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Zweite Sitzung 15. Dezember 1999

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Was ist eine Ausnahme [exception]?

Mehr als ein Mal haben wir letztes Jahr auf dem absoluten Ausnahme-Charakter insistiert, den die Vergebung behalten müsse, eine Vergebung, die dieses Namens würdig ist, eine Vergebung, die immer unvorhersehbar ist und weder auf die Feststellung [constat] noch auf den Vertrag [contrat], das Bestimmungsurteil oder das Gesetz reduziert werden kann, eine Vergebung also, die immer außerhalb des Gesetzes steht, immer heterogen ist gegenüber der Ordnung, der Norm; gegenüber der Regel oder dem Kalkül, der Regel des Kalküls, dem ökonomischen Kalkül ebenso wie dem juridischen Kalkül. Exzeptionell muss, exzeptionell sollte jede Vergebung sein, die dieses Namens würdig ist, wenn es denn je eine gibt, das ist im Grunde genommen das Gesetz der Vergebung: Sie ist es sich schuldig, ohne Gesetz und exzeptionell zu sein, über den Gesetzen oder außerhalb der Gesetze zu stehen.

Es bleibt jedoch die Frage: Was ist das, eine Ausnahme? Kann man diese Frage stellen? Gibt es ein Wesen der Ausnahme, einen adäquaten Begriff dieses unterstellten Wesens?

Man kann das bezweifeln, und dennoch gebrauchen wir dieses Wort ganz geläufig, so als ob es eine gesicherte semantische Einheit besäße. Wir tun regelmäßig so, als ob wir wüssten, was eine Ausnahme ist, oder, genauso gut, was keine Ausnahme ist, als ob wir über ein passendes Kriterium verfügten, um eine Ausnahme oder den Ausnahmecharakter einer Ausnahme, im Grunde genommen die Regel der Ausnahme zu identifizieren, die Regel, um zwischen dem Exzeptionellen < und > dem Nicht-Exzeptionellen zu unterscheiden – was terminologisch jedoch absurd oder widersprüchlich zu sein scheint. Gleichwohl spricht man üblicherweise von der Ausnahme, von der Ausnahme von der Regel, oder von der Ausnahme, die die Regel bestätigt; es gibt sogar ein Ausnahmegesetz, es gibt Ausnahmegesetze, Ausnahmetribunale usw.

Ich wette, dass diese Problematik der Ausnahme uns nicht mehr loslassen wird und dass sie zweifellos die vertrauenswürdigste Verbindung zwischen der Frage der Vergebung, des Eidbruchs und der Todesstrafe sein wird. Das ist es zumindest, was ich heute oder morgen, beim nächsten Mal, im Jahre 2000, zu zeigen beginnen möchte, auf beziehungsweise nach einem gewissen Umweg.

Denn an diesem Punkt meiner Einführung angekommen, frage ich mich, welchen Leitfaden ich bevorzugen soll, um mich im Wald der Probleme und im riesigen und dichten Archiv der Todesstrafe zu orientieren. Schon allein die begriffliche Abgrenzung ist eine furchteinflößende Vorbedingung. Es ist einfach, vielleicht zu einfach – wenn man auch in der Tat damit beginnen muss –, daran zu erinnern, dass die Todesstrafe ein juristischer Begriff ist, der sich insofern, als er in den Bereich des Strafrechts, das heißt eines Ensembles von berechenbaren Regeln und Vorschriften fällt, vom singulären Mord [meurtre] und von der partikulären Rache unterscheidet und de jure, also im Prinzip, die Intervention eines Dritten impliziert, einer Schiedsinstanz, die den Parteien eines Streifalls gegenüber fremd oder ihnen übergeordnet ist, also par excellence oder zumindest virtuell die Instanz eines Staates, einer Institution juridisch-staatlichen, juridisch-politischen Typs, ja sogar einer Staatsräson, einer Rationalität, eines logos mit allgemeinem beziehungsweise universellem Anspruch, einer juridischen Vernunft [raison], die sich über die Parteien, über das Partikularinteresse und die Leidenschaft, das pathos, das Pathologische und den individuellen Affekt erhebt. Der Eindruck von Kälte, von eiskalter Empfindungslosigkeit, der uns angesichts des Diskurses, des Urteilsverfahrens oder des Vollstreckungsrituals der Todesstrafe häufig überkommt, dieser Eindruck von leichenhafter Kälte oder von Starrheit [rigueur] als rigor mortis, das ist auch oder zunächst Ausdruck dieser Macht oder dieses Machtstrebens der Vernunft; das ist die Behauptung einer unerschütterlichen Rationalität, die sich über das Herz, über die unmittelbare Leidenschaft [passion] und über die individuellen Beziehungen zwischen den Menschen aus Fleisch und Blut erhebt, das ist also jene Verbindung zwischen der Vernunft, der allgemeinen Rationalität und der Maschine, der Maschinenhaftigkeit ihres Wirkens. Sämtliche Diskurse, die die Todesstrafe legitimieren, sind zunächst Diskurse der staatlichen Rationalität mit universellem Anspruch und universeller Struktur, das sind Theoreme des Staatsrechts, der Staatsmaschine. Im so definierten oder behaupteten rationalistischen Raum erklärt man, dass der von den Gegnern der Todesstrafe vorgebrachte Einwand oft der Versuchung unterliege, der maschinenhaften, vermittelten, technologisierten, mechanisierten kalten Vernunft eher polizeilichen und männlichen Anscheins das unmittelbare Gefühl, das Herz, die Affektivität eher weiblichen Anscheins gegenüberzustellen, den Schrecken, den die Grausamkeit der Vollstreckung beziehungsweise Hinrichtung [exécution] auslöst.

Wir werden sehen, dass das Motiv der Grausamkeit in diesem Dispositiv von Argumenten zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe eine wichtige Rolle spielen wird, in seiner Logik und in seiner Rhetorik, insbesondere, und zwar auf durchaus komplexe Weise, in den Vereinigten Staaten, so als ob weniger das Prinzip der Todesstrafe in Frage stünde als vielmehr die Grausamkeit ihrer Anwendung, so sehr, dass, wenn man ein Mittel fände, die Grausamkeit abzumildern, ja gar zum Verschwinden zu bringen (im doppelten Sinne des Wortes „verschwinden“ [disparaître]: im Sinne von annullieren oder im Sinne von unsichtbar, nicht-wahrnehmbar, nicht-phänomenal, nicht-erscheinend [non apparaissant] machen, „verbergen“), dass also, wenn man die Grausamkeit der Szene zum Verschwinden bringen könnte, die Todesstrafe, das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhalten werden könnte: Man bräuchte nur dafür zu sorgen, dass die Todesstrafe nicht wahrnehmbar, dass sie anästhesiert wird, es würde genügen, sowohl den Verurteilten als auch die Akteure und die Zuschauer zu anästhesieren. Diese anästhetische, anaisthetische oder anästhesiale1 Logik, die also das allgemeine philosophische Problem der Beziehungen zwischen der Sinnlichkeit und der Vernunft, dem Herzen und der Vernunft aufwirft (in seiner absolut unbegrenzten Verästelung, bis hinein in die raffiniertesten Zonen der philosophischen Problematik Kants oder Husserls bezüglich einer transzendentalen Ästhetik, einer Theorie der reinen Sinnlichkeit), diese anästhesiale Logik bestimmter Diskurse zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe begibt sich in Wirklichkeit – und sei es, um sich ihr scheinbar zu widersetzen – in die Axiomatik des Rechts auf die Todesstrafe hinein, das die Rationalität der Todesstrafe setzt oder voraussetzt. Diese anästhesiale Logik der Bewegung für die Abschaffung der Todesstrafe kann oft jener Logik in die Hände spielen, die das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhält. Wir werden das noch verifizieren. Das anästhesiale Argument bestreitet diese Rationalität nicht, es plädiert nur für eine weniger grausame, weniger schmerzhafte Umsetzung besagter Rationalität. Wir werden gleich oder vielleicht auch etwas später sehen, wozu die Entfaltung dieser anästhesialen Logik im nationalen oder internationalen Recht unserer Moderne führt. Sie bewirkt zum Beispiel, dass man in den Vereinigten Staaten Anhänger der Todesstrafe unter der Bedingung sein kann, dass diese mittels einer tödlichen Injektion und nicht mittels Gaskammer, Hängen oder Erschießen oder mit Hilfe des Elektrischen Stuhls verabreicht [administrée] wird. Das ist auch der Grund für neuerliche spektakuläre Inszenierungen im Kino, woraus sich heute ein ganzes Genre entwickelt, wie zum Beispiel bei jenem Film, der, wenn ich mich recht entsinne, den typischen Titel True Crime2 trägt, in dem ein Journalist zu sehen ist, der den Verdacht eines Justizirrtums hegt, der zu einem Todesurteil geführt habe, und welcher deshalb, nicht aus Gerechtigkeitsliebe, sondern aufgrund seiner Leidenschaft als Nachrichtenjournalist, eine minutiöse Gegenermittlung führt – die die gesamte Dauer des Films einnimmt, die der Film ist – und schließlich die Unschuld des Angeklagten, also den Justizirrtum beweisen kann, wobei er den Beweis just in der Sekunde zu erbringen vermag, da die Exekution bereits im Gange ist und das tödliche Gift bereits begonnen hat, in die Adern des Verurteilten, man könnte fast sagen des Patienten, eines bereits anästhesierten Verurteilten zu fließen; der Telefonanruf des Gouverneurs, der vom Journalisten aus dem Schlaf gerissen worden war, unterbricht die im Gange befindliche Exekution und rettet den unschuldig Verurteilten (einen Weißen übrigens, während der wahre Schuldige wie durch Zufall ein Schwarzer ist3), mit all der Suspense, deren kinematographische Ausbeutung Sie sich vorstellen können, indem alle Vorgänge gezeigt werden, sämtliche Phasen des fortschreitenden Einfließens des Giftes, der Telefonanruf des Gouverneurs in der letzten Sekunde, denn es gibt heute immer ein Telefon, um, wie eine Nabelschnur des Lebens oder des Todes, den Ort der Exekution mit der Exekutivmacht des Souveräns zu verbinden, hier des Gouverneurs, der Gnade gewähren oder die Exekution im letzten Moment, bis zum Augenblick des Todes hin, unterbrechen kann. So dass in zahlreichen Filmen oder Büchern dieses Typs, die scheinbar von der gerechten Sache eines erschrockenen Widerstands gegen die Todesstrafe bewegt werden, das, was zur Schau gestellt wird, eben gerade das ist, was in den medikamentös raffiniertesten Tötungsverfahren an Grausamkeit bleibt, womit die ambivalente voyeuristische Lust des Zuschauers, des Kinobesuchers ausgebeutet wird, der bis zur letzten Sekunde zittert, wenn er dabei zusieht, wie die Flüssigkeit in die Adern des Verurteilten vordringt. Dieses Argument eher gegen die Grausamkeit als gegen das Prinzip der Todesstrafe, ist stark und schwach zugleich, stark, weil es emotional bewegt und also motiviert, eine gute psychologische Motivation zur Abschaffung der Todesstrafe abgibt; aber auch schwach, weil es nur die Modalität der Anwendung, und nicht das Prinzip der Todesstrafe betrifft, und weil es machtlos wird angesichts der angeblich fortschreitenden Abmilderung, einer tendenziell allgemeinen Anästhesie, ja einer Humanisierung der Todesstrafe, die die Grausamkeit sowohl dem Verurteilten als auch den Zeugen ersparen würde, während gleichzeitig das Prinzip der Todesstrafe aufrechterhalten wird.

