicht-Theologisch-Politische, gegen das Atheologisch-Politische vollzieht, sie setzt sich nicht in einer einfach antagonistischen oder oppositionellen oder dialektischen Szene etwas entgegen, das weder theologisch noch politisch wäre, sondern sie versucht entweder oder, oder beides zugleich, eine Transzendenz, die Referenz auf eine Transzendenz wieder in die Immanenz hinein zu holen [réimmanentiser], indem den Verurteilten, den vier Verurteilten bedeutet wird, dass sie nicht das Recht haben, sich als Träger des Wortes Gottes zu bezeichnen, dass sie ein Verbrechen begehen, ja dass sie eidbrüchig werden und Blasphemie betreiben, wenn sie behaupten, aus dem Jenseits kommende Stimmen zu hören, und dass man sie auf die Erde zurückholen müsse, zu den Gesetzen des Gemeinwesens oder der Kirche oder des Klerus oder der irdischen Organisation – und genau dies ist die Politik oder der Staat –, oder aber, und das läuft auf dasselbe hinaus, dass man sie anklagt, eben dadurch eine Profanation, eine Blasphemie, einen Missbrauch, einen Eidbruch, einen Abschwur begangen zu haben, dass sie behaupten, in unmittelbarem und persönlichem Kontakt mit einem Jenseits zu stehen, das transzendent und unzugänglich bleiben müsste, in einer Unzugänglichkeit, deren Hüter und einzige Garanten die Kirche, der Sanhedrin oder die griechischen Priester oder der Nächtliche Rat sind. Diese Verurteilung ergeht also sowohl im Namen der Transzendenz als auch gegen die Transzendenz. Und diese Komplikation hat zur Folge, dass das, was in den vier Fällen verurteilt wird, was sich theologisch-politisch verurteilt findet, nicht das Nicht-Theologisch-Politische ist, sondern eine andere politische Theologie, die von den vier zum Tode Verurteilten sichtbar versprochen oder angekündigt oder gefordert oder bezeugt wird. Alle vier haben eine theologische und politische Botschaft, eine andere Botschaft. Wir werden später sehen, inwieweit heute, wo im Unterschied zu dem, was noch 1989, vor zehn Jahren, geschah, als nur 58 Länder die Todesstrafe auf alle Verbrechen abgeschafft hatten, wo also heute umgekehrt jene Länder, die der Todesstrafe ein Ende gesetzt haben, bei weitem in der Mehrheit sind, 105 – während es noch 72 Länder gibt, die die Todesstrafe anwenden –, wo also heute die Positionen der Kirchen, der christlichen Kirchen und insbesondere der katholischen Kirche ambivalent oder widersprüchlich sind, je nachdem, ob sie von dieser oder jener Instanz vertreten werden (der Rat der christlichen Kirchen62 zum Beispiel erklärte 1991 seine Ablehnung der Todesstrafe, während der vom Papst unterzeichnete „Katechismus der Katholischen Kirche“ diese Strafe in sogenannten „schwerwiegendsten Fällen“63 rechtfertigt, darin der Tradition folgend, die, unter so vielen anderen, notorisch von einem heiligen Thomas von Aquin illustriert wird, der ein beredter und energischer Befürworter der Todesstrafe gegen Häretiker war, jene Falschmünzer des Glaubens, die, wie die Falschmünzer im Allgemeinen, welche von den säkularen Fürsten mit dem Tode bestraft werden, ebenfalls „gerechter Weise getötet“64 werden müssen). Alle vier, sagte ich, haben eine theologische und politische Botschaft, eine andere Botschaft. Und, als zusätzliche Komplikation: Das Wesentliche dieser anderen Botschaft in der auf diese Weise eröffneten und bereits skandierten Geschichte finden wir in jeder Kulturgeschichte, jeder politischen Geschichte, jeder Rechts- oder Religionsgeschichte der Todesstrafe wieder, wir finden es auf beiden Seiten wieder, sowohl auf der Seite derer, die sehr bald schon, und dann auf eine ganz andere Weise, in der Moderne gegen die Todesstrafe gekämpft haben, als auch auf der Seite derer, die ihr Prinzip aufrechterhalten haben, bisweilen nur das Prinzip, bisweilen auch die grausamste Anwendung. Was unsere Lektüren, unsere Interpretationen, unsere Arbeit nicht erleichtern wird. Wir sind jedoch nicht hier, um die Dinge zu vereinfachen. Wir sind hier, erlauben Sie mir, dies noch einmal in Erinnerung zu rufen, denn das ist in diesem Zusammenhang wesentlich und entscheidend, wir sind hier weder in einem Tribunal noch auf der Anklagebank, weder an einer Kultstätte noch in einem Parlament, weder bei einer Zeitung [journal] noch bei einem Tele- oder Radiojournal. Wir befinden uns auch nicht in einem echten Theater. All diese Orte auszuschließen, all diese Orte zu verlassen, ohne Ausnahme, das ist die erste Bedingung, um die Todesstrafe zu denken. Und also zu hoffen, diesbezüglich irgendetwas zu ändern.


