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Allgemeine Einführung

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Die Gesamtausgabe der Seminare und Vorlesungen Jacques Derridas wird dem Leser die beispiellose und – im mehrfachen Sinne des Wortes – unerhörte Chance bieten, mit dem gesprochenen Wort des Philosophen in Berührung zu kommen, wie es im Rahmen seiner Lehrtätigkeiten geäußert wurde. Diese Ausgabe wird einen neuen Teil seines Werkes darstellen, der zu unterscheiden ist von den Büchern und anderen Texten, die er zu Lebzeiten veröffentlichte oder noch vor seinem Tod durchgesehen hat; dieser Teil besitzt natürlich einen anderen Status als jene. Ob als eigenständiges Ganzes genommen oder in ihrem Verhältnis zu Derridas philosophischem Werk betrachtet werden diese Vorlesungen und Seminare der Forschung ein unvergleichliches Hilfsmittel an die Hand geben und, so glauben wir zumindest, sein Denken in anderer Weise erfahrbar machen, diesmal eben in Verbindung mit seiner – in Frankreich wie im Ausland ausgeübten – Tätigkeit als Lehrender, die stets eine lebendige Quelle seines Schreibens bildete.

Das Korpus, das wir zur Publikation vorbereiten, ist von gewaltigem Umfang. Vom Beginn seiner Lehrtätigkeit an hatte Jacques Derrida es sich zur Gewohnheit gemacht, fast alle seiner Vorlesungen und Seminare vollständig niederzuschreiben. Wir verfügen in diesem Zusammenhang gegenwärtig über das Äquivalent von ungefähr 14 000 Druckseiten, das heißt 43 Bänden oder 1 Band pro Studienjahr. Man kann dieses Material nach verschiedenen Kriterien klassifizieren. Zunächst einmal nach den jeweiligen Orten der Lehre: an der Sorbonne 1960-1964; an der École normale supérieure in der Rue d’Ulm 1964-1984; an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) 1984-2003.1 Sodann nach der Art der jeweiligen Lehrveranstaltung: bis 1964 Vorlesungen mit einer wechselnden Anzahl von Sitzungen (die von einer bis 15 reicht); später dann das, was er stets „Seminare“ nannte. Schließlich – und dieses Kriterium ist für die editorische Arbeit zweifellos am relevantesten – nach den Arbeitswerkzeugen: handgeschriebene Sitzungstexte von 1960 bis 1969; maschinengeschriebene, mit handschriftlichen Anmerkungen und Korrekturen versehene Sitzungstexte von 1969 bis 1987; am Computer verfasste Sitzungstexte von 1987 bis 2003.

Jacques Derridas Seminare, die eine eigentümliche Form besaßen und bereits in der Rue d’Ulm (wo die Wahl der Themen und der Autoren, wenn nicht sogar ihre Behandlungsweise den Zwängen des Studiengangs zur Erlangung der agrégation2 unterworfen war) ein großes und breit gefächertes, internationales Publikum anzogen, nahmen an der EHESS ihren endgültigen Charakter an: Am Mittwoch, von 17 bis 19 Uhr, in circa zwölf Sitzungen pro Studienjahr, trug Jacques Derrida vor einer großen Zuhörerschaft und stets ein wenig improvisierend den Text seines Seminars vor, den er im Laufe des Jahres vollständig niedergeschrieben und redigiert hatte. (Diesen sind noch einige improvisierte Sitzungen hinzuzufügen, die bisweilen der Interpretation eines Textes oder der Diskussion dienten.) Nunmehr frei in der Wahl seines Gegenstands, hat Derrida mehrjährige Forschungsprojekte angelegt, die explizit und in kohärenter, schlüssiger Weise aufeinanderfolgen. Die wichtige Frage nach „Nationalität und Nationalismus in der Philosophie“ (1984-1988) führt zur Frage nach den „Politiken der Freundschaft“ (1988-1991), die wiederum zu einem großangelegten Themenblock unter dem Titel „Fragen der Verantwortung“ (1991-2003) führt, unter dem nacheinander folgende Themen angesprochen werden: das Geheimnis (1991-1992), das Zeugnis (1992-1995), Feindschaft und Gastfreundschaft (1995-1997), Eidbruch und Vergebung (1997-1999), die Todesstrafe (1999-2001); das Ganze mündet schließlich in die letzten beiden Studienjahre, die sich unter dem Titel „La bête et le souverain“ (2001-2003) den Fragen der Souveränität und der Animalität widmeten.