Das ist der Grund für die unendlich ambivalente, bisweilen scheinheilige Rolle, die dieser Appell an das Gefühl angesichts der Grausamkeit spielt. Er spielt diese Rolle sowohl in der besten Rhetorik unzähliger Plädoyers gegen die Todesstrafe als auch – auf im Grunde entscheidendere, weil noch ambivalentere Weise – in Gesetzestexten+, die in der laufenden Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe eine wichtige Rolle gespielt haben werden. Für beide Gebrauchsweisen werde ich einige Beispiele anführen, auf teils begründete, teils willkürliche Weise, denn man könnte auch so viele andere nehmen.

Das erste Beispiel, das ich anführe, da wir uns nun einmal in Frankreich befinden, in einem Land, das die Todesstrafe vor weniger als zwanzig Jahren auf parlamentarischem Wege abgeschafft hat, während die öffentliche Meinung, in Umfragen befragt, in ihrer Mehrheit für die Todesstrafe war und vermutlich immer noch ist, für die sie stimmen würde, falls man ein Referendum organisieren würde oder falls die europäische Gesetzgebung dies erlauben würde, eine doppelte Möglichkeit, die fortan im Prinzip ausgeschlossen ist. Dieses erste Beispiel wähle ich also aus allergrößter Nähe, nämlich das des großen Rechtsanwalts und damaligen Justizministers, des vehementen und erfolgreichen Kämpfers für die Abschaffung der Todesstrafe: Robert Badinter. Robert Badinter hat nicht nur sämtliche Abgeordnete und ganz Frankreich mit seiner Beredsamkeit bewegt, als er bei der Präsentation des Gesetzesvorschlags zur Abschaffung der Todesstrafe im Parlament ihren Schrecken und ihre Grausamkeit konkret vor Augen führte. Er ist auch der Autor, unter anderem, eines Berichts mit dem Titel L’Exécution (1973).4 Ich betone das Datum, 1973, aus einem Grund, der gleich noch erhellt werden wird. In diesem Buch erzählt Badinter also von der Verurteilung zum Tode und von der Exekution zweier Verurteilter, Buffet, eines ehemaligen Fremdenlegionärs, und Bontems5, eines ehemaligen Fallschirmjägers, wobei Buffet von Thierry Lévy und Bontems von Badinter verteidigt worden war. Die beiden wurden damals die Mörder von Clairvaux genannt und beschuldigt, gemeinsam gehandelt zu haben. Ebendies war eine der problematischen Dimensionen der Anklage: Konnte man die beiden Anklagen und die beiden Angeklagten, die angeklagt waren, während eines Überfalls mit Geiselnahme einen Wärter und eine Krankenschwester, die als Geiseln genommen worden waren, ermordet zu haben, voneinander trennen oder nicht. Die Hoffnung und das Plädoyer von Badinter, der seinen Mandanten, Bontems, retten wollte, gründeten auf dieser möglichen Trennung der beiden Angeklagten, Buffet und Bontems. Badinter schreibt:

Wenn wir im Laufe der Verhandlung festhalten könnten, dass Bontems nicht mit dem Messer zugestochen hat, dann würde er nicht nur nicht mehr als ein Geiselmörder erscheinen, sondern seine Opposition zu Buffet würde ihn auch von diesem trennen. Von diesem Moment an wären alle Hoffnungen erlaubt. Selbst das Talionsgesetz käme dann nicht ins Spiel – wer nicht getötet hat, darf nicht getötet werden. Nun denn, voran, wir könnten Bontems Kopf retten.6

Den Kopf, weil es um die Guillotine geht. „Selbst das Talionsgesetz“, sagt Badinter, womit er untergründig zu verstehen gibt, dass er dieses Talionsgesetz nicht unterschreibt, sondern sich als Anwalt in die Situation versetzt, in der die herrschende Meinung, und zunächst die der aus einfachen Bürgern aus dem Volk bestehenden Geschworenenjury [jury populaire], daran glaubt und man ihr letztlich selbst die Chance nehmen müsse, diese schlechte Logik zu verwenden. Bevor ich zu den beiden Punkten komme, die ich in Bezug auf, sagen wir, das Argument oder die Logik der Grausamkeit hervorheben möchte, will ich Ihre Aufmerksamkeit in jenem Buch, das ich Sie zu lesen bitte, auf einige Züge lenken, in denen widerklingt oder die zusammenklingen mit dem, was ich letzte Woche vorgebracht hatte. Sie erinnern sich, dass ich bei der Lektüre einer bestimmten Passage aus dem Gesellschaftsvertrag, „Vom Recht über Leben und Tod“, meine Perplexität, in Wahrheit tiefgreifende Zweifel zum Ausdruck brachte hinsichtlich dessen, wovon Rousseau vorsichtig sagte, dass man es „anzunehmen“ beziehungsweise „nicht anzunehmen“ habe, nämlich dass, ich zitiere noch einmal, „es […] nicht anzunehmen [ist], daß dabei einer der Vertragschließenden die Absicht hat, sich hängen zu lassen.“7 Was, Rousseau zufolge, „nicht anzunehmen“ sei, besteht darin, dass ein Bürger, der diesem Gesellschaftsvertrag, im Grunde genommen diesem Versicherungsvertrag, dem, was die Sicherheit und das Leben gewährleistet, beitritt, nicht seinen eigenen Tod beabsichtigen könne; er kann nicht, wenn Sie das so übersetzen wollen, Selbstmörder oder einem Todestrieb, einem gegen ihn selbst gerichteten Todestrieb unterworfen sein. Nun besteht aber eines der Motive, die in Badinters Buch häufig wiederkehren, eben darin, dass einer der beiden Angeklagten, und zwar nicht der, den er verteidigt, Bontems, sondern der andere, Buffet, von ebendiesem selbstmörderischen Trieb angetrieben wurde, dass er mit dem Tod bestraft werden wollte und also riskierte, seinen Komplizen, der nicht mit eigener Hand getötet habe und nicht habe sterben wollen, mit in den Tod zu reißen. Ich werde eine Passage vorlesen, in der sich, wie Sie sehen werden, dieser Frage des Todestriebs eine Geschichte des Eides, und also des Nicht-Eidbruchs, der Loyalität gegenüber einem geschworenen Eid aufpfropft. (L’Exécution, S. 89-91 vorlesen)

Für Buffet war der Tod aktuell das sicherste Mittel, um dem Gefängnis zu entgehen, dieser Welt der Internierung, die er verachtete und hasste. Der Todestrieb hatte von Buffet Besitz ergriffen, er zog und drängte ihn zur Guillotine. Sie übte eine offensichtliche Faszination auf ihn aus. Buffet hatte seinen Opfern stets die Kehle durchgeschnitten. Das symbolische Bündnis von Messer und Tod war tief in ihm verankert. Jetzt war die riesige glitzernde Klinge der Guillotine da, ganz nah vor ihm aufgerichtet, als Abschluss seines Horizonts. Sie wartete scheinbar seit einer Ewigkeit, zumindest jener Ewigkeit, die das eigene Leben für jeden von uns darstellt. Nach dem Rasiermesser, dem Dolch, mit dem er getötet hatte, sollte das große Messer seinerseits mit einem scharfen Schnitt seine eigene Kehle durchschneiden. Das war die geheime und erwartete Apotheose.

Da war aber auch noch jener, den er seinen Kameraden nannte. Dieses Wort musste für den ehemaligen Fremdenlegionär seine ganze Bedeutung entfalten, die unauflösliche Verbindung von Männern zum Ausdruck bringen, die gemeinsam gekämpft hatten. Ein Kamerad verrät einen nicht. Ein Kamerad lässt einen nicht allein. Einsamkeit ist Verrat. Vor allem wenn man geschworen hat, gemeinsam zu siegen oder zu sterben. Es war also notwendig, ja zwingend, dass der Kamerad bis zum Letzten geht, wenn er der Kamerad von Claude Buffet war. Allein schon dieses Wort wirkte, häufig wiederholt, wie ein Peitschenknall in jenen seltenen Momenten, in denen Buffet sich von einer Art schrecklichem mörderischem Furor fortreißen ließ, der gegen Bontems gerichtet war.

