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Die Luft im Bus war heiß und stickig. Als mein Vater mich in den gerade bei uns im Dorf haltenden Bus schob, sah ich zum ersten Mal ein solches Fahrzeug von innen. Ein solches Fahrzeug, heute weiß ich, dass man es Bus nennt, kam sonst höchstens einmal im Monat bei uns durch. Er hielt nicht immer. Nur wenn Leute ein- oder aussteigen wollten. Wir im Dorf kannten den „Bus“ nur als ein laut dröhnendes Fahrzeug, in dem, in so einem, mehrere Menschen transportiert werden konnten. Es gab in unserem Dorf kein einziges motorisiertes Fahrzeug. Selbst der Dorfälteste hatte kein motorisiertes Fahrzeug. Wir gingen zu Fuß oder fuhren mit einem Ochsenkarren, wenn man einen Ochsen hatte.

Jetzt auf einmal saß ich in so einem laut dröhnenden Fahrzeug. Nicht alleine sondern mit noch etlichen anderen Menschen, die fast alle erwachsene Männer und Frauen waren. Vorsichtig setzte ich mich hin. In dem Fahrzeug waren auf beiden Seiten, rechts und links an den Fenstern, hintereinander Bänke eingebaut, auf denen immer zwei Personen nebeneinander sitzen konnten. Ich setzte mich auf einen freien Platz auf einer dieser Bänke. Nachdem ich mich gesetzt hatte wagte ich es, mich ganz vorsichtig etwas umzuschauen. Neben mir saß ein etwas älterer Mann. Er döste vor sich hin. Wie alt er war konnte ich nur schätzen. Er erschien mir natürlich viel älter als er wohl in Wirklichkeit war, weil ich ja noch so jung war.

Der Geruch vom Schweiß der Mitfahrer war kaum zu ertragen. Etliche waren oft genauso viel oder wenig bekleidet wie ich. Einige hatten sich ganz besonders warm mit einem Mantel bekleidet. Es war eine bunt gemischte Menschenmenge in dem Bus. Die, die keinen Sitzplatz hatten oder sich ausstrecken wollten, machten es sich im Mittelgang bequem. Wohin der Bus fuhr und wo er mal halten würde, wusste niemand, außer wahrscheinlich dem Busfahrer. Er musste wohl laut gesagt haben, wohin er fahren wollte, sonst würden nicht so viele Menschen den Bus bevölkern.

Am späten Vormittag, es musste später Vormittag gewesen sein denn wir zuhause hatten schon lange gefrühstückt aber noch kein Mittagessen gehabt, kam der Bus durch unser Dorf. Vater hatte mich ohne zu fragen in den Bus gesetzt und nur leise zu mir gesagt: „ Sami, Du musst hier fort! Hier bist du nicht sicher! Am besten, du schaffst es bis Europa. Da bist du bestimmt sicher!“ Es war keine Zeit für längere Erklärungen. Zu dem Busfahrer flüsterte mein Vater noch leise, so dass ich es kaum hören konnte:“ Das ist Sami. Passen sie bitte ein wenig auf ihn auf. Er muss aus unserem Land hier, damit ihm nichts passiert. Danke!“ Mein Vater erklärte mir nicht, was Europa bedeutete. Was hatte ich denn bisher von der Welt gesehen? Ich kannte gerade mal unser Dorf, die kleine Ansammlung kärglicher Hütten. Ich kannte die Menschen, die hier „wohnten“, die Tiere, die im Dorf und um das Dorf herum lebten.

Da fielen mir die Schatten der Menschen ein, die in der letzten Nacht um unsere Behausung geschlichen waren. Es mussten Menschen, Männer, gewesen sein. Tierspuren hatte ich keine entdeckt. Mutter hatte mir ein wenig essbares in ein Tuch gewickelt und mir zugesteckt bevor Vater mich in den Bus schob.. In der Tasche meiner Hose fühlte ich die Blätter und die Aststücke des merkwürdigen Busches. Ich versuchte mich zu erinnern ob es schnell gegangen war mit meiner Größenveränderung oder ob es relativ lange gedauert hatte. Warum mich solche Gedanken beschäftigten konnte ich mir nicht erklären. Genau so wenig hatte ich eine Idee wozu eine solche Verkleinerung wohl gut sein könnte. Irgendwann würden der Zeitpunkt und der Ort kommen und dann konnte ich ausprobieren was man alles mit den Blättern und Ästen des merkwürdigen Busches tun konnte. Jetzt saß ich erst einmal in einem heißen, stickigen Bus, der irgendwohin fuhr, wohin, wusste ich nicht. Am Stand der Sonne konnte ich oft nur erkennen, dass wir nach Westen fuhren.

Nach Westen – nach Westen? Aber da ist doch Persien! Was soll ich denn in Persien? Die würden mich doch sofort zurückschicken, wenn sie mich erwischten und merkten, dass ich aus Afghanistan kam. Was hatte sich mein Vater denn da gedacht? Je länger wir nach Westen fuhren desto näher kamen wir der Grenze nach Persien. Was sollte ich nur machen? Mir fiel nichts Ordentliches ein, nichts was mich retten könnte. Halt! Meine rechte Hand umfasste in der Hosentasche ein Blatt. Sollte das die Lösung sein? Wenn ich jetzt ein Stück eines Blattes kauen würde, würde ich so klein wie ein Sandkorn werden und könnte mich problemlos im Bus verstecken. Das war eine gute Idee! Also biss ich ein kleines Stück ab, kaute es zu einem Brei, schluckte es runter und schon ging es los. Ich begann zu schrumpfen. Scheinbar wurde es von keinem der Mitreisenden bemerkt bis ich meinen Nachbarn plötzlich fragten hörte:“ Wo ist er hin? Ich hab ihn doch gar nicht weg gehen sehen.“ Da merkte ich, dass ich schon fast aus den Augen der anderen verschwunden war. Die Größe eines Sandkorns konnten sie kaum als einen winzigen Menschen erkennen. Das war meine Chance unbemerkt über die Grenze zu kommen. Es gelang. Keiner der Grenzbeamten merkte etwas. Die anderen Reisenden verhielten sich absolut still und ließen die Kontrollen kommentarlos über sich ergehen. Hinter der Grenze nahm ich ein Stück vom Ast aus meiner Hosentasche und zerkaