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Erste Sitzung 8. Dezember 1999 (Fortsetzung)1

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Sokrates, Jesus, Al-Halladsch, Jeanne d’Arc: Krieg, bisweilen bewaffnet, nicht zwischen dem Theologisch-Politischen und seinem Anderen, sondern zwischen mindestens zwei Geschichten und zwei Versionen des Theologisch-Politischen. Das heißt auch: der Souveränität.

Ich möchte jedoch, immer noch bevor wir anfangen, immer noch in der Morgendämmerung des Seminars über das Quasi-Theater der Todesstrafe, jemand anderen hierher kommen lassen – nicht auf die Bühne oder vor die Schranke des Gerichts, denn ich habe ja gesagt, dass dies weder ein Tribunal noch ein echtes Theater ist, sondern eben hierher. Ich möchte hier das Gespenst Jean Genets wiederkehren lassen, des großen dramatischen Dichters, des großen Zeugen und Theatersmanns dieser Zeit, des faszinierten Analytikers (und diese Faszination wird eines unserer Themen sein), des faszinierten Analytikers dieses legalen Mordes [assassinat], den man die Vollstreckung [exécution] einer Todesstrafe nennt, des großen Zeugen oder Akteurs, der großen Gestalt des Theaters, der – soweit gehend, sie zu vermengen oder uns ihre tiefgründige Ähnlichkeit in Erinnerung zu rufen – sowohl von der Waffe des Verbrechens als auch von der Waffe der kapitalen Exekution fasziniert war, die für ihn ein weiteres Verbrechen, eine andere Art von Verbrechen wäre. Durch ihn werden wir uns hier tatsächlich unserem Anfang nähern, werden wir anfangen, anzufangen. Oder so zu tun, als ob wir anfingen.

Aus mehreren Gründen. Gründen sehr verschiedener Art. Der erste zählt weniger, denn er ist nur persönlicher, autobiographischer Art, wie man so sagt. Beim ersten Mal, als ich, als Kind, vor dem letzten Weltkrieg, durch die algerische Presse davon erfuhr, dass es so etwas wie die Verurteilung zum Tode gibt, dass man den Verurteilten warten lässt, und dass man ihn auf den souveränen Gnadenerweis des Präsidenten warten und hoffen lässt, und dass man eines Morgens, in der Morgendämmerung, zu seiner Enthauptung schreitet, nun, da hieß der zum Tode Verurteilte Weidmann. Ich habe sein Bild noch vor Augen, das Bild seines Photos im Écho d’Alger. Nun ist Weidmann aber das erste Wort, das erste Wort und der erste Eigenname in Notre-Dame-des-Fleurs von Jean Genet, einem Buch, das unmittelbar nach dem letzten Weltkrieg veröffentlicht wurde – am Ende des Welt-kriegs [guerre mondiale], nach welchem eine breite, tendenziell weltweite Bewegung – deshalb hebe ich dieses Wort „mondial [Welt-/weltweit]“ stets hervor –, sowie zahlreiche weltweite Erklärungen mit universellem Anspruch gegen die Todesstrafe aufkamen, wir werden es noch sehen, Appelle, Erklärungen oder Beschlüsse, die die Verurteilung zum Tode verurteilen und die schließlich hier, zum Beispiel in Europa, Gehör fanden, nicht aber dort, in anderen Teilen der Welt, insbesondere in den USA. Ein Ausschnitt aus Notre-Dame-des-Fleurs war also unmittelbar nach dem Weltkrieg, 19442, veröffentlicht worden, das Ganze dann 1948, also an die vierzig Jahre vor der Abschaffung der Todesstrafe [peine de mort] in Frankreich: Notre-Dame-des-Fleurs, ein Buch, dessen imaginärer Held, Notre-Dame, zur Todesstrafe [peine capitale] verurteilt wurde; ich sage imaginärer Held, denn der erste Name und das erste Wort des Buches, eben Weidmann, dessen Namen und dessen Gesicht ich in den Zeitungen meiner Kindheit erscheinen sah, Weidmann benennt seinerseits eine reale Gestalt, wie man so sagt, die guillotiniert wurde und deren Name ganz Frankreich, bis nach Algerien hinein, das damals zu Frankreich gehörte, in den Ohren hallte.

Ich werde diese Passage von Genet gleich vorlesen. Sie werden in ihr andere Motive bemerken, die andere Gründe darstellen werden, ebenso viele Gründe, sie zu zitieren. Der eine betrifft die Theatralität und die Faszination für das Spektakel, für das unmittelbare oder das durch die Presse (die Printmedien oder heute die kinematographischen Medien) aufgeschobene [différé] Spektakel; der andere betrifft die Allegorie oder Metonymie Christi, die in unserer abrahamitischen Kultur aus dem zum Tode Verurteilten eine Art Wiederholung oder Parodie oder Komödie der Passion Christi macht, eine Imitatio Jesu Christi.

Bevor ich dieses incipit des Buches vorlese, lege ich einen anderen Grund dafür vor, so anzufangen, mit Literatur kurz gesagt. Warum, in Bezug auf die Todesstrafe, mit Literatur anfangen? Nicht nur, um erneut auf große Adern wie „die Literatur und der Tod“, „die Literatur und das Recht auf den Tod“3 zu stoßen, oder auf die Spur unzählbarer literarischer oder poetischer Werke, die Verbrechen und Strafe4 in Szene setzen, sowie jene Bestrafung, die man die Todesstrafe [peine de mort] nennt. All das gibt es natürlich, und wir werden daran denken, ich hätte jedoch eine zugespitztere Hypothese zu dem, was die Geschichte der Literatur und die Geschichte der Todesstrafe verbinden, assoziieren oder dissoziieren kann. Diese Hypothese wird langsam und auf diskontinuierliche, vorsichtige und sorgsame Weise der Prüfung unterzogen werden, zweifellos, in ihren gröbsten Zügen liefe sie jedoch auf Folgendes hinaus: Wenn die Geschichte der allgemeinen Möglichkeit, des weitesten Feldes der allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit epischer, poetischer oder belletristischer Produktionen im Allgemeinen (nicht der Literatur im strengen und modernen Sinne) die Legitimität oder die Legalität der Todesstrafe voraussetzt oder mit ihr Hand in Hand geht, nun, dann ist im Gegensatz dazu die kurze, strikte, moderne Geschichte der Institution namens Literatur im Europa der letzten drei oder vier Jahrhunderte zeitgenössisch mit und nicht zu trennen von einer Bestreitung der Todesstrafe, von einem Kampf um ihre Abschaffung, der zwar nicht überall gleich, der heterogen und diskontinuierlich ist, gewiss, aber auch irreversibel und tendenziell weltumspannend als einmal mehr verbundene Geschichte der Literatur und des Rechts, sowie des Rechts auf Literatur. Eine Entsakralisierung, die sich auf komplexe und widersprüchliche Weise, wie in der Geschichte der Vergebung, von der Szene und der Autorität des Exodus und der göttlichen Strafe freimacht. Ich überlasse diese Hypothese hier ihrer gröbsten und gewagtesten Formulierung, wir werden Gelegenheit haben, über sie zu diskutieren und auf sie zurückzukommen. Um diese Hypothese zu stützen, werde ich als Argument nicht die Tatsache anführen, dass zahlreiche der eloquentesten und überzeugtesten Reden/Diskurse [discours] zugunsten einer Abschaffung der Todesstrafe im Rahmen dessen, was ich die literarische Moderne nenne, das heißt in der Literatur im strikten Sinne, von Schriftstellern und Dichtern wie zum Beispiel Shelley, Hugo oder Camus geführt wurden. Das sind nur Indizien, die ich nicht als Argument anführen werde (umso mehr, als es auch Gegenbeispiele gibt, wie Wordsworth, der zugunsten der Todesstrafe schrieb). Aber diese Indizien haben es verdient, zunächst als Indizien angezeigt zu werden; anschließend werden wir versuchen, uns diesen Texten zu nähern.