Als ich die beiden ansah, dachte ich, dass sie sich wohl gegenseitig einen kindischen und tragischen Eid geleistet haben. Ich stellte mir den ehemaligen Fremdenlegionär Buffet und den ehemaligen Fallschirmjäger Bontems vor, wie sie flüsterten: „Scheitern oder Erfolg, gemeinsam, bis ans Ende. – Schwöre es. – Ich schwöre es.“ Für Buffet konnte eine solche Verpflichtung nur absoluten Wert besitzen. Es kam nicht darauf an, worin wirklich wessen Rolle bestand. Bontems musste das Wort, das er Buffet gegeben hatte, halten – auch dann, wenn er selbst nicht getötet hat, wenn er noch eine Chance hätte, seinen Kopf zu retten. Das ist es, was Buffet ausdrücken wollte, als er stehend mit metallischer Stimme ausrief: „Was ich nicht ertragen kann, ist, dass mein Kamerad nicht seine Verantwortung übernimmt.“ Seine Richter übersetzten „Verantwortung gegenüber der Justiz“ und sahen in Bontems – so stark war die Faszinationskraft Buffets – einen Schwächling, der sich davonstahl, und in Buffet einen Mann, der den Mut zu seinen Verbrechen besaß. Diese logische Interpretation wurde den Obsessionen und Wahnvorstellungen Buffets übergestülpt. Bontems sollte sehr wohl seine Verantwortung übernehmen, aber ihm, Buffet, gegenüber. Bontems sollte das feierliche Versprechen, das sie sich gegenseitig gegeben hatten und das sie in einem gemeinsamen Schicksal aneinander band, bis zuletzt halten. Für Buffet war der Gedanke, dass Bontems sich im letzten Moment entziehen und es nach dem Scheitern ihres tragischen Unternehmens vorziehen könnte, zu leben statt mit ihm zu sterben, zuweilen unerträglich. Dann wieder schien er völlig indifferent und gleichgültig zu sein. Er wurde wieder zum Fremden – zum Zuschauer.8

Der andere Zug, den ich hervorheben möchte, betrifft das Datum des Buches und des Prozesses, der Exekution. Es handelt sich um das Jahr 1972, ein historisches Datum von virtuell weltweiter Dimension, denn während des Prozesses, aber zu spät, nach Badinters Plädoyer, spricht sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten (am 29. Juni 1972) für die Abschaffung der Todesstrafe aus – oder fällt jedenfalls ein Urteil, das man, mit einigen Zweideutigkeiten, über die ich noch sprechen werde, in eine Abschaffung de facto, wenn nicht de jure, der Todesstrafe übersetzt. Eine Abschaffung, die nicht von Dauer sein wird, wir werden noch darauf zurückkommen, da die Todesstrafe 1977 praktisch wiedereingeführt werden wird. Der Abschaffung der Todesstrafe werden in den Vereinigten Staaten nur fünf Lebensjahre beschieden gewesen sein, wenn man so sagen kann. Es stimmt jedoch, dass am 29. Juni 1972, mit fünf zu vier Stimmen, mit der kleinstmöglichen Mehrheit, der Oberste Gerichtshof erklärt (und da haben wir nun das Argument, das ich mit dem Übernamen Argument der Grausamkeit versehe, in diesem Theater der Grausamkeit9, das die Geschichte der Todesstrafe, die Geschichte als Geschichte der Todesstrafe darstellt) [dass also der Oberste Gerichtshof erklärt], dass in den drei Einzelfällen, die ihm zur Prüfung vorgelegt wurden (Vergewaltigung in Texas, Vergewaltigung und Mord in Georgia), dass in diesen drei Fällen – der Gerichtshof äußert sich zu Einzelfällen, sein Urteil besitzt aber verallgemeinerbare Bedeutung für die Rechtsprechung –, der Gerichtshof die Todesstrafe nicht abschafft, sondern erklärt, dass in diesen drei typischen Fällen die Todesstrafe eine „grausame“ und unangemessene Bestrafung sei, die gegen den achten und den vierzehnten Zusatzartikel der Verfassung verstoßen würde. Mit anderen Worten: Der Gerichtshof äußert sich nicht zum Prinzip der Verurteilung zum Tode, sondern zur Grausamkeit ihrer Vollstreckung (das ist das berühmte Urteil Furman gegen Georgia, auf das wir noch zurückkommen werden). Die Ambivalenz dieser Entscheidung, die umso fragiler war, als sie mit einer Stimme Mehrheit erfolgte (fünf Richter gegen die vier von Nixon ernannten), diese Ambivalenz erklärt die Fragilität, die Prekarität und die geringe Dauerhaftigkeit dieser Rechtsprechung. In Anbetracht dessen, dass diese Entscheidung von 1972 fünf Jahre lang vorbereitet und erwartet worden war, so dass von 1967 bis 1972 alle Hinrichtungen in den Vereinigten Staaten ausgesetzt worden waren, ist die letzte, eben im Jahre 1967, die eines Mannes aus Colorado gewesen, der seine Frau und seine Kinder getötet hatte, und der in einer Gaskammer erstickt wurde; in Anbetracht auch der Tatsache, dass nach 1972 die Quasi-Abschaffung der Todesstrafe bis 1977 fortbestand, einem Datum, zu dem einige Bundesstaaten, die man bisweilen als „todbringende“10 bezeichnet, ihre Gesetze geändert haben, um die Todesstrafe und ihre Vollstreckung angeblich weniger „grausam“ und also mit dem achten und dem vierzehnten Verfassungszusatz kompatibel zu machen (weniger grausame, weniger willkürliche und weniger diskriminierende Gesetze); und nicht zuletzt in Anbetracht der Tatsache, dass derselbe Oberste Gerichtshof anschließend diese revidierten Gesetze 1976 für gültig befunden hat (Urteil Gregg gegen Georgia), nun, < in Anbetracht all dessen > wird die praktische Abschaffung der Todesstrafe, oder zumindest die allgemeine Aussetzung ihrer Anwendung, nur zehn Jahre gedauert haben (1967-1977), und weitere zehn Jahre später, 1987, hat der Oberste Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe erneut bestätigt, und zwar zu einem Zeitpunkt, da ein Schwarzer einen Polizisten getötet hatte. Die Dinge noch schlimmer machend, hat derselbe Oberste Gerichtshof, immer noch mit fünf zu vier Stimmen, 1989 entschieden, dass der Hinrichtung von zum Tode Verurteilten, die zwischen 16 und 18 Jahr alt sind (Minderjährigen zum Zeitpunkt des Verbrechens), oder die geistig behindert sind, von nun an nichts mehr im Wege stehe (was bis dahin ausgeschlossen war und all die Probleme aufwirft, auf die wir noch zurückkommen werden). Jean Imbert ruft, unter anderem, in Erinnerung (in La Peine de mort11), dass aufgrund dieses Gesetzes zum Beispiel rückwirkend gerechtfertigt wurde, dass in Virginia ein schwarzer Landarbeiter im Alter von 37 Jahren hingerichtet worden war (auf dem Elektrischen Stuhl), während psychiatrische Gutachter ihm den Geisteszustand eines Achtjährigen bescheinigt hatten. Gleichzeitig gilt es, da wir uns gerade mit diesem Kapitel der jüngsten Geschichte der USA beschäftigen, daran zu erinnern, dass derselbe Gerichtshof 1986 schwarzen Angeklagten erlaubt hat, gegen den Ausschluss von Schwarzen aus einer Geschworenenjury Einspruch zu erheben. Amnesty International, das die Vereinigten Staaten diesbezüglich unentwegt anprangert, spricht von einer „schrecklichen Lotterie“, da in Florida, Texas, Georgia oder Kalifornien die Wahrscheinlichkeit, für dasselbe Verbrechen die Todesstrafe zu erhalten, für einen Schwarzen zehn Mal größer ist als für eine weiße Frau. Dazu muss man wissen, dass in einer aktuellen Umfrage 79 % der Amerikaner die Todesstrafe befürworten. 1981 hatte ein Mitglied des Senats oder des Abgeordnetenhauses – ich weiß es nicht mehr genau – erklärt: „Unsere Funktion besteht darin, dem Willen der Wähler zu folgen“, und der Oberste Gerichtshof bezog sich im Jahre 1989 auf „das Fehlen eines nationalen Konsenses“, um sich zu weigern, geistig Behinderte von der Verhängung der Todesstrafe auszuschließen.12 Wenn man diese Situation mit der in Frankreich vergleicht, wo eine Mehrheit der Parlamentarier (einschließlich solcher von der Rechten, Jacques Chirac zum Beispiel) 1981 für eine Abschaffung < der Todesstrafe > gestimmt haben, von der sie wussten, dass sie zur Mehrheit einer öffentlichen Meinung im Gegensatz stünde, falls diese auf dem Wege einer Umfrage oder eines Referendums konsultiert werden würde, nun, so haben wir da zwei Konzepte oder zwei Umsetzungen der demokratischen Repräsentation. Soll ein Repräsentant den gegenwärtigen Stand der öffentlichen Meinung der Mandanten repräsentieren im Sinne von widerspiegeln [refléter] oder reproduzieren, oder trägt er eher Verantwortung dafür, einer noch formbaren und schlecht geformten oder schlecht informierten Meinung mittels Reflexion und Entscheidung Orientierung zu bieten? Und wenn dieses gewaltige Problem auch über das Gebiet des Strafrechts und der Todesstrafe hinausgeht, so ist es gleichwohl nicht unwichtig, dass diese Differenz gerade in Bezug auf die Todesstrafe derart klar und deutlich zutage tritt. Diese Frage der, sagen wir, parlamentarischen Demokratie (diese Frage des demos zwischen Demokratie und Demagogie) darf, vor allem in Bezug auf die Todesstrafe, nicht nur innerhalb der Grenzen des Nationalstaats betrachtet werden. Die nationalen Entscheidungen werden stets, wir werden es sehen, durch internationalen Druck universeller Art oder in Form der Universalität der Menschenrechte induziert, sei es direkt oder indirekt. Selbst in Frankreich wurde das Votum des Parlaments schon allein dadurch in eine bestimmte Richtung gelenkt, dass in der im Entstehen begriffenen Europäischen Union die Todesstrafe bereits abgeschafft oder auf dem Wege zu ihrer fortschreitenden und tendenziell unumkehrbaren Abschaffung war.