Jacques Derrida hatte die Angewohnheit, für die zahlreichen Vorträge, die er jedes Jahr in aller Welt hielt, aus dem reichen Material dieser Seminare zu schöpfen, und so wurden auf diesem Wege bestimmte Ausschnitte von Seminaren umgearbeitet und publiziert. Darüber hinaus haben einige seiner Bücher ihren Ausgangspunkt in der Arbeit im Seminar: So ist zum Beispiel ein Großteil von De la grammatologie (1967) eine Weiterentwicklung von Sitzungen eines Seminars über „Natur, Kultur, Schrift“ in den Jahren 1965-1966; das Seminar über „Hegels Familie“ (1971-1972) fand Eingang in Glas (1974); Politiques de l’amitié (1994) präsentiert sich explizit als Weiterentwicklung der ersten Sitzung des Seminars von 1988-1989, wobei sich letztendlich auch Spuren weiterer Sitzungen finden.3 Trotz all dieser Neuzuschnitte und partiellen Überschneidungen ist der weitaus größte Teil der Woche für Woche für das Seminar verfassten Seiten unveröffentlicht geblieben; sie werden eine unschätzbare Ergänzung zum bereits veröffentlichten Werk bieten. Jedes Mal wenn eine Sitzung – in modifizierter oder in unveränderter Form – Gegenstand einer späteren Veröffentlichung von Jacques Derrida wurde, wird letztere angezeigt und mit bibliografischen Angaben nachgewiesen werden. Wir sind der Ansicht, dass es nicht Sache einer Edition der Seminare im eigentlichen Sinne, das heißt als Originalmaterialien, ist, eine vergleichende Lektüre dieser Versionen vorzulegen.

Wie bereits angedeutet, gestaltete sich die editorische Arbeit überaus unterschiedlich, je nachdem, auf welche Weise der Text entstanden ist. Für jene Zeitspanne, in der die Schreibmaschine verwendet wurde, verlangen zahlreiche Streichungen und handschriftliche Anmerkungen nicht zu unterschätzende Anstrengungen bei ihrer Entzifferung. Das gilt umso mehr für jene Seminare, die vollständig per Hand, also mit Jacques Derridas schöner, aber schwierig zu lesender Handschrift redigiert wurden und daher eine äußerst gewissenhafte Transkription erfordern. In einer ersten Phase werden wir also die Seminare der letzten zwanzig Jahre veröffentlichen, wobei das allerletzte Seminar den Anfang macht, während die übrigen zur Publikation vorbereitet werden. Unser oberstes Ziel war es jedenfalls, den Text des Seminars zu präsentieren, wie er von Jacques Derrida niedergeschrieben wurde, im Hinblick auf den mündlichen Vortrag, also mit bestimmten vorweg notierten Mündlichkeitsmarkern und gewissen familiären Wendungen. Es ist nicht sicher, ob Jacques Derrida diese Seminare veröffentlicht hätte, wenngleich er bisweilen eine derartige Absicht äußerte4; sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass er diese Texte, falls er sie für eine Publikation wiederaufgegriffen hätte, im Sinne des geschriebenen Textes überarbeitet hätte, wie er es immer tat. Wir haben es natürlich nicht auf uns genommen, diese Arbeit an seiner Stelle zu erledigen. Wie bereits erwähnt, wird der Leser die Originalversion, die wir hier vorlegen, mit jenen wenigen Sitzungen vergleichen können, die Jacques Derrida selbst eigenständig publiziert hat.

Geoffrey Bennington

Marc Crépon

Marguerite Derrida

Thomas Dutoit

Peggy Kamuf

Michel Lisse

Marie-Louise Mallet

Ginette Michaud

Die Todesstrafe I

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