Hier nun die erste Seite von Notres-Dames-des-Fleurs, sie beginnt mit einem Eigennamen (das ist nicht das einzige Beispiel bei Genet: Die Wände begannen ohne Satz mit dem Ausruf eines Namens, der ein Eigenname und ein Gattungsname zugleich ist: „Rose! Warda“5). Hier ist es Weidmann. Das ist der erste Name einer Liste von berühmten zum Tode Verurteilten, die vom Erzähler besungen, gedenkend erinnert, man muss sogar sagen glorifiziert werden, glorifiziert, denn es geht dabei um eine „Glorie“ (Sie werden das Wort „Glorie“ erklingen hören, das heißt das Wort für ein leuchtendes Strahlen, einen Glanz [lustre], eine Aura, eine Aureole, einen Lichtschein über ihrem Haupt wie bei Christus, aufgrund ihrer Exekution, bisweilen ihrer Enthauptung6). Weidmann, das erste Wort, der erste Name des Buches, das ist auch der Moment einer Erscheinung, einer Vision. Genet oder der Erzähler hat eine Vision dieser zum Tode Verurteilten, und diese Vision ist die Vision eines spektakulären Spektakels, einer ebenso theatralischen wie gespenstischen [spectrale] Erscheinung – und Genet hat in seinem Theater bekanntlich viel mit Gespenstern gespielt („Weidmann vous apparut [Weidmann erschien euch]“, das sind die drei ersten Worte des Buches) –, und wenn ich diese Liste der Toten auf dem Feld der Ehre der Todesstrafe, dieser Märtyrer und dieser Heiligen vorlese, hebe ich gewisse an Christus gemahnende Züge hervor, die auf perverse Weise an Christus gemahnen, aber mit einer Perversität, die vielleicht eine alles durchdringende christliche Wahrheit [pervérité] sowohl offenbart, als auch verrät. „Ich bin die Wahrheit [vérité], Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“7 Hier zunächst der erste Satz:

Weidmann, den Kopf umwickelt mit weißen Leinenbinden, Nonne oder verletzter, in Roggenfelder gefallener Flieger, erschien Euch in einer Fünf-Uhr-Ausgabe [also eine Erscheinung in den Medien, ein Sehen [vision], das bereits Fern-Sehen [télé-vision] ist, auf einem Zeitungsphoto, bei dieser Erscheinung, die auch das Erscheinen einer Zeitung im Moment eines Erscheinens vor Gericht ist, bilden das Theatralische und das Mediale eine Einheit: keine Todesstrafe ohne Phänomenalität eines Erscheinens] an einem Septembertag ähnlich dem, an dem der Name von Notre-Dame-des-Fleurs bekannt wurde.8

Ich halte einen Augenblick bei diesem ersten Satz inne. Ich muss sagen, dass ich mich selber an diese Photographie erinnere. Das ist hier aber nicht wichtig. Was zählt, ist nicht nur das Wort „Nonne [réligieuse]“, das die verehrungswürdige Sakralität dieser Erscheinung, dieser Vision ohne Umweg erklärt, die Sakralisierung, die sich dieses zum Tode verurteilten Mörders in seinem öffentlichen, theatralischen und faszinierenden Bild unmittelbar bemächtigt. Man befindet sich unmittelbar [immédiatement] im sakralen Element eines Erscheinens, das vor Religiosität, religiöser Feierlichkeit erstarrt ist. Genauer gesagt geht es jedoch um die Analogie mit Christus, so als ob Notre-Dame-des-Fleurs, als ob das Buch, das diesen Titel trägt, ein apokryphes fünftes Evangelium nach Johannes/Jean (Genet) wäre, die Analogie mit Christus also, im Gedenken an Christus, eine Analogie, die mittels dieser „weißen Leinenbinden“ markiert wird, die jemanden, einen Mann, umwickeln, die buchstäblich an jene „Leinenbinden“ erinnern, mit denen, diesmal im echten Johannesevangelium, in Kap. 19, Vers 40, der Leichnam9 Jesu umwickelt wurde. Was sagt der Text von Johannes/Jean, ich meine vor allem Johannes den Evangelisten? Folgendes, nach der Beschreibung der Marter, wie man jenen, die zusammen mit Jesus gekreuzigt wurden, die Beine zerschlug. Jesus war bereits tot, man hat ihm die Beine nicht zerschlagen, sondern ein Soldat hat mit seiner Lanze seine Seite durchbohrt, aus der Blut und Wasser flossen. Johannes sagt:

Josef aus Arimathäa war ein Jünger Jesu, aber aus Furcht vor den Juden nur im Verborgenen. Er bat Pilatus, den Leichnam Jesu abnehmen zu dürfen, und Pilatus erlaubte es [Pilatus, der Repräsentant des römischen Staates, wird in diesem ganzen Prozess also die Rolle der Macht innegehabt haben, die es sich, trotz eines gewissen Widerwillens, der religiösen Forderung der Gemeinde und des Sanhedrin nachzukommen, zur Aufgabe macht, den Tod, die Vollstreckung der Strafe und die Behandlung des Leichnams, zu organisieren; der Text fährt fort]. Also kam er und nahm den Leichnam ab. Es kam auch Nikodemus, der früher einmal Jesus bei Nacht aufgesucht hatte. Er brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe, etwa hundert Pfund. Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben (elathon oun to sōma tou jesou kai edesan auto othoniois [othonion, das ist ein Wäschestück, zerzupfte Leinwand oder ein Schleier] meta tōn aromatōn; auf Lateinisch: Acceperunt ergo corpus Jesu, et ligaverunt illud linteis cum aromatibus [linteum, das ist ebenfalls Leinwand, ein Schleier, ein Stoff, ein Gewebe]) […].10

Othonion oder linteum also, was man meistens mit bandelettes („Leinenbinden“) übersetzt, weil man bei den Juden den Leichnam in der Tat damit umbindet, indem man ihn einwickelt, indem man ihn mit Binden umwickelt, die dem ähneln, was man bei Verletzten Druckverband [bandes velpeau] oder bei Säuglingen Windeln [langes] nennt. Indem er das Wort „bandelettes/Leinenbinden“ wählt, um Weidmanns Gesicht zu beschreiben, das ich also in den Zeitungen selber mit Leinenbinden umwickelt gesehen habe, scheint mir Jean (Genet diesmal) einen christologischen Wink zu geben in Richtung Jean/Johannes des Evangelisten (oder in Richtung Lukas, der sich für dieselbe Szene derselben Wörter bedient11), und das scheint in vielerlei Hinsicht bezeichnend zu sein. Nicht nur, weil sich das ganze Buch Notre-Dame-des-Fleurs (ja sogar die ganze Literatur von Genet) in allgemeiner, massiver, konstitutiver Weise von den Evangelien, vom Geist der Frohen Botschaft durchtränken lässt, und mit christlichen Notierungen und Konnotationen spielt, mögen sie auch pervers oder ikonoklastisch sein – das Werk ist eine Performance eines christlichen antichristlichen Ikonoklasmus, eines Eidbruchs und eines Abschwörens, das von eben dem fasziniert ist, was es zu Literatur wendet [tourne en littérature], wie man sagen würde, etwas ins Lächerliche zu ziehen [tourner en dérision] –, sondern genauer, lokaler gesehen, auch deshalb, weil das Buch Notre-Dame-des-Fleurs die Passion der zum Tode Verurteilten besingt (Sie wissen, dass es ein langes Gedicht von Genet gibt, das das den Titel Der zum Tode Verurteilte trägt und ebenfalls 1945 veröffentlicht wurde, und das in den Œuvres complètes auf Notre-Dame-des-Fleurs folgt, und das Genets Freund Maurice Pilorge gewidmet ist, der, wie Genet sagt, „dazu verurteilt wurde, den Kopf abgeschnitten zu bekommen. Er wurde am 17. März 1939 in Saint-Brieuc hingerichtet“; dieses Gedicht, Der zum Tode Verurteilte, nennt, in seinem poetisch-argothaften Wortgebrauch, auf zärtliche und verliebte Weise, in seiner vorletzten Strophe „mein[en] Jesus“:

Nicht heute Morgen werde ich geköpft.