Bevor wir die USA verlassen, um einen bestimmten historischen Chiasmus zu datieren, nämlich, dass im Jahre 1972, als Badinter L’Exécution schrieb, die Todesstrafe in Frankreich noch in Kraft war und in den Vereinigten Staaten soeben abgeschafft wurde, während sie zehn Jahre später in Frankreich abgeschafft und in den USA wiedereingeführt worden sein wird, bevor wir also die USA verlassen, hier noch einige Präzisierungen hinsichtlich der Fakten: Aktuell halten 38 von 50 Bundesstaaten der Vereinigten Staaten an der Todesstrafe für Mord unter erschwerenden Umständen fest. Je nach Bundesstaat wird der Tod mittels Elektrischem Stuhl, Giftinjektion, Gaskammer, Hängen oder Erschießen verabreicht [administrée]. Von diesen 38 Bundesstaaten, die die Todesstrafe 1977 wiedereingeführt haben, wenden nicht alle sie an, nur 27, wenn man so sagen kann, tun dies, doch tendenziell nehmen die Hinrichtungen zu (1990 per Elektrischem Stuhl in Arkansas, jenem Staat, dessen merciless13 Gouverneur Bill Clinton war, der in dieser Sache überaus hart blieb; 1992 per Giftspritze in Wyoming, 1992 per Gaskammer in Arizona und Kalifornien)14. Innerhalb von 20 Jahren, zwischen 1977 und 1997, zählte man 385 Hinrichtungen (im Durchschnitt 20 pro Jahr, mehrheitlich von armen Schwarzen, dasselbe Verhältnis findet sich unter den circa 3000 zum Tode Verurteilten, die in den Death Rows, jenen Abteilungen des Todes oder Hochsicherheitstrakten warten. Eine annäherungsweise vergleichende Statistik würde uns das entsprechende Bild von 5 Hinrichtungen pro Jahr in Frankreich liefern).

Ich kehre nun zu L’Exécution zurück, und zum historischen Chiasmus, der Unzeit15 des „zu früh“ oder „zu spät“: der wesentlichen Anachronie der Todesstrafe. 1972 hatte Badinter eine Stunde, nachdem er sein Plädoyer beendet hatte, erfahren, dass in den USA soeben die Todesstrafe abgeschafft worden war und dass, ein Mal mehr, das Geschehen in den USA besondere Auswirkungen auf die ganze Welt haben würde, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. In den Zeilen, die ich gleich vorlesen werde, werden Sie sehen, welche Bedeutung dabei dem öffentlichen Raum, dem neuen öffentlichen Raum zukam, der vom Radio und den – mächtigen und machtlosen – internationalen Medien der bereits im Gange befindlichen Globalisierung geprägt war, einer Globalisierung, die in dieser Debatte so ungleichförmig und heterogen war. Das ist der Grund, weshalb ich hier darauf insistiere. (L’Exécution, S. 158-160, lesen)

Als ich den Schwurgerichtssaal betrat, schwirrten zwei Journalisten aufgeregt um mich herum. „Wissen Sie schon das Neueste?“ Ich starrte sie verständnislos an. „Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat gerade die Todesstrafe abgeschafft. Es ist soeben im Radio gekommen.“ Ich blickte auf die große Wanduhr. Weniger als eine Stunde war vergangen, seit die Verhandlung beendet war. Hätte ich die Nachricht eine Stunde früher erfahren, welch ein letztes Argument hätte die Verteidigung daraus machen können! Jetzt war es zu spät. Die Jury, die sich zu ihrer abschließenden Beratung zurückgezogen hatte, war gleichsam vor der Welt verschanzt. In meiner Erbitterung kam mir in den Sinn, ein Transistorradio zu nehmen und es vor dem geschlossenen Fenster jenes Saales abzustellen, in dem die Jury versammelt war, und es zur Nachrichtenzeit in voller Lautstärke aufzudrehen. Vielleicht würde diese Nachricht den Geschworenen, wenn sie ihnen zufällig und beinahe überfallsweise zu Ohren kam, wie ein Wink des Schicksals erscheinen, ein Hinweis darauf, dass die Todesstrafe nur das Nachleben einer Epoche war, die andernorts zu Ende ging und auch in Frankreich zu Ende gehen konnte. Ich ermaß aber rasch die Schwierigkeiten und die Gefahren einer solchen Unternehmung, die den Gerichtshof im Gegenteil auch verärgern könnte. Schließlich waren wir in Troyes und man urteilte über die Mörder von Clairvaux. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten war in diesem Augenblick weit weg. Ich ging zur Verteidigerbank zurück. Ich dachte an Bontems, an das, was er empfinden musste. Auch ich konnte nicht mehr tun als auf meinem Platz zu warten.

Es dauerte im Übrigen nicht allzu lange. Viel weniger lang als ich vermutet hatte. Die Glocke ertönte und bald darauf kehrte das Gericht in den Saal zurück. Jeder nahm seinen Platz wieder ein, in einem gewissen Durcheinander, das auch noch andauerte, als der Vorsitzende, sich uns zuwendend, anordnete, die Angeklagten hereinzubringen. Ich blickte jedem Einzelnen der Geschworenen in die Augen, mit all meiner Kraft, um einen Blick zu erhaschen, eine Kommunikation herzustellen, ein Zeichen. Ich stieß nur auf verschlossene Gesichter. Eine Art Leere breitete sich um uns herum aus, ich spürte sie in mir. Das Verlesen der Antworten auf die gestellten Fragen begann. Bei der vierten, für uns entscheidenden Frage, hielt der Vorsitzende inne: „Ist Bontems, unter denselben Umständen von Zeit und Ort, schuldig, Madame … getötet zu haben?“ Antwort: „NEIN, nach Mehrheit der Stimmen.“ Ein Seufzer der Erleichterung im Saal. Ein befreundeter Journalist lächelte mir zu. Bontems hatte seinen Kopf gerettet. Der Vorsitzende fuhr fort: „Hat Buffet Madame … getötet?“ Antwort: „JA.“ – „Ist Bontems der Komplize von Buffet?“ „JA.“ – „Gibt es mildernde Umstände für Buffet?“ „NEIN.“ Buffet wurde zum Tode verurteilt. „Gibt es mildernde Umstände für Bontems?“ Als Antwort kam: „NEIN, nach Mehrheit der Stimmen.“ Das hieß Todesstrafe. Der Vorsitzende verkündete sie bereits. Im Saal, um den Justizpalast herum, durch die geöffneten Fenster zu hören, ertönten Applaus und Bravorufe. Der Vorsitzende zeigte sich vergeblich indigniert. Die Menge schrie aus einer Mischung von Freude und Hass. Ich drehte mich zu Bontems um. Ich packte ihn am Arm und sagte mit fester Stimme, mit aller Kraft, die ich aufzubringen vermochte: „Bontems, Sie werden begnadigt werden. Man hat anerkannt, dass Sie nicht getötet haben. Sie werden begnadigt werden. Das ist gewiss. Der Präsident der Republik wird Sie begnadigen, das ist gewiss.“ Philipp Lemaire gab ihm bereits Anweisungen, um seinen Revisionsantrag zu stellen. Er lächelte uns noch zu, auf andere Art. Und er sagte: „Da Sie es mir sagen, habe ich Vertrauen…“ Ich schüttelte ihm noch die Hand. Die Gendarmen zogen ihn bereits fort. Philippe ging ebenfalls, um noch ein wenig mit ihm zu sprechen. Ich hingegen blieb mitten im Tumult sitzen. Man hat uns Recht gegeben, man hat zugegeben, dass er nicht getötet hatte. Gleichwohl hat man diesen Menschen zum Tode verurteilt, bezüglich dessen man zugab, dass er nicht getötet hatte. Ich hielt meine Augen starr auf meine Papiere gerichtet, Notizen, die nun nutzlos geworden waren wie ich selbst. Ich wollte diese Gesichter nicht sehen.16

Kehren wir nun zum Motiv der Grausamkeit zurück, das für uns sowohl aufgrund seiner Bedeutung wichtig ist als auch aufgrund seiner Zweideutigkeit, die es, wie wir unentwegt verifizieren werden, in die Geschichte des Rechts und in die Geschichte der Todesstrafe eingeführt hat (vor allem deshalb, weil es, wir werden noch darauf zurückkommen, eben gerade die Grausamkeit der Hinrichtung [exécution] ist, die angeprangert wird, und zwar sowohl in den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs als auch in den zahlreichen, überaus zweideutigen internationalen Erklärungen, die zwar zur Abschaffung der Todesstrafe ermuntern, aber ohne das Prinzip der Todesstrafe je zu benennen und zu verurteilen, wobei die Grausamkeit der Hinrichtung einfach zu einem Fall von „Folter“ wird. Man verurteilt also die Folter, nicht aber die Tötung)17. Wenn ich, immer noch in L’Exécution, wie auch später in Badinters Rede vor dem Parlament, diese Logik oder Rhetorik der Grausamkeit, des Theaters der Grausamkeit, hervorhebe, werde ich sie in bestimmten Passagen zum Vorschein bringen (unter so vielen anderen möglichen), in denen dieses Motiv der Grausamkeit sich mit anderen Motiven überschneidet, die wir bereits zu befragen, ja neu in Szene zu setzen begannen. Die Morgendämmerung, das Theater, sowie die Faszination und die Kälte der Maschine, sowie, um damit zu beginnen, das Paradox der Anästhesie.