+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Oder eben: Es sieht sich selbst [il se voit lui-même]“ (A.d.H.).

+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Denn als Frauen konnten sie nicht Zeugnis ablegen, ohne die Gewalt, deren Opfer sie geworden waren, zu wiederholen, und Sie erinnern sich, dass eines der Kapitel folgenden Titel trug…“ (A.d.H.).

+Während der Sitzung führt Jacques Derrida weiter aus: „Dies sei kurz gesagt, um den Kurs anzuzeigen. Es ist evident, dass ich in meiner Argumentation und in dem Pathos, das Sie vernehmen werden, zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe sprechen werde [tenir un discours abolitionniste], natürlich, Sie haben das bereits verstanden, das wird mich jedoch nicht daran hindern, kritische oder dekonstruierende Fragen zu stellen zu diesem Diskurs der Bewegung für die Abschaffung der Todesstrafe [discours abolitionniste], zur Logik, die den Abschaffungs-Diskurs gegenwärtig stützt, und die mir ihrerseits anfechtbar zu sein scheint.“ (A.d.H.).

+Während der Sitzung führt Jacques Derrida aus: „Eine Synagoge, das ist ein Ort, wohin man gemeinsam geht; der syllogos, das ist ein Ort, an dem miteinander diskutiert.“ (A.d.H.).

+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Dieser Tod ist kein Mord. Eine feine, aber wesentliche Unterscheidung, die natürlich die ganze Geschichte des Rechts und der Todesstrafe unablässig durchziehen wird.“ (A.d.H.).

+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Die Souveränität des Staates ist also zunächst das Recht über den Tod, das Recht, die Todesstrafe zu vollziehen.“ (A.d.H.).

++Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Mit anderen Worten: Der Bürger empfängt sein Leben vom Staat, und folglich hat er kein Recht auf sein Leben. Sein Leben wird ihm in gewisser Weise geliehen; das Leben ist ein bedingtes Geschenk des Staates. Eine außerordentliche Formulierung, nicht wahr! Das Leben ist nicht mehr nur eine Gabe der Natur, sondern ein bedingtes Geschenk des Staates. Der Staat behält ein Recht über Leben und Tod gegenüber dem Bürger, dem sein Leben geliehen wurde, als bedingtes Geschenk.“ (A.d.H.).

+++Weitere Hinzufügung während der Sitzung: „Ein Versicherungsvertrag: Wenn du in deinem Leben geschützt sein willst, dann musst du akzeptieren, dass du, falls du tötest, deinerseits getötet wirst.“ (A.d.H.).

+Während der Sitzung fährt Jacques Derrida fort: „Es ist also nicht auszuschließen, dass es Vertragsteilnehmer gibt, die nicht ausschließen, dass es ihr Wunsch ist, sich hängen zu lassen. Es stimmt, dass Rousseau noch minutiöser ist in seinem Ausdruck, denn er spricht davon, ‚anzunehmen‘, dass niemand ‚die Absicht hat, sich hängen zu lassen.‘ Es ist möglich, er nimmt an, es ist also eine Hypothese, es ist möglich, dass Leute unbewusst wollen, gehängt zu werden, das ist es [akustisch kaum verständlich: … criminel… ça veut dire…], nehmen und hängen [prendre et pendre]. Was Rousseau jedoch ausschließt, ist, dass sie die Absicht dazu hegen [le préméditent], das heißt dass sie es bewusst, im Voraus berechnen, usw.“ (A.d.H.).

+An den Rand des Typoskripts hat Jacques Derrida Folgendes geschrieben: „(Keine/Schritt der Philosophie [Pas de philosophie] gegen die Todesstrafe)“. Während der Sitzung entwickelt Derrida diese Klammer wie folgt: „Nachdem er zuvor gesagt hatte ‚Meine Vorstellungen hängen alle zusammen, aber ich kann sie nicht alle auf einmal vorbringen‘, erklärt er ‚Ich habe gefehlt, nur wer nie gefehlt hat, hat das Recht, zu sprechen.‘ Mit anderen Worten: Es gibt keine Metasprache, keine politische, politisch-juridische Theorie. Nur jemand, der über jeden Verdacht erhaben wäre, hätte das Recht, zu sprechen, aber niemand kann über jeden Verdacht erhaben sein. Er vermischt diesen Diskurs über die Todesstrafe also mit der Signatur des Bekenntnisses.“ (A.d.H.).

Die Todesstrafe I

Подняться наверх