Ich kann ruhig schlafen. Im Stockwerk über mir

Erwacht mein fauler Liebling, meine Perle,

Mein Jesus. Er wird mit seinem harten Stiefel

Meinen kahlen Schädel treten12).

Hinzu kommt auch, dass Notre-Dame-des-Fleurs (das ebenfalls Maurice Pilorge gewidmet ist: „Ohne Maurice Pilorge, dessen Tod nicht aufhört, mein Leben zu vergiften, hätte ich dieses Buch niemals geschrieben. Ich widme es seinem Andenken.“13), [dass also Notre-Dame-des-Fleurs] ernsthaft eine Art Gesang von Trauer und Wiederauferstehung spielt, mimt, simuliert, der die Erhöhung, die Himmelfahrt [ascension] der Opfer des Schafotts poetisch beschreibt, aber auch provoziert, produziert, performiert und glorifiziert (nicht den Fahrstuhl [Ascenseur] zum Schafott14, jenen berühmten Film, mit der Musik von Miles Davis – ich zitiere ihn, bevor wir beginnen, weil die amerikanischen Schwarzen heute bevorzugt Opfer dessen sind, was die Todesstrafe in der sogenannten westlichen, demokratischen Welt bleibt; nicht den Fahrstuhl zum Schafott also, sondern die an Christus gemahnende Himmelfahrt, die Erhöhung, nach dem Schafott, und eine poetisch-literarische Quasi-Wiederauferstehung, Quasi-Rettung [salut], Quasi-Erlösung nach dem Schafott).

Um uns besser davon zu überzeugen, müssen wir auch hier der Metonymie und dem Zitat der Leinenbinden nachgehen. Deshalb insistiere ich so darauf. Die Leinenbinden umwickeln, befestigen, sie verbinden, aber sie lösen sich auch: sie lösen sich vom Leib. Wenn wir nun aber, in den Evangelien, das Theater der Leinenbinden aufmerksam betrachten, so sehen wir, wie sie, in dem Moment, da sie für sich allein gesehen werden, entbunden, losgelöst, fern vom Körper, auf dem Boden liegend, außer Gebrauch, [wie sie also] mindestens zwei Mal das Ende des Todes bedeuten, wenn ich so sagen kann, die Wiederauferstehung des Leibes, der sich vom Tod erhoben hat und aufrecht, erhoben, wieder auf- und nach oben gerichtet im Leben stand. Die Leinenbinden bedeuten den Tod, die Verurteilung zum Tode, wenn sie jedoch wieder fallen, außer Gebrauch gekommen, abgemacht, entbunden, losgelöst, signalisieren sie, bedeuten sie [signifient], wie ein losgelöster Signifikant, dass der Tote wiederauferstanden ist [ressucité], sich erhoben hat [insurrectionné], sich erhebend wiederauferstanden ist [insurressucité15], wenn ich so sagen kann, von neuem erhoben, wiedererhoben und aufgerichtet durch ein Wunder, ein göttliches Wunder oder ein poetisches Wunder. Das Wunder der Rose (1946, unmittelbar nach Notre-Dame-des-Fleurs), Das Wunder der Rose, aus dem wir gleich ebenfalls die erste Seite lesen werden, ist im Übrigen auch ein Gesang an, ich zitiere, den „Tod auf dem Schafott, der unser Ruhm [gloire] ist“.16

Zwei Beispiele also, in den Evangelien, der Szene mit den Leinenbinden. Zunächst die Passion (Verurteilung zum Tode, Kreuzigung und Grablegung). Es handelt sich um jene Passage, die ich vorhin vorgelesen hatte (Joh 19,40): „Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben, wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist.“17 (Jesus wird wie/als [comme] ein Jude begraben, genau deshalb habe ich ihn neulich, so viel sei zur Erinnerung gesagt, bei meiner Klassifikation der paradigmatischen Figuren unseres Theaters der Todesstrafe, als eine Art Juden definiert18). Hier aber nun die zweite Zeit/Phase [temps] und das zweite Beispiel, die zweite Erscheinung der Leinenbinden. Die Leinenbinden erscheinen in der Tat, sie treten plötzlich in Erscheinung [apparition], sie tauchen im Licht auf: Es handelt sich um eine Erscheinung [phénomène], die zu bedeuten [signifier] scheint, die ein Zeichen gibt [fait signe], wie in einer Vision. Die Zeit dieser Erscheinung der Leinenbinden, ihr Augenblick in der Erzählung und im Prozess ist sehr bemerkenswert (und wenn wir die Muße dazu hätten, wenn das das Thema des Seminars wäre, würden wir hier tiefer nachsinnen über diese Zeit der Leinenbinden als Herberge, vorbereitet für die Literatur, für einen Aufstieg ohne Himmelfahrt, eine Erhebung ohne Erhöhung19, eine unmittelbar bevorstehende Wiederauferstehung, die aber noch nicht vollbracht ist, usw.). Und zwar deshalb, weil diese Leinenbinden, wie Sie hören werden, dieses zweite Erscheinen der Leinenbinden, der losgelösten, zurückgelassenen Leinenbinden am Grab Christi, bedeuten wird, dass Christus nicht tot ist, dass er nicht mehr tot ist: Er wird tot gewesen sein, gewiss, er starb, aber er ist noch nicht wiederauferstanden, noch nicht erhöht: Er ist immer noch da, unten auf Erden, um die anderen anzublicken, zuallererst Maria: Er betrachtet sie, wie sie seine Abwesenheit betrachtet, er betrachtet sie, wie sie ihn weder tot noch lebendig sieht, und vor allem: das geschieht unmittelbar vor dem noli me tangere („Rühre mich nicht an!“20 [einzigartiges Beispiel; das Berühren kommentieren, Jesus berührend berührt, außer in Johannes 20,17]+ 21). Ich werde diese wohlbekannte Passage vorlesen und Ihre Aufmerksamkeit, unter anderem, auf jenen Moment lenken, da die Tränen Marias angesichts der Leinenbinden die Trauer zum Ausdruck bringen, die nicht ausagiert wird, die nicht arbeiten kann, weil das, was Maria angesichts der Leinenbinden beweint, nicht nur der Tod des begrabenen Jesus ist, sondern auch das Verschwinden seines aus dem Grab verschwundenen22 Leichnams. Jesus ist nicht nur tot, dieser zum Tode Verurteilte ist zuallererst ein Verschwundener 23, sein Leichnam ist verschwunden (ebendies bedeuten die entbundenen Leinenbinden zunächst). Der zum Tode Verurteilte ist nicht nur exekutiert worden, der Tote ist ein Verschwundener, außerhalb des Grabes, und der Schmerz ist schlimmer, untröstlicher, das ist der Schmerz der Frau, die nicht in der Lage ist, den Leichnam des Geliebten zu beweinen, nicht in der Lage, ihre Trauerarbeit zu verrichten, wie man so sagt. Ein wenig wie die Antigone, von der wir vor einigen Jahren sprachen24, und die weniger den Tod ihres Vaters beweint, diesmal, nicht ihres Sohnes, als vielmehr die Abwesenheit eines lokalisierbaren Grabmals – und die auf diese Weise beweint, ihre Trauer nicht vor einem Leichnam, einem anwesenden Leichnam ausweinen zu können. Das erinnert auch an den Text aus den Nomoi über den Entzug des Begräbnisses/Grabmals [sépulture], den ich bereits vorgelesen habe.25 Im Fall Christi, in jenem Moment des Evangeliums, gibt es < ein > Begräbnis/ Grabmal, was jedoch auf eine Art Abwesenheit von Grabmal hinausläuft, es gibt auch < ein > Kenotaph, < ein > leeres Grab [tombeau] und Leinenbinden, die die Abwesenheit des Leichnams signieren. Man könnte, ohne allzu viel Pathos, sagen, dass Maria in jenem Moment, als sie angesichts der Leinenbinden den Engeln gegenüber klagt, nicht mehr zu wissen, „wohin sie ihn gelegt haben“, den Leichnam Jesu, eine Präfiguration des Unglücks, der Klage und des Zorns sämtlicher Frauen, Mütter, Töchter und Schwestern der „Verschwundenen unserer Zeit“ darstellt, die, auf den Straßen Chiles, Argentiniens oder Südafrikas, ebenfalls Anklage erheben, die jene anprangern, die Schlimmeres getan haben als ihre Männer zu foltern und zu töten, denn sie haben sie verschwinden lassen, in einem Verschwinden, das bisweilen schlimmer erscheint als der Tod.