Ich beginne mit Letzterem (mit dem Paradox der Anästhesie), und Sie werden sehen, wie es bereits von der Zeit zwischen Nacht und Morgendämmerung rhythmisiert wird. Hören Sie nun einen Abschnitt, in dem zum Ausdruck kommt, inwieweit es darum ging, den Verurteilten zu anästhesieren, ihn aber nur bis zu dem Punkt zu anästhesieren, einzuschläfern oder schlafen zu lassen, ja ihm beim Schlafen zu helfen, an dem er wach und wachsam bleiben musste, an dem er in dem Moment klar im Kopf sein musste, als er dabei war, ihn zu verlieren. (L’Exécution, S. 198, lesen)

In der Santé hat der Chefaufseher, der mich jeden Morgen mit einem rituellen „Gut geschlafen, Herr Anwalt?“ empfing, aus Sympathie oder Ironie, vielleicht sogar beidem, die Zeit als lang empfunden, und die Wärter mit ihm. Er hat es mir jeden Tag gesagt, wenn er mich den Flur entlang zurück begleitete. „Es ist hart für sie“. Buffet ging bis zur Morgendämmerung auf und ab. Dann schlief er vor Erschöpfung ein. Das Tier [animal] in ihm hatte noch nicht vor dem Tod resigniert, den er erwartete, den er verlangte. Bontems hingegen legte sich in der Abenddämmerung schlafen und holte dank der Schlafmittel, die ihm der Doktor erlaubte (in kleinen Dosen, um einen Selbstmordversuch zu verhindern), einige Stunden Schlaf heraus. Lange bevor der Morgen dämmerte, wachte er auf. Auf dem Bett ausgestreckt, rauchte er eine Zigarette nach der anderen. Schließlich wurde es Tag, bisweilen schlief er noch einmal ein.18

Dass dieses ganze Theater der Grausamkeit unter dem Zeichen der Faszination, der fascinatio, stand, das heißt dessen, was den Voyeurismus, den Schautrieb, das Theaterbegehren mit dem Zauber, der Verzauberung verbindet, was den Zuschauer ans Schauspiel kettet, ihn bindet (fascio bedeutet verbinden/bandagieren [bander]19, ver-/binden [lier], anbinden [attacher], und fasciola, das ist das Band, die Binde oder Bandage, um ein Bein zu umwickeln), was den voyeuristischen Zuschauer an das fascinum bindet, das sowohl den Zauber, die Verzauberung als auch das männliche Geschlechtsteil bezeichnet, dass dieses ganze Theater eine Erfahrung der Faszination ist, das wird in L’Exécution vielfach buchstäblich angezeigt. Sie erinnern sich, dass Badinter sagte, dass die Guillotine auf Buffet eine „offensichtliche Faszination“20 ausübte. Das sind Badinters Worte, um die Anziehungskraft zu beschreiben, die die Aussicht auf seine eigene Kastration-Enthauptung auf Buffets Sichtweise [vision] ausübte. Er ist fasziniert von dem, was ihm den Kopf abschneiden wird, was ihn von seinem Kopf abschneiden wird, von der Maschine, die ihn aufrichten [l’ériger] wird, indem sie ihn fallen lässt, und er begehrt diese Maschine, die Schneide der Guillotine, die im Grunde dasselbe ist wie sein Messer. (Es ist jedoch Bontems, der dem Generalstaatsanwalt zurufen wird: „Jetzt steht er dir aber [Alors, tu bandes]!“21 Man muss diese Logik der Erektion mit der Enthauptung verbinden, wie man sagt, dass sie bei Männern oft auf organische Weise mit der Erfahrung des Hängens verbunden ist). In der Passage, aus der ich vorhin vorgelesen habe, sprach Badinter vom „symbolischen Bündnis von Messer und Tod“ (dem seinen < i.e. Buffets > nicht weniger als dem seines Opfers: er ist sein eigenes Opfer), das „tief in ihm < Buffet > verankert“22 gewesen sei. Nun hat Badinter jedoch viele Seiten vorher seine eigene Faszination – es ist immer noch sein Wort – für das Theater der Justiz zugegeben; ich sage wohlweislich Faszination und ich sage wohlweislich Theater, mit all dem, was das Theater zugleich an Spektakel mit sich bringt, gewiss, aber auch an religiöser Sakralität; in dieser Hinsicht taucht das Beispiel der mittelalterlichen Mysterienspiele als gemeinschaftliche Erfahrung eines religiösen Theaters und der christlichen Passion oder Inkarnation keineswegs zufällig auf, Sie werden es hören. Man müsste jedes einzelne Wort dieser Seite von L’Exécution (S. 35) kommentieren, es möge hier aber genügen, jene Fäden miteinander zu verknüpfen, an denen ich bereits gezogen habe (Theater der Grausamkeit, Faszination, Spektakel, mittelalterliches christliches Mysterienspiel); eben davon ist in dieser Passage buchstäblich die Rede, während der darauffolgende Abschnitt, zu dem ich dann gleich kommen werde, den Blick auf die plötzliche Leere desselben Theaters freigibt. (L’Exécution, S. 35-36, lesen)

Seit zwanzig Jahren, seitdem ich Anwalt bin, üben die Orte, an denen Recht gesprochen wird, auf mich eine starke Faszination aus. So wie andere in der Provinz oder im Ausland die Museen, die Kathedrale oder Antiquitätenhändler besuchen, so versäume ich nie, mich zum Justizpalast zu begeben. Ich mische mich unter die Zuschauer hinten im Verhandlungssaal, wo über die banalsten Angelegenheiten, noch so kleine Delikte geurteilt wird. Ich höre zu, ich sauge alles in mich ein, ich versuche, die Bedeutung dieser speziellen Justiz zu erfassen. Die Justiz am Werk zu sehen ist für mich, wenn ich nicht als Akteur beteiligt bin, ein bevorzugtes Schauspiel. Wenn man die immer gleiche Tragikomödie der Justiz ablaufen sieht, lernt man mehr über ein Land, eine Kultur, über ihre Menschen als an jedem anderen Ort, und sei es an einem Markttag auf dem Hauptplatz. Ich sitze da, aufmerksam, gut unterhalten und von einer vagen Furcht ergriffen, vermutlich ein wenig einem mittelalterlichen Gaffer ähnelnd, der ein Mysterienspiel betrachtet. Ich spüre, dass sich da hinter dem Ritual, den Formen, den Reden der Protagonisten eine tiefer liegende Wirklichkeit abspielt, dass das, was für uns aufgeführt wird, eine Art missglückte, immer missglückte Verkörperung einer wesentlichen Forderung, einer unzerstörbaren Hoffnung darstellt: Gerechtigkeit. Selbst leere Gerichtssäle oder leere Zuschauerränge sind für mich wie aufgegebene Kirchen oder unbewohnte Schlösser, wo die eigenen Schritte widerhallen oder man instinktiv die Stimme senkt. Dort haben sich Dramen abgespielt, von denen die Geschichte keinerlei Spuren aufbewahrt hat, von denen aber, unsichtbar und drückend, noch etwas geblieben ist in diesen Mauern.

Als ich in Troyes den Justizpalast betrat, habe ich zu meiner Überraschung nichts dergleichen verspürt.23

Wir könnten in Badinters Argumentation noch eine andere Spur dieses Wortes und dieser Logik der Faszination verfolgen, lange vor, an die zehn Jahre vor seiner Rede vor der Nationalversammlung, denn was Badinter fürchtet, nachdem er die Faszination bemerkte, die die eigene Hinrichtung auf Buffet ausübte, oder zunächst auch seine eigene, Badinters Faszination für das religiöse Theater des Gerichtshofs, was er ebenfalls fürchtet, ist, dass die Hinrichtungen, weit davon entfernt, durch das Exempel, das sie statuieren, virtuelle Verbrecher zu entmutigen, auf perverse Weise (wobei man sich bei jeder Faszination im Grunde genommen virtuell in die Perversität, in die Perversion begibt) eine Faszination auf virtuelle Verbrecher, auf Geiselnehmer ausüben könnten, die im Grunde Buffet und Bontems nachahmen möchten. Die Logik der Faszination wäre im Grunde das beste Argument gegen den angeblichen exemplarischen Charakter der Strafe oder vielmehr das Gegenargument in Bezug auf die Perversion des behaupteten exemplarischen Charakters selbst: Das schlechte Beispiel läuft Gefahr, unter dem Effekt des Gesetzes der Faszination, zum guten Beispiel zu werden, zu dem Beispiel, dem zu folgen ist, das Verbrecher nachahmen werden wollen, um dem zum Tode Verurteilten ähnlich zu werden. Eine Art Perversion der imitatio Christi. Was auch Jean Genet sagte und zeigte, der aber eine andere Sorge im Kopf hatte. Der zum Tode Verurteilte wird auf diese Weise zu einem faszinierenden Heiligen, einem faszinierenden Helden, einem faszinierenden Märtyrer. Ich lese. (L’Exécution, S. 207-208, lesen)