Ich lese jetzt in einem Zug den Abschnitt Johannes 20,1-18:

Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war.

Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen, und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben.

Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab;

sie liefen beide zusammen, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als Erster ans Grab.

Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging jedoch nicht hinein.

Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein.

Er sah die Leinenbinden liegen

Und das Schweißtuch, das auf dem Haupt Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle.

Da ging auch der andere Jünger, der als Erster an das Grab gekommen war, hinein; er sah und glaubte.

Denn sie hatten noch nicht die Schrift verstanden, dass er von den Toten auferstehen müsse.

Dann kehrten die Jünger wieder nach Hause zurück.

Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Während sie weinte, beugte sie sich in die Grabkammer hinein.

Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, den einen dort, wo der Kopf, den anderen dort, wo die Füße des Leichnams Jesu gelegen hatten.

Die Engel sagten zu ihr: Frau, warum weinst Du? Sie antwortete ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben.

Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war.

Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen.

Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister.

Jesus sagte zu ihr: Rühre mich nicht an; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.

Maria von Magdala kam zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie berichtete, was er ihr gesagt hatte.26

Wie wird dieser einzigartige Augenblick, dieses Dasein ohne Da-sein Christi, dieses Dasein*, das kein Da-sein* ist, dieses Fort/Da-Sein* Christi, der gestorben ist, aber nicht tot ist, der lebendig tot/tot lebendig [mort vivant] ist, der wiederauferstanden, aber noch nicht erhöht ist, der hier ist, ohne hier zu sein, hier, aber da [], dort [là-bas] (fort*, jenseits*), das heißt bereits jenseits, noch ohne jenseits, im Jenseits zu sein, wie wird dieser Moment, diese einzigartige Zeit, die nicht zum gewöhnlichen Ablauf der Zeit gehört, wie wird diese Zeit ohne Zeit sowohl im Tod als Verurteilung zum Tode (als Todesstrafe), im Tod des zum Tode Verurteilten bedeutet, aber auch im Diskurs oder im Bericht, im gewöhnlichen, öffentlichen oder medialen Sprechen, und zuallererst in der Literatur, und hier zum Beispiel im Text von Genet, in seiner poetischen Zeit wie in der Zeit selbst, die – in einer „Geschichte“ (dem, was Genet eine „Geschichte“ und eine „nicht immer künstliche“ Geschichte nennen wird) – den zum Tode Verurteilten an den Evangelisten bindet, an die Rede des Überbringers der Botschaft, der im Übrigen um Vergebung bitten wird? Ich werde Auszüge aus einer langen Passage vorlesen (man müsste alles lesen, oder wiederlesen, Sie sollten es tun), bis zu einer Stelle, an der wir, neben dem „Vergebt mir!“, auf einen Satz stoßen, der vom zum Tode Verurteilten (Weidmann) sagt, dass er ebenfalls jenseits, darüber hinaus sei, wie Christus, einmal von den Leinenbinden entbunden.

Lesen und kommentieren Notre-Dame-des-Fleurs, S. 9-10 und 12-13 [deutsch: a.a.O., S. 7-8 und 12-14].

Weidmann, den Kopf umwickelt mit weißen Leinenbinden, Nonne oder verletzter, in Roggenfelder gefallener Flieger, erschien Euch in einer Fünf-Uhr-Ausgabe an einem Septembertag ähnlich dem, an dem der Name von Notre-Dame-des-Fleurs bekannt wurde. Sein schönes Gesicht stürzte, von Maschinen vervielfältigt, auf Paris und Frankreich herab, in die hintersten Winkel vergessener Dörfer, in Schlösser und Hütten, und enthüllte bekümmerten Bürgern, daß ihr Alltag von verzauberten Mördern gestreift wird, die eine tückische, einverstandene Dienstbotentreppe geräuschlos bis an ihren Schlaf führt, durch den sie hindurchschreiten. Unter seinem Bild erstrahlten wie Morgenröte seine Verbrechen (Mord eins, Mord zwei, Mord drei – bis sechs), verkündeten seinen heimlichen Ruhm und bereiteten seinen künftigen Ruhm vor.

Kurz zuvor hatte der Neger Ange Soleil seine Geliebte getötet.

Kurz darauf ermordete der Soldat Maurice Pilorge seinen Geliebten Escudero, um ihm etwas weniger als tausend Francs zu stehlen, dann schnitt man ihm zu seinem zwanzigsten Geburtstag den Hals durch, als er gerade, Ihr erinnert euch, dem wütenden Henker eine Nase drehte.

Ein Fähnrich zur See schließlich, ein Kind noch, verriet um zu verraten: man füsilierte ihn. Zu Ehren ihrer Verbrechen schreibe ich mein Buch.

Diese wunderbare Pracht schöner und düsterer Blüten erfuhr ich nur in Bruchstücken: auf einem Zeitungsausschnitt, durch eine beiläufige Erwähnung meines Anwalts oder durch die Sträflinge, die davon sprachen, sangen – einen phantastischen Trauergesang (ein De Profundis), wie die Klagelieder, die sie abends anstimmen, oder die Stimme, die durch die Zellen dringt, und verwirrt, verzweifelt, entstellt zu mir gelangt. Am Ende der Phrasen bricht sie, und dieser Sprung macht sie so sanft, als wäre sie von Engelsmusik getragen – doch davor graust mir; denn die Engel grausen mich, ich stelle sie mir so vor: weder Geist noch Materie, weiß, dunstförmig und erschreckend wie der durchsichtige Körper von Gespenstern.

[…]

Mit Hilfe meiner unbekannten Geliebten werde ich also eine Geschichte schreiben. Die dort an der Wand kleben, sind meine Helden – und ich, der Eingesperrte. Wenn Ihr weiterlest, werden die Personen, auch Divine und Culafroy, aus der Wand auf meine Seiten fallen wie welke Blätter, um meine Erzählung zu düngen. Ihr Tod – muß ich es noch sagen? Sie alle werden den Tod Weidmanns erleiden, der – als er durch das Schwurgericht von seinem erfuhr – sich begnügte, mit rheinländischem Akzent zu murmeln: „Darüber bin ich schon hinaus“ (Weidmann).

Es ist möglich, daß diese Geschichte nicht immer künstlich erscheint und daß man gegen meinen Willen die Stimme meines Blutes darin erkennt: dann bin ich nachts mit der Stirn gegen eine Tür gestoßen und habe mich von einer furchterregenden Erinnerung befreit, die mich seit Anbeginn der Welt verfolgt. Vergebt mir. Dieses Buch soll nur eine Parzelle meines inneren Lebens sein.

[…]

Divine starb gestern in einer Lache von so rotem erbrochenem Blut, das sie sterbend – in einer letzten Täuschung – für ein sichtbares Gegenstück zu dem schwarzen Loch hielt, auf das die aufgeschlitzte Geige, in einem Gewirr von Beweisstücken, auf dem Tisch des Untersuchungsrichters mit dramatischer Inbrunst zeigte – so wie ein Jesus auf den vergoldeten Schanker deutet, in dem sein Geheiligtes Herz brennt. Das war die göttliche Seite ihres Todes. Für uns dagegen hatte ihr Tod die Bedeutung eines Mordes – wegen der Blutströme auf Hemd und Laken (die Sonne war in ihrem Bett untergegangen, auf den blutigen Laken, packend, nicht etwa perfide).

Divine starb als Heilige und ermordet (durch die Schwindsucht).27

Anschließend den Anfang von Das Wunder der Rose lesen, S. 223-224 [deutsch: a.a.O., S. 5-7].

Während das Kind, das ich mit fünfzehn Jahren war, sich in seiner Hängematte um einen Freund schlang (wenn die Härten des Lebens uns zwingen, uns eine gegenwärtige Freundin zu suchen, so sind es, glaube ich, die Härten der Zwangsarbeit, die uns zueinanderführen in einer entscheidenden Liebe, ohne die wir nicht leben können: das Unglück selbst ist der Liebestrank), wußte es bereits, daß seine endgültige Gestalt hinter diesen Mauern lag und daß dieser dreißigjährige Häftling die äußerste Verwirklichung seiner selbst war, die letzte Wandlung, die der Tod beenden würde. Schließlich aber erstrahlte Fontevrault in dem blassen und sanften Schein des Lichtes, das – in seinem dunklen Innern, in seinen Kerkerzellen – von Harcamone ausging, dem zum Tode Verurteilten.

Als ich aus der Santé fortkam, um nach Fontevrault gebracht zu werden, wußte ich schon, daß Harcamone dort seine Hinrichtung erwartete. Bei meiner Ankunft wurde ich also von dem Mysterium eines meiner alten Kameraden von Mettray ergriffen, der es verstanden hatte, unser gemeinsames Abenteuer bis zum Äußersten zu treiben: zum Tode auf dem Schafott, der unser Ruhm ist. Harcamone hatte „Erfolg gehabt“. Und dieser Erfolg war nicht von dieser Welt, wie Geld oder Glück; angesichts dieser Vollendung erwachte in mir Erstaunen und Bewunderung (selbst das Einfachste ist wunderbar), aber auch die Furcht, die den Zeugen einer Zauberei in Verwirrung bringt. Harcamones Verbrechen hätten meiner Seele vielleicht nichts bedeutet, wenn ich ihn nicht näher gekannt hätte; aber die Liebe, die ich für die Schönheit empfinde, hat die Krönung meines Lebens durch einen gewaltsamen oder vielmehr blutigen Tod von Anfang an herbeigesehnt, und mein Streben nach einer Heiligkeit von dumpfem Ansehen, das in den Augen der Menschen nicht heldenhaft sein konnte, ließen mich heimlich die Enthauptung erwählen; sie hat es für sich, verachtet zu werden, den Tod zu verachten, den sie herbeiführt, und die von ihr Belohnten in einem düsteren und sanften Ruhm erstrahlen zu lassen, der wie der Samt der leicht tanzenden Flamme bei großen Begräbnissen ist; und Harcamones Verbrechen und sein Tod zeigten mir, wie auf einem Schaubild, den Vorgang dieses endlich erreichten Ruhmes. Ein solcher Ruhm ist nicht menschlich. Es ist kein Hingerichteter bekannt, dem allein sein Tod den Heiligenschein verliehen hätte, wie man es bei den Heiligen der Kirche und den Ruhmbeladenen dieser Welt sieht; aber dennoch wissen wir, daß die reinsten unter den Menschen, die diesen Tod empfangen haben, in sich selbst und über ihrem abgeschlagenen Haupte eine wunderbare und vertraute Krone fühlen, voller Kleinodien, die der Finsternis des Herzens entrissen sind. Jeder von ihnen hat gewußt, daß in dem gleichen Augenblick, da sein Kopf in den Korb mit Sägemehl fällt und von einem Gehilfen, dessen Rolle mir recht eigenartig erscheint, bei den Ohren gefaßt wird, daß in dem gleichen Augenblick sein Herz von schamhaft bedeckten Händen aufgenommen und in die Brust eines Jünglings fortgetragen wird, die wie ein Frühlingsfest geschmückt ist. Es handelte sich also um einen himmlischen Ruhm, nach dem ich mich sehnte, und Harcamone hatte ihn in unerschütterlicher Gelassenheit vor mir erreicht, dank der Ermordung eines kleinen Mädchens und, fünfzehn Jahre später, eines Wärters von Fontevrault.28

Jetzt beginnen wir. Mein Übergang zwischen diesem langen randinschriftlichen Exergon im Sinne eines Mottos29, und unserem wahren Beginn könnte das „Vergebt mir“ von Genet sein, oder genauer die Vergebung, um die jener bittet, der „ich“ sagt, sagen wir der „Erzähler“ von Notre-Dame-des-Fleurs.

Zunächst zur Frage des Titels. Dieses Jahr schreiben wir unter dem Titel „Questions de responsabilité VII. Pardon et parjure [Fragen der Verantwortung VII. Vergebung und Eidbruch]“ also einen Untertitel ein, nämlich „La peine de mort [Die Todesstrafe]“.

Als ob wir bis hierher im Grunde genommen von etwas anderem gesprochen hätten.

Nun ist aber nichts weniger gewiss. Denn jedes Mal, wenn wir es in unserem Nachdenken über die Vergebung [le pardon] für notwendig hielten, vom Nichtvergebenen [l’impardonné] und vom Nichtvergebbaren [l’impardonnable], vom Irreversiblen oder Nichtwiedergutzumachenden [l’irréparable] auszugehen, auch jedes Mal dann, wenn wir vom Über-leben sprachen, das heißt von dem, was einen angesichts des Übels eines Todes, der bereits stattgefunden hat, wehrlos zurücklässt, wie Opfer, die nicht mehr Zeugnis ablegen konnten oder die um Vergebung zu bitten, nicht mehr in Frage kam, < jedes Mal dann > sprachen wir natürlich vom Tod, aber auch, wie überall, wo es um Vergebung geht, vom Urteil, vom Urteil über ein Übel/Böses [mal] oder ein Unrecht [tort].