Ich wusste, dass Bontems leben wollte. Jede seiner Äußerungen zeigte, dass er zu diesem Leben gehörte, dass er seiner nicht überdrüssig war, so elend es auch sein mochte, das war immer noch sein Leben, immer noch das Leben. Man machte sich daran, ein Lebewesen [un animal] zu töten, das leben wollte, leben konnte. Warum? Es gab keinen wirklichen Grund dafür. Die Geiseln waren tot, gewiss, nicht von seiner Hand, aber auch durch seine Schuld. Reichte das aus, um ihn seinerseits zu töten? Wären die Frau des Wärters und der Mann der Krankenschwester morgen weniger unglücklich, wenn Bontems tot, wenn er enthauptet wäre? War dies das Heilmittel, vorausgesetzt, dass es überhaupt eines gibt? Und würden all diejenigen, die in den Gefängnissen davon träumen, Geiseln zu nehmen, morgen ihr Vorhaben aufgeben, wenn sie die Nachricht von der Hinrichtung erhielten? Ach was. Buffets und Bontems’ Tod würde im Gegenteil eine geheime Faszination auf sie ausüben, die sie in ihren Vorhaben weiter vorantreiben wird. Nach dem Urteilsspruch von Troyes waren kaum ein paar Wochen vergangen, da hatte schon im Krankenhaus von Fresnes ein Gefangener eine Krankenschwester als Geisel genommen und mit dem Skalpell in der Hand gedroht, ihr die Kehle durchzuschneiden, wenn man ihm nicht sofort die Mittel zu seiner Freiheit verschaffe. Die Unglückliche hatte ihre Unversehrtheit nur dem Eingreifen eines weiteren Gefangenen zu verdanken, der den Durchgedrehten niederstreckte. Eine schöne Illustration für den exemplarischen Charakter der Strafe!24

Da wir aber vom Theater der Grausamkeit sprechen, und da wir vorhaben, so nah wie möglich bei diesen zwei Motiven zu bleiben, dem Theater und der Grausamkeit, und dem Theater der Grausamkeit in der Morgendämmerung/im < Département > Aube [à l’Aube]25, wollen wir sehen, wie sich diese unterschiedlichen thematischen Fäden (Notate und Konnotationen) in der Logik ineinander verschlingen, die auch eine Rhetorik eines Rechtsanwalts ist, der im Laufe eines einzelnen Prozesses bereits gegen die Todesstrafe im Allgemeinen plädiert, oder vielmehr für die Abschaffung der Todesstrafe, fast zehn Jahre bevor er es als Minister vor der Nationalversammlung tun wird26, wobei sich diese Fäden hier zu einem Film verknüpfen, zu einer narrativen Sequenz eines wohlüberlegten und vernünftig argumentierenden Berichts, dessen Status schwankt zwischen Tagebuch, Chronik oder autobiographischem Zeugnis einerseits, und einem literarischen Kunstwerk andererseits. Das war, natürlich auf ganz andere Weise, auch der Status jener zwei Bücher von Genet gewesen, über die wir gesprochen haben und in denen die Eigennamen realer, historischer Personen, die zum Tode verurteilt und tatsächlich hingerichtet worden waren, den fiktionalen und poetischen Lyrismus eines literarischen Werks weder zum Schweigen bringen noch neutralisieren. Nun, Badinter versteht es sehr gut, seinen ganzen Bericht mit einer Prise Grausamkeit zu versehen und die überall anzutreffende Grausamkeit, die er anprangert oder anklagt, durch geschickte rhetorische Effekte mit dem unerbittlichen, gnadenlosen Maschinismus einer kühlen, eiskalten, herzlosen Vernunft in Verbindung zu bringen. Hart und kalt wie eine Maschine, wie eine Guillotine, wie ein Instrument, das kein Werkzeug mehr ist (wie Messer oder Axt usw. es noch sein konnten), sondern eine Maschine: die Guillotine. Die Grausamkeit ist hart, weil sie kalt ist, weil sie herzlos ist. Diese Verbindung von Kälte und Grausamkeit schreibt Badinter sämtlichen Konnotationen des Buches ein (ich habe hier nicht die Zeit, es mit der Lupe unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen, aber Sie könnten dort zum Beispiel eine Meteorologie finden, die auf das Klima des Buches und auf die Landschaft der gerade statthabenden Erfahrung abgestimmt ist). So ist zum Beispiel der Regen kalt und grausam, und er macht die Straßen „feindselig“: (L’Exécution, S. 183-184 vorlesen)

Der Gladiator ist in den Sand der Arena gesunken. Er ist im bleigrauen Netz seines Kontrahenten gefangen. Die Menge auf den Rängen des Zirkus fordert schreiend seinen Tod. Alle Gesichter wenden sich Cäsar zu. Die mit schweren Ringen geschmückte Hand hebt sich. Alles schweigt. Wenn Cäsar beschließt, mit dem Daumen nach unten zu zeigen, wer wird dann letzten Endes den Gladiator getötet haben: Der Rohling, der sein Schwert bereits erhoben hat? Die Menge, die nach Blut lechzt? Oder Cäsar, ganz allein, vorne in seiner Loge?

Auch an diesem Morgen regnete es. Es war ein kalter, grausamer Regen, ein Pariser Herbstregen, der die Straßen feindselig macht. Die Leute eilen mit zwischen den Schultern eingezogenem Kopf dahin, als wären sie bereit, einen über den Haufen zu rennen, um schneller ihr schützendes Dach zu erreichen. Wir, Philippe und ich, gingen in den Faubourg Saint-Honoré zurück, wobei wir uns unter einem Regenschirm am Arm hielten. Als wir an einem Schaufenster vorbeikamen, sah ich darin unser Spiegelbild. In Haltung und Minenspiel sahen wir aus wie auf dem Weg zu einem Begräbnis, ganz in Marineblau gekleidet, unter einem großen schwarzen Regenschirm. Ich beschleunigte den Schritt.27

Dieser eiskalte Regen wird bis zum Ende dieses Films fallen, bis in die letzten Zeilen des Buches hinein, nach der Hinrichtung. Der Wortschatz von Kälte und sogar Eis [glace]28 prägen die letzte Seite und die letzten Notizen des Buches. Der Anwalt verlässt die Szene der Guillotine, und das Buch, er schreibt:

Ich dachte, dass es sehr kalt war. […] Meine Frau fuhr langsam [alle die Gegenwart seiner Frau betreffenden Notizen in diesem Buch markieren den Kontrapunkt der Sanftheit [douceur] („meine Frau fuhr langsam [doucement]“29) und des Herzens, des Privat-Lebens (die Frau, die Familie) im Gegensatz zur kalten und männlichen Härte des Staatsbürgers, dieser Politik und dieser Öffentlichkeit ohne Herz – denn die Öffentlichkeit ist ebenfalls Angeklagter in diesem Plädoyer, ebenso wie der Präsident als Politiker. Es gäbe viel zu sagen zu diesem Geschlechtergegensatz in Bezug auf die Todesstrafe, zu sagen und zu komplizieren beziehungsweise zu überdeterminieren]. Meine Frau fuhr langsam. Die Straßen waren so leer wie ich selbst. Mit meinem Handschuh wischte ich die Scheibe [glace] ab. Es gab nichts mehr zu tun, zu sagen. Es war aus, das war alles, Ende der Affaire Bontems.30

Das ist das letzte Wort des Buches, ein Eigenname als Name einer „Affaire“. Bontems, letztes Wort, letzter Name dieses Opfers eines Mordes, letztes Wort des Buches, Bontems wird in diesen Zeiten schlechten Wetters [temps de mauvais temps] von der Maschine des Gesetzes ermordet [assassiné] worden sein. All dies lässt sich nicht in die Landschaft einer anderen Sprache übersetzen, nicht nur aufgrund des Eigennamens, Bontems, und der Homonymie zwischen temps [„Zeit“] und temps [„Wetter“] (time und weather, die Zeit, die die Geschichte bildet, und das Wetter, das in der Geschichte herrscht), sondern es ist unübersetzbar, weil die Guillotine französisch ist, wie die Französische Revolution und die Allgemeine Erklärung der Menschen- und der Bürgerrechte, und weil Frankreich die Todesstrafe im Jahre 1972 noch aufrechterhält, während man sie andernorts abschafft. Sogar in den Vereinigten Staaten. Das schlechte Wetter [mauvais tems31], das Bontems überlebt, die Kälte und der Regen, die grausame und herzlose Kälte des Himmels über dieser Stadtlandschaft, dieser Stadt, dieser Hauptstadt [capitale] der Todesstrafe [peine capitale], dieser Polis und dieser Polizei, dieser Politik (denn das kommt nach der Verweigerung der Begnadigung durch einen Präsidenten, der sich um seine Politik sorgte, wir werden noch darauf zurückkommen), diese eisige und unmenschliche Kälte der Techno-Politik wird auf theatralische Weise verkörpert, wenn ich so sagen kann, oder vielmehr ent-körpert durch jene Figur ohne Person32, die die Guillotine ist, das Spektakel der persona, das eine aufgerichtete Guillotine bietet, aufgerichtet auf der Bühne und im Hof. Badinter beschreibt ihre theatralische Erscheinung als die einer Theaterfigur [personnage], einer erschreckenden persona, als das grausame Trugbild von jemandem, der just niemand [personne] ist, der aber, niemandem ähnelnd, immer noch einer Person ähnelt. Die Guillotine, diese so französische Erfindung, die den Eigennamen ihres Erfinders, des Doktor Guillotin, in einen patentierten Gattungsbegriff, in den Akt eines unpersönlichen Verbs (guillotinieren) verwandelte, das die Lexik und die Syntax der französischen Sprache bereichert hat, die Guillotine, das ist niemand. Zugleich unmenschlich und übermenschlich, beinahe göttlich. Es gibt da so etwas wie eine Religiosität im Klima dieser Guillotine, die sich unter dem Himmel gen Himmel erhebt.+ Hören Sie: (L’Exécution, S. 212, vorlesen)

Ich betrat den Hof. Da war die Guillotine.