Es bleibt einmal mehr, dass nicht jeder Tod und nicht einmal jeder auferlegte Tod der Urteilsspruch [sentence] oder die Anwendung einer Todesstrafe ist. Und wir werden wachsam im Hinterkopf behalten müssen, dass nicht jeder gegebene Tod, nicht jeder Mord [meurtre], nicht jedes Verbrechen gegen Lebendes, nicht einmal jede Tötung eines Menschen [homicide] notwendig dem entspricht, was man im strikten Sinne eine „Todesstrafe“ nennt, dem Begriff, dem unterstellten juridischen Begriff der Todesstrafe, wenn man auch anschließend die juridische Reinheit, die Legitimität, ja die Legalität der Todesstrafe bestreiten kann. Der Begriff der Todesstrafe präsentiert sich jedenfalls als ein Begriff des Rechts, als der Begriff einer Sanktion, die von einem Recht in einem Rechtsstaat ausgeführt wird, wenn man auch anschließend die Wohlbegründetheit dieser Selbstpräsentation bestreiten kann.

In den vergangenen Jahren hatten wir weniger vom Tod der Angeklagten gesprochen und mehr vom Tod der Opfer, derer, denen die Gewalt bisweilen, als wären sie tot, auch das Recht auf das Wort verweigerte beziehungsweise auf die Möglichkeit, Zeugnis abzulegen und also einer eventuellen Bitte um Vergebung ausreichend gegenwärtig zu sein, (wie zum Beispiel im Falle jener südafrikanischen Frauen, denen sogar die Möglichkeit verweigert wurde, von den erlittenen Gewalttaten oder Vergewaltigungen Zeugnis abzulegen, denn das Zeugnis und das Vor-Augen-Führen der Verwundungen hätten eine weitere Gewalt dargestellt, eine Wiederholung des Schlimmsten: Das Zeugnis selbst sowie die Szene der Vergebung oder der Versöhnung selbst waren ihrerseits30 eine Gewalt, ein weiteres Trauma31). Wir hatten also von dem Tod, der Unschuldigen, mutmaßlich Unschuldigen auferlegt wird, als dem Nichtvergebbaren oder als dem Horizont des Nichtvergebbaren selbst gesprochen, aber wir haben nicht von jenem Tod gesprochen, der dem Schuldigen, dem Angeklagten oder dem mutmaßlich Schuldigen vom Gesetz auferlegt wird, wenn wir auch, als wir, ziemlich ausführlich, vom Gnadenrecht handelten, vor allem an das Recht des Souveräns dachten, einem zum Tode Verurteilten das Leben zu gewähren oder zu verweigern. Auf all dies werden wir natürlich noch ausführlich zurückkommen.

Warum und wie, mit welchem Recht würden wir also jetzt diese Frage der Todesstrafe unter dem Titel der Vergebung und des Eidbruchs einschreiben?

Die Frage des Titels ist im Grunde genommen immer auch eine juridische Frage, die Rechtsfrage [question de droit], und die Frage des Kapitalen, des Hauptsächlichen [chef], des Kapitels, dessen, was an der Kopfseite kommt. Ein Text oder ein Diskurs ohne Titel ist nicht nur ein Diskurs außerhalb des Gesetzes32, sondern auch ein Diskurs ohne Kopf, ohne Schwanz und ohne Kopf, ein enthaupteter [décapité] Diskurs. Und es ist keine Spielerei mit Worten, wenn ich daran erinnere, dass die Todesstrafe, die sich durch ihren direkten Bezug auf das Recht, durch ihre behauptete Legalität, durch ihr staatlich-juridisches Wesen von allem Mord, allem Verbrechen und aller natürlichen Rache prinzipiell unterscheidet und danach strebt, sich begrifflich, de jure davon zu unterscheiden, dass also die Todesstrafe [peine de mort] hier oder da mit dem Übernamen „Kapitalstrafe [peine capitale]“ benannt wird. Im Englischen, capital punishment. Im Deutschen spricht man nicht von Kapitalstrafe (eher von Todesstrafe*), wenn es auch den Ausdruck „Kapitalverbrechen“33 gibt, der häufig dazu dient, das mit der Kapitalbeziehungsweise Todesstrafe sanktionierte oder zu bestrafende Verbrechen zu bezeichnen.

Die Todesstrafe wird also hier oder da mit dem Übernamen „Kapitalstrafe“ benannt. Hier oder da, das will sagen, dass das nicht überall der Fall ist, je nach der Geschichte und der Geographie der Kulturen und der Rechte. Da, wo man „Die Kapitalstrafe“ für die Todesstrafe sagt, ist die Kapitalexekution das, was den Verurteilten den Kopf kostet, im buchstäblichen oder im bildlichen Sinne. Und wenn ich „im buchstäblichen oder im bildlichen Sinne“ sage, schreibe ich erneut die Frage der Todesstrafe unverzüglich in eine Geschichte ein, in die Geschichte des Rechts und der Techniken der legalen Tötung, die wir so eingehend wie möglich untersuchen werden. Man hat im Verfahren der legalen Exekution nicht immer dadurch getötet, dass man den Kopf attackierte, indem man enthauptete, indem man das Köpfen praktizierte34, oder das Hängen oder die Strangulierung des Verurteilten, oder indem man einen Verurteilten durch einen Schuss ins Gesicht füsilierte. In den Vereinigten Staaten (die ich unverzüglich zum Beispiel nehme, um anzukündigen, dass dieses Seminar massiv auf die Vereinigten Staaten des Jahres 2000 ausgerichtet sein wird, das heißt auf eines der sehr wenigen, ja das einzige und letzte große Land sogenannt europäischer+ Kultur und mit einer demokratisch genannten Verfassung, das – unter Bedingungen, die wir noch näher untersuchen werden, und gegen zahlreiche internationale Konventionen, die wir ebenfalls untersuchen werden – immer noch das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhält, sowie ihre massive, ja zunehmende Anwendung, nach einer turbulenten Geschichte zu diesem Thema, von 1972, als die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärt wurde, bis 1976, als der Oberste Gerichtshof dieses Urteil aufhob und 38 Staaten die Todesstrafe wiedereinführten, und 28 wieder begannen, sie anzuwenden, usw.), nun, in den Vereinigten Staaten weist die Vollstreckung [exécution] der „Kapitalstrafe“ eine große Bandbreite auf, mit einem großen technologischen Raffinement hinsichtlich Grausamkeit oder Barbarei, nimmt sich jedoch nicht mehr direkt, nicht mehr immer und buchstäblich den Kopf vor, ob es sich nun um „Enthauptung“ oder um Hängen handelt (die als mehr oder weniger grausam bezeichnete Modalität der Anwendung der Todesstrafe ergibt in den USA heute stets eine spektakulärere, reichhaltigere Debatte als die Debatte zum Thema der Todesstrafe selbst, als ob das Wesentliche darin bestünde, eine menschliche „Ökologie“, eine gute und erträgliche Todesstrafe aufrechtzuerhalten oder nicht). Aber natürlich ist es, bildlich gesprochen – und die Trope zählt hier –, immer der Kopf, der zentrale Sitz der Gehirn- und Nervensysteme, der mutmaßliche Sitz des Bewusstseins und der Persönlichkeit, den die Exekution attackiert: Als Zeichen dafür möge die Tatsache dienen, dass man es sich überall verbietet, einen Verurteilten zu exekutieren, der im Kopf nicht ganz richtig ist35, wie man so sagt. Der Verurteilte muss „normal“, „verantwortlich“ sein und seine Strafe bei vollem Bewusstsein erleiden. Er muss wach sterben. In Frankreich war es, bevor die Todesstrafe im Jahre 1981 abgeschafft worden war, im Zuge einer bestimmten historischen Sequenz, die übrigens ebenso europäisch wie französisch war und auf die wir noch zurückkommen werden, < in Frankreich also > war es vorgekommen, dass man einen solchen zum Tode Verurteilten aufweckte und seinem im Gange befindlichen Suizid entriss, damit er seine Kapitalstrafe bei voller Klarsicht und, wenn ich so sagen kann, im Kopf ganz richtig, erleide. Im Sinne all dieser historischen und rhetorischen Vorbehalte hinsichtlich des Ausdrucks „peine capitale [Kapitalstrafe]“, und bevor ich also auf meine Frage des Titels zurückkomme, nämlich nach dem, was zu Recht am Kopfende/an der Spitze [à la tête] kommt, an erster Stelle [au premier chef], an (der) Stelle der Kapitale gewissermaßen, sowie des Kapitals eines Diskurses, eines Kapitels oder eines Seminars, um seinen Status und seine Identität zu definieren, im Sinne all dieser historischen Vorbehalte möchte ich beginnen, indem ich einige Passagen und zunächst die ersten beiden Seiten aus Überwachen und Strafen von Michel Foucault (1975) lese. Ich habe sie aus mehrerlei Gründen ausgewählt, um sie gleichsam als Ouvertüre vorzulesen. Zunächst einmal deshalb, weil das ein reichhaltiges und wichtiges und für uns überaus wertvolles Buch ist, und ich empfehle Ihnen, es im Ganzen zu lesen oder noch einmal zu lesen. Obwohl Genet nicht genannt wird, ist sein letztes Kapitel, „Das Kerkersystem“, Mettray gewidmet, und Sie wissen, welch wichtigen Platz diese Strafkolonie im Leben und Werk Genets einnahm, diese Besserungsanstalt36, die „etwas ‚vom Kloster, vom Gefängnis, vom Kolleg, vom Regiment‘“37 an sich hat, wie Foucault in Erinnerung ruft. Zum anderen < wählte ich dieses Buch > deshalb, weil Foucault in seinem ersten Teil, der den Titel „Marter“ trägt, Tötungen und Ausführungen der Todesstrafe beschreibt, die von Martern begleitet werden, die zugleich auch spektakulär sind (und wir werden noch oft, tausend Mal, auf das Spektakel und die Geschichte der Szene oder Bühne, der Theatralität und der heute kinematographischen Theatralität der Exekution zurückkommen). Foucaults Buch ist kein Buch über die Todesstrafe, aber es ist ein Buch, das unter anderem von der historischen Transformation des Spektakels, der organisierten Grausamkeit der Strafe handelt, von dem, was ich, obwohl es nicht der Ausdruck Foucaults ist, das Strafen-Sehen [voir-punir] nennen werde, ein Strafen-Sehen, das der Bestrafung, dem Recht zu bestrafen als Recht-strafen-zu-sehen, ja als Pflicht-strafen-zu-sehen wesentlich innewohnt, wobei eine von Foucaults Historiker-Thesen lautet, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ich zitiere, „das große Schauspiel der peinlichen Strafe zu Ende [geht]; man schafft den gemarterten Leib beiseite; man verbannt die Inszenierung aus der Züchtigung. Man tritt in das Zeitalter der Strafnüchternheit ein.“38 Ich bin nicht so sicher, aber vielleicht gibt es da eine technische oder teletechnische, ja televisuelle Komplikation des Sehens [voir], ja sogar [voire] eine Virtualisierung der visuellen Wahrnehmung, auf die wir zurückkommen werden. Beccaria hat in seinem berühmten Buch Über Verbrechen und Strafen (1764), das (zu Recht oder zu Unrecht, darüber werden wir noch debattieren) als der erste große, von einem Juristen geschriebene Text zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe gilt, Beccaria, der Rousseau bewunderte, aber hinsichtlich der Frage der Todesstrafe den Gesellschaftsvertrag kritisierte, der soeben (zwei Jahre zuvor) erschienen war, Beccaria also schlug vor, die Todesstrafe (außer in zwei Ausnahmefällen, wir werden darauf zurückkommen) durch lebenslange Zwangsarbeit zu ersetzen (wir werden sehen, warum), und hatte bereits geschrieben: „Die Todesstrafe wird für die meisten zu einem bloßen Schaustück.“39 Foucault zufolge hatte die Guillotine bereits eine wichtige Skandierung markiert in dem, was er für einen Prozess des Erlöschens oder Verblassens40 hielt, ich würde sagen der Ent-Spektakularisierung, denn sie reduziert den Tod auf ein „sichtbares, aber augenblickliches Ereignis“, „beinahe ohne den Körper zu berühren.“41 Foucault zitiert jedoch die Verordnung von 1670, die „bis zur Revolution die allgemeinen Formen der Strafpraxis [bestimmte]“. (Surveiller et punir lesen, S. 41 [deutsch: a.a.O., S. 44])

Die Verordnung von 1670 bestimmte bis zur Revolution die allgemeinen Formen der Strafpraxis. Sie sah folgende Hierarchie der Züchtigungen vor: „Tod, Folter unter Vorbehalt der Beweise, Galeere auf Zeit, Peitsche, öffentliche Abbitte, Verbannung.“ Einen beträchtlichen Anteil nehmen also die physischen Strafen ein, und sie werden durch das Gewohnheitsrecht, die Art der Verbrechen und den Stand der Verurteilten noch vervielfältigt. „Die Todesstrafe umfaßt alle Arten des Todes: die einen werden zum Tod durch Erhängen verurteilt; anderen wird die Hand abgeschlagen oder die Zunge abgeschnitten oder durchbohrt und dann werden sie erhängt; für schwere Verbrechen werden andere bei lebendigem Leibe gerädert und ihnen dann die Glieder zerschlagen; wieder andere werden so lange gerädert, bis sie eines natürlichen Todes sterben; andere werden erdrosselt und anschließend gerädert; wieder andere werden bei lebendigem Leibe verbrannt oder zuerst erdrosselt und dann verbrannt; einigen wird die Zunge abgeschnitten oder durchbohrt und sie werden dann lebendig verbrannt; andere werden mit Pferden gevierteilt; wieder anderen wird der Kopf abgeschlagen oder zertrümmert“.42

Nun werde ich noch die ersten zwei Seiten des Buches vorlesen. Sie beschreiben eine Tötung unter dem Regime jener Verordnung, noch im Jahre 1757, am Vorabend der Revolution. Ich werde meine Lektüre beim Wort „pardon seigneur [Vergebung, Herr]“ unterbrechen, um den Übergang, in Bezug auf unser letztjähriges Seminar innerhalb desselben Seminars, deutlich zu markieren (Überwachen und Strafen lesen, S. 9-10 [deutsch: a.a.O., S. 9-10])