Ich war nicht darauf gefasst gewesen, sie sofort vor mir vorzufinden. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie irgendwo verborgen wäre, in einem Hinterhof. Doch sie war’s, so wie ich sie, wie jeder von uns sie auf so vielen alten Photographien und Drucken gesehen hatte. Ich war jedoch überrascht über die sehr hohen, sehr dünnen Pfosten, die sich von der Glasscheibe hinter ihr abhoben. Im Gegensatz dazu erschien mir der Körper der Maschine klein, wie eine ziemlich kurze Kiste. Aber so, wie sie mit ihren beiden großen mageren Armen dastand, brachte sie den Tod derart gut zum Ausdruck, dass sie der Tod selbst zu sein schien, der in diesem nackten Raum zu einem Ding geworden, materialisiert worden wäre. Der Eindruck wurde noch verstärkt durch den riesigen schwarzen Baldachin, der wie ein Sonnensegel oder eine Zirkuskuppel über den gesamten Hof gespannt war. Auf diese Weise verbarg er die Guillotine vor den Blicken, die man von oben her auf sie hätte werfen können. Dieser Baldachin, der den ganzen Himmel verdeckte, verwandelte den Hof in eine Art riesigen Saal, in dem sich allein die Guillotine wie ein Götzenbild oder ein Unheilaltar erhob. Um sie herum machten sich die Gehilfen zu schaffen. Das Symbol war auch Maschine. Dieser mechanische, nützliche Aspekt, vermischt mit dem Tod, den sie derart gut zum Ausdruck brachte, machte die Guillotine widerlich und erschreckend.

Ich ging an ihr vorbei, wobei ich mich weigerte, meinen Schritt zu verlangsamen oder zu beschleunigen, sie zu betrachten oder ihr auszuweichen.33

Sie haben die Arme der Guillotine bemerkt. Sie haben bemerkt, was in diesen Armen der Tod bedeutet („Aber so, wie sie mit ihren beiden großen mageren Armen dastand, brachte sie den Tod derart gut zum Ausdruck […]“). Ich frage mich nun, inwieweit Badinter diesen Effekt absichtlich kalkuliert hat, und wenn ja, welchen Sinn er ihm gegeben haben mag (aber im Grunde kommt es darauf gar nicht an), wenn er, fünf Seiten weiter, als er gewissermaßen den religiösen, christlichen, ja an Christus gemahnenden Apparat dieses Films beschreibt, auch die Arme Christi oder des Kreuzes nennt: Hören Sie: (L’Exécution, S. 217-218, vorlesen)

In einem Winkel des Hofs hatte der Anstaltsgeistliche den Altar aufgebaut. Christus streckte seine Arme nach den Gittern aus. Zwei Wärter haben jeweils seitlich neben dem mit einem Altartuch bedeckten Schreibtisch Aufstellung genommen, etwas zurückgezogen, eine merkwürdige Präsenz in diesem Augenblick. Der Anstaltsgeistliche erwartete Bontems. Er führte ihn hinter den Altar. Wir blieben stehen. Bontems stand ganz nahe beim Priester. Er beichtete vermutlich. Nun sprach der Priester zu ihm. Alles war still. Ich drehte mich um. Da waren Gefängniswärter, Polizisten, Gendarmen und der Henker, der seinen Hut auf dem Kopf behalten hatte. Und der Richter des Berufungsgerichts, dessen Lippen sich bewegten, er sprach vermutlich die Sterbegebete. Und dann noch weitere Leute. Ich schaute sie an. Alle, und ich selbst vermutlich ebenfalls, machten ein irgenwie verkniffenes Gesicht. Das elektrische Licht ließ ihre Gesichtszüge noch härter erscheinen. Sie alle hatten in diesem Augenblick Mördervisagen. Nur der Priester und Bontems, der die Absolution empfing, hatten noch menschliche Gesichter. Das Verbrechen hatte, physisch betrachtet, die Seite gewechselt.34

Diese große Frage des Theaters der Strafjustiz, und nicht nur des christlichen Theaters, als Frage der Souveränität, und zwar einer Souveränität, die bald die mutmaßliche Souveränität des Volkes [peuple], der aus einfachen Bürgern aus dem Volk bestehenden Geschworenenjury [jury populaire] ist, bald die des Souveräns als Staatsoberhaupt, das in letzter Instanz über das Begnadigungsrecht verfügt (wir haben hier also die ganze Geschichte der Souveränität als eine Geschichte, die genauso christlich ist wie die des Gnadenrechts [droit de grâce], da merci, mercy35, vorherrschend eine christliche Sache ist), ich wäre nun versucht, eine Dimension dieses Theaterraums in Badinters Buch als Raum der Souveränität aufscheinen zu lassen oder aufscheinen zu sehen, und zwar buchstäblich an mindestens zwei Stellen – die ich aus Gründen bevorzuge, die Sie im Vorüberzug sofort wiedererkennen werden.

1. Die erste Stelle, weil in ein und derselben Sequenz, in der von einer Anspielung auf Shakespeare zu einer Anspielung auf den Prozess des Sokrates übergegangen wird, die Aube/Morgendämmerung beim Namen genannt wird, l’Aube mit einem großen A, was mit dem zusammenklingt, was ich letzte Woche sagte, ohne zu wissen, dass ich in L’Exécution auf diese/s groß geschriebene Aube/Morgendämmerung stoßen würde.36 Was die Anspielung auf Shakespeare betrifft, so interessiert sie mich nicht nur aufgrund des Theaters, sondern auch aus einem zusätzlichen Grund, den ich gleich näher darlegen werde, nachdem ich diese Passage vorgelesen habe. Die Worte, die Sie hören werden, sind in erster Linie nicht nur die von Badinter selbst, sondern die seines Lehrmeisters, des großen Anwalts Henri Torrès, dem das Buch gewidmet ist und dessen Gestalt durch das ganze Buch geistert, als die des Meisters, der den jungen Robert Badinter ausgebildet und geformt hat, was bei Letzterem grenzenlose Bewunderung und Dankbarkeit hervorrief, die im Buch unablässig in Erinnerung gerufen werden. Laut jenen Worten, die Badinter berichtet oder rekonstruiert, hat der alte Lehrmeister eines Tages zu ihm gesagt, dass er die Demokratie im Justizwesen in Form der aus einfachen Bürgern aus dem Volk bestehenden Geschworenenjury liebe wie etwas von Shakespeare. Er habe den Eindruck, ein Stück von Shakespeare zu erleben, sagte er. Er nennt dann den King Lear, ich meinerseits denke aber an ein anderes Stück, zu dem ich gleich noch ein paar Worte sagen werde. (L’Exécution, S. 107-109 vorlesen)

Die Franzosen lieben die Beamten nicht und die Gendarmen selten. Genauso wenig lieben sie, in der Tat, die Anwälte. Sie sind Romanen, und keine Angelsachsen. Der Kult um das Gesetz und um alles, was mit ihm zusammenhängt, ist ihnen unbekannt. Die Franzosen lieben jedoch die Beredsamkeit. Dann hat der Anwalt vor den Geschworenen alle Chancen. Wehe aber, wenn er sie langweilt.

„Nur, an dem Tag, an dem Vichy beschloss, dass nun Schluss sei mit dieser lächerlichen Demokratie im Justizwesen, mit dieser durch die Geschworenen repräsentierten Allmacht des Volkes, dass man im Namen der Effizienz und der Autorität mit diesem Skandal aufräumen müsse, und dass von nun an die Richter gemeinsam mit den Geschworenen tagen und gemeinsam mit ihnen überlegen und abstimmen würden, an dem Tag hat sich alles geändert. Das große Zeitalter des Anwalts endete mit der Angst vor den Geschworenen. Jetzt ist neben ihnen überall der Großwesir anwesend, um ihnen den Weg zu weisen, auch um sie zur Vernunft zu bringen. Wie schön aber war jene Justiz, die akzeptierte, bisweilen unvernünftig zu sein, weil die Menschen es immer sind. Früher, mein Kleiner, hatte ich, wenn ich im Schwurgericht, allein vor den Geschworenen mir gegenüber, mein Plädoyer hielt, den Eindruck, ein Stück von Shakespeare zu erleben. Wenn ich sie jetzt anschaue, wie sie brav im Halbkreis um die Richter in roten und schwarzen Roben sitzen, wie gute Schüler um ihren Lehrer herum, dann glaube ich eine Rolle in einem Stück von Dumas dem Jüngeren zu spielen – in dem alles vernünftig ist, sogar die Leidenschaften, ja selbst die Huren. Manchmal schieße ich natürlich über das Ziel hinaus. Man hat nicht Jahre lang King Lear gespielt, um einfach Vater Duval zu werden…“ Mein Meister seufzte und schien melancholisch zu werden, bis ihn seine starke Natur, einem durstigen Trinker gleich, mit lauten Rufen Champagner bestellen ließ, um einen Toast auf die Jury auszubringen: „Auf all diejenigen, die in der Geschichte das doppelte Verdienst erworben haben, Sokrates zum Tode zu verurteilen und Madame Caillaux freizusprechen, womit sie im Abstand von zweitausend Jahren bewiesen haben, dass ein Philosoph in Freiheit für das Gemeinwesen gefährlicher ist als ein Luder im Gefängnis.“ Ich habe nie verstanden, warum mein Meister Madame Caillaux derart hasste, aber ich wusste um seine Leidenschaft für Sokrates, dessen Apologie er gern rezitierte, das schönste Plaidoyer, das je gehalten wurde.