Am 2. März 1757 war Damiens dazu verurteilt worden, „vor dem Haupttor der Kirche von Paris öffentliche Abbitte zu tun“, wohin er „in einem Stürzkarren gefahren werden sollte, nackt bis auf ein Hemd und eine brennende zwei Pfund schwere Wachsfackel in der Hand; auf dem Grève-Platz sollte er dann im Stürzkarren auf einem dort errichteten Gerüst an den Brustwarzen, Armen, Oberschenkeln und Waden mit glühenden Zangen gezwickt werden; seine rechte Hand sollte das Messer halten, mit dem er den Vatermord begangen hatte, und mit Schwefelfeuer gebrannt werden, und auf die mit Zangen gezwickten Stellen sollte geschmolzenes Blei, siedendes Öl, brennendes Pechharz und mit Schwefel geschmolzenes Wachs gegossen werden; dann sollte sein Körper von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert werden, seine Glieder und sein Körper sollten vom Feuer verzehrt und zu Asche gemacht, und seine Asche in den Wind gestreut werden.“

„Schließlich vierteilte man ihn“, erzählt die Gazette d’Amsterdam. „Diese letzte Operation war sehr langwierig, weil die verwendeten Pferde ans Ziehen nicht gewöhnt waren, so daß man an Stelle von vier deren sechs einsetzen mußte; und als auch das noch nicht genug war, mußte man, um die Schenkel des Unglücklichen abzutrennen, ihm die Sehnen durchschneiden und die Gelenke zerhacken… Man versichert, daß ihm, obwohl er immer ein großes Lästermaul gewesen war, keine Blasphemie entkam; nur schreckliche Schreie ließen ihn die übermäßigen Schmerzen ausstoßen und oft wiederholte er: ‚Mein Gott, hab Erbarmen mit mir! Jesus hilf mir!‘ Alle Zuschauer waren erbaut von der Fürsorge des Pfarrers von Saint-Paul, der trotz seines hohen Alters keinen Augenblick versäumte, um den armen Sünder zu trösten.“

Und der Polizeioffizier Bouton: „Man zündete den Schwefel an, aber das Feuer war so schwach, daß die Haut der Hand davon kaum verletzt wurde. Dann nahm ein Scharfrichter, die Ärmel bis über die Ellenbogen hinaufgestreift, eine etwa anderthalb Fuß lange, zu diesem Zweck hergestellte Zange aus Stahl, zwickte ihn damit zuerst an der Wade des rechten Beines, dann am Oberschenkel, darauf am rechten Ober- und Unterarm und schließlich an den Brustwarzen. Obwohl dieser Scharfrichter kräftig und robust war, hatte er große Mühe, die Fleischstücke mit seiner Zange loszureißen; er mußte jeweils zwei- oder dreimal ansetzen und drehen und winden; die zugefügten Wunden waren so groß wie Laubtaler.

Bei diesem Zangenreißen schrie Damiens sehr laut, ohne freilich zu lästern; danach hob er das Haupt und besah sich. Derselbe Scharfrichter nahm nun mit einem Eisenlöffel aus einem Topf die siedende Flüssigkeit, die er auf jede Wunde goß. Darauf knüpfte man dünne Stricke an die Seile, die an die Pferde gespannt werden sollten, und band damit die Pferde an je ein Glied.

Der Herr Gerichtsschreiber Le Breton näherte sich mehrmals dem Verurteilten, um ihn zu fragen, ob er etwas zu sagen habe, was er verneinte. Bei jeder Peinigung schrie er so unbeschreiblich, wie man es von den Verdammten sagt: ‚Vergebung mein Gott! Vergebung, Herr!‘ Trotz all dieser Schmerzen hob er von Zeit zu Zeit das Haupt und besah sich unerschrocken. Die Seile, die von den Menschen so fest angebunden und gezogen wurden, bereiteten ihm unaussprechliche Schmerzen. Der Herr Le Breton trat noch einmal zu ihm und fragte ihn, ob er nicht etwas sagen wolle; er sagte nein. Die Beichtväter näherten sich ihm und sprachen lange zu ihm; er küßte gerne das Kruzifix, das sie ihm darboten; er schob die Lippen vor und sagte immer: ‚Vergebung, Herr!‘ […].“43

Eine Frage des kapitalen, des Haupt-Titels also. Warum ein Seminar über die Todesstrafe in oder unter dem Titel eines Seminars über die Vergebung und den Eidbruch einschreiben?

Aus einem allerersten Grund, der selbstverständlich zu sein scheint. Obwohl wir die letzten Jahre viel auf der Tatsache insistierten, dass die Vergebung, im Unterschied zum Eidbruch, dem juridischen Raum fremd, der Straflogik gegenüber heterogen ist (trotz einiger struktureller und wesentlicher Komplikationen, wie zum Beispiel dem Begnadigungsrecht, welches das Recht durch die souveräne Ausnahme, die es ihm einprägte [y marquait], begründete, ich werde nicht darauf zurückkommen), nun, trotz dieser radikalen Heterogenität der Semantik der Vergebung gegenüber der Semantik des Rechts und der Strafjustiz, kommt man nicht umhin, die Todesstrafe (als gesetzliche Einrichtung, als Strafsanktion, die vom Staat innerhalb der Ordnung eines Rechtsstaats administriert wird, wodurch die Todesstrafe behauptet, ich wiederhole es insistierend, behauptet, in ihrem Konzept, ihrer Zielrichtung, ihrer Vorgabe etwas ganz anderes zu sein als ein Mord [meurtre], als ein Verbrechen oder eine Tötung im Allgemeinen), nun, trotz all dem kommt man also nicht umhin zu denken, dass die Todesstrafe da, wo sie zusammen mit dem Leben des Beschuldigten jeglicher Perspektive von Revision, Loskauf, Erlösung, ja sogar Reue irreversibel ein Ende setzt, zumindest auf Erden und für einen Lebenden, dass die Todesstrafe also eben da bedeutet, dass das Verbrechen, das durch sie sanktioniert wird, auf der Erde der Menschen [terre des hommes] und in der Gesellschaft der Menschen auf immer nicht-vergebbar [im-pardonnable] bleibt. Ein Opfer kann, in seinem Herzen, einem zum Tode verurteilten und exekutierten Angeklagten vergeben, gewiss, die Gesellschaft aber – oder das juridische Dispositiv –, die oder das zum Tode verurteilt und zur Exekution schreitet, ja sogar das Staatsoberhaupt oder der Gouverneur, die über das Begnadigungsrecht oder das right of clemency verfügen und dieses dem Angeklagten verweigern, diese Gesellschaft, diese solcherart repräsentierte soziale Hierarchie vergibt nicht mehr. Alles geschieht so, als ob diese Mächte dekretierten, dass das angelastete Verbrechen auf immer nichtvergeben [impardonné] bleiben müsse: Die Todesstrafe bedeutet in dieser Hinsicht das Unsühnbare oder das Nichtvergebbare, das irreversibel Nichtvergebene. Die Vergebung, die Macht, zu vergeben, wird Gott überlassen. „Pardon, Seigneur [Vergebung, Herr].“44


+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Ich merke im Vorübergehen an, dass es sich hierbei um ein einzigartiges Beispiel handelt; dass, in Bezug auf das Berühren in den Evangelien, Jesus bald als ein berührender Jesus, ein berührender Messias dargestellt wird, das heißt als jemand, der heilt, indem er mit der Hand berührt (er heilt die Blinden, er heilt die Lahmen, indem er sie berührt), bald als jemand, der berührt wird, dessen Kleidung es zu berühren gilt. Er ist also berührend und berührt. Sie haben tausend Referenzstellen in den Evangelien, aber das einzige Vorkommen, wo gesagt wird ‚noli me tangere (rühre mich nicht an)‘, findet sich just nach der Szene, die wir hier untersuchen, das heißt in Joh 20,17.“

+Während der Sitzung präzisiert Jacques Derrida: „à dominance chrétienne [vorherrschend christlicher]“ (A.d.H.).

Die Todesstrafe I

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