Wir waren zu der Stunde weit entfernt von Sokrates, von der Apologie und von den Geschworenen Athens. Außer in einem wesentlichen Punkt. Auch diese Männer und diese Frauen, die Geschworenen aus dem < Département > Aube, auch sie genossen diese unerhörte Macht: Sie hatten über das Schicksal zweier Männer zu entscheiden.37

Denen, die dieses Seminar über die Vergebung seit drei Jahren38 verfolgen, mag diese Anspielung auf Shakespeare die lange Analyse in Erinnerung rufen, die wir dem Kaufmann von Venedig gewidmet hatten, insbesondere dem, was dort die Gnade [grâce] betrifft, „the quality of mercy“, in jener großen Rede Portias, die den Juden Shylock überzeugen will, die Schuld zu erlassen [faire grâce de la dette], woraufhin er vom überaus christlichen Dogen von Venedig begnadigt werden würde [sera gracié].39 In dieser außerordentlichen Tirade Portias, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, die jedoch mit den Worten „Mercy seasons justice“ endet, kam – und das wird der einzige Punkt sein, den ich hier in Erinnerung rufe – ebenfalls Regen vor, es fiel bereits Regen, ein anderer Regen, ein guter Regen dieses Mal, ein milder Regen (gentle rain), ein Regen, der nicht grausam ist, sondern vom Himmel fällt wie die göttliche Gnade und wie ein doppelter Segen, für den, der ihn empfängt, und für den, der ihn gibt:

La grâce ne se commande pas, dit-elle

Elle tombe comme la douce pluie du ciel

Sur ce bas monde: elle est double bénédiction;

Elle bénit qui la donne, et qui la reçoit.

The quality of mercy is not strain’d,

It dropeth as the gentle rain from heaven

Upon the place beneath: it is twice blessed

it blesseth him that gives and him that takes.40

Ihrm Wesen nach kennt Gnade keinen Zwang.

Sie träufelt wie ein Regen sanft vom Himmel

Zur Welt hernieder: zweifach gesegnet ist sie,

Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt.41

2. Zweite Stelle. Wir haben soeben wieder an die Frage der Gnade und also der Ausnahme angeknüpft, von der ich sagte, dass dies, in Verbindung mit dem Motiv der Grausamkeit, mein erster Leitfaden für diese erste Wegstrecke sein würde. Badinter (der sich seither oft bei einem anderen Problem, dem der Parität, als Anhänger einer bestimmten Logik der Souveränität gezeigt hat), Badinter scheint hier, in dieser Maschine der Todesstrafe, dem Rückgriff auf die Gnade zu misstrauen. Die Passage, die ich gleich vorlesen werde, kommt in dem Bericht genau vor jener Stelle, als die Anwälte der bereits zum Tode verurteilten Angeklagten vom damaligen Präsidenten der Republik, Pompidou, empfangen wurden, Pompidou (dessen Strategie von Badinter in diesem Buch oft schonungslos analysiert wird), von dem man noch nicht weiß, ob er die präsidentielle Gnade gewähren oder verweigern wird. Heute wissen wir, dass er sie Buffet und Bontems verweigerte, während er Touvier42 begnadigt hatte, im Namen dessen, was er selbst die „nationale Versöhnung“ nannte.

Hier nun diese Passage, vor dem Besuch im Élysée-Palast, bei dem die beiden Anwälte versuchen werden, den Souverän zu überzeugen beziehungsweise zu einer Meinungsänderung zu bewegen: (L’Exécution, S. 181-184 vorlesen)

Ich habe mir Fragen gestellt hinsichtlich des Begnadigungsrechts. Es schien mir eine heimtückische Ambivalenz in sich zu bergen, eine dieser versteinerten historischen Mystifizierungen von Vorurteilen, Archetypen, die unsere Empfindungsvermögen verfälschen. Das Begnadigungsrecht besteht ganz offensichtlich zum Vorteil des Verurteilten. Es gibt ihm eine Chance mehr gegen die Ungerechtigkeit oder die Strenge der Richter. Was aber impliziert dieses Recht über Leben und Tod des Anderen für den Souverän, der es ausübt?

Der Präsident begnadigt den Verurteilten; dieser, der Guillotine geweiht, entgeht ihr im letzten Augenblick. Spannung. Extreme Angst. Erleichterung. Bravo. Die Milde des Fürsten hat gewirkt. Er geht aus der Sache größer hervor, das ist sicher. Denn in vergangenen Zeiten findet sich kein Beispiel dafür, dass die Geschichte dem Fürsten seine Milde vorgeworfen hätte.

Oder aber der Fürst verweigert die Begnadigung. Die ausgesprochene Verurteilung wird vollstreckt. Der Fürst hat scheinbar nur der Gerechtigkeit oder der Justiz des Volkes freien Lauf gelassen. Es ist das Geschworenengericht, das ihn zum Tode verurteilt hat, nicht der Fürst. Indem er die Hinrichtung nicht untersagt, widerspricht er der getroffenen Entscheidung nicht. Im Gegenteil: Er tut dem von der Jury zum Ausdruck gebrachten Volksempfinden Genüge. Der Fürst kann sagen: „Ich habe das nicht gewollt. Sie waren es, die das so entschieden haben. Wenn sie nicht gewollt hätten, dass dieser Mensch stirbt, dann wäre es an ihnen gewesen, dies zu sagen. Nun sollen sie auch vor den Menschen für ihre Entscheidung Verantwortung tragen. Ich wasche diesbezüglich meine Hände in Unschuld.“ Auf diese Weise macht das Begnadigungsrecht denjenigen, der es ausübt, vor der Geschichte größer. Und oft macht es den, der es verweigert, populärer. Streng oder milde, der Fürst gewinnt auf jeden Fall.

Was impliziert das Begnadigungsrecht aber in Wirklichkeit? Richter und Geschworene verurteilen den Angeklagten nicht dazu, tatsächlich unter der Guillotine zu sterben. Sie bieten dem Fürsten schlicht die Möglichkeit dieser Hinrichtung an. Sie eröffnen dem Fürsten folgende Alternative: Leben lassen oder das Sterben veranlassen. Es ist an ihm, zu wählen. Noch genauer gesagt: Der Gerichtshof verurteilt nicht zum Tode. Er schlägt dem Fürsten vor, einen Verurteilten töten zu lassen. Letzten Endes entscheidet der Fürst allein. Daher ist er verantwortlich, und zwar vollkommen verantwortlich, da er alles kann, nach seinem Gutdünken, nach seinem Belieben, ohne irgendjemandem Rechenschaft zu geben, außer sich selbst. Denn er verfügt souverän, in absoluter Weise über das Leben dieses Menschen. Zweifellos würde er nicht darüber verfügen, wenn man es ihm nicht anbieten würde. Diesen Menschen, den man in Ketten, vom Volk und seinen Richtern bereits verworfen, dem Fürsten hinwirft, damit er mit ihm mache, was ihm beliebt, diese Realität, diese Verantwortung kann der Fürst nicht zurückweisen.

Er darf sich da nicht davonstehlen. Es gibt keine Verurteilung zum Tode in der Justiz. Nur einen Todeswunsch, der vom Schwurgerichtshof zum Fürsten aufsteigt. An ihm ist es, diesen zu hören oder zurückzuweisen. Er ist der Allmächtige.43

Nächstes Mal werden wir diese zwei ineinander verschlungenen Motive desselben Theaters der Grausamkeit und der Souveränität wiederaufgreifen, einerseits die Grausamkeit, die anästhesiert werden muss, eine Grausamkeit, auf die sich, in zweideutiger Weise, sämtliche internationalen Erklärungen berufen, die sich seit einigen Jahrzehnten der Todesstrafe zu widersetzen scheinen, ohne es zu tun, sowie andererseits die Logik der Ausnahme als Logik der Souveränität (so definiert Carl Schmitt, über den wir noch sprechen werden, die Souveränität des Souveräns: mittels der Entscheidung im beziehungsweise über den Ausnahmezustand), aber auch die Ausnahme als Rand- oder Außenbereich, auf den ebenfalls sowohl sämtliche Reden zugunsten als auch sämtliche Reden gegen die Todesstrafe Anspruch erheben. Die einen wie die anderen gleichermaßen. Selbst der große Beccaria, der erste große Denker des Rechts zur Abschaffung der Todesstrafe, war für die Abschaffung der Todesstrafe außer in Ausnahmefällen.

Auf diese Weise wird von neuem die große Frage des Staates aufgeworfen. Denn wenn die Todesstrafe sich vom Mord [meurtre], vom Verbrechen, von der vorsätzlichen und hinterhältigen Ermordung [assassinat]44 oder von der Rache unterscheidet, weil bei ihr die universelle Vernunft, der Dritte, die Anonymität oder die Neutralität des staatlichen Rechts dazwischengeschaltet sind, dann bleibt immer noch die Frage, zu wissen, wo der Staat beginnt. Vielleicht ist er, der Staat, als Behauptung des Rechts und der Gerechtigkeit, bereits im scheinbar wildesten und singulärsten, ja geheimsten Verbrechen präsent, wenn dieser Mord behauptet – und das behauptet er vielleicht immer –, sich Gerechtigkeit zu verschaffen+. Was sagt man, wenn man behauptet, sich Gerechtigkeit zu verschaffen? Und wo beginnt ein Mord?

Das sind die Fragen, die noch auf uns warten werden (bis zum 12. Januar des Jahres 2000).


+Während der Sitzung präzisiert Jacques Derrida: „weltweit[en] und international[en]“ (A.d.H.).

+Während der Sitzung verweist Jacques Derrida auf die Website (www.guillotine.net) einer Schwedin, Eija-Tiita Eklöf, im Internet eher bekannt unter dem Namen „Madame Guillotine“, die „Schöpferin einer gut dokumentierten und reich bebilderten monumentalen Website, die sich der Geschichte der Guillotine in allen Ländern, in denen sie verwendet wird, widmet“ (vgl. den Artikel „www.guillotine.net“, gezeichnet von Yves Eudes, in: Le Monde vom 14. Dezember 1999, S. 34). Diese Website existiert heute nicht mehr (A.d.H.).

+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Wenn ein singulärer Mord [meurtre] behauptet, sich Gerechtigkeit zu verschaffen, gibt es bereits den Dritten, den Zeugen, den Staat, der in der Kulisse aufgerufen wird: Der Staat ist vielleicht bereits da.“ (A.d.H.).

Die Todesstrafe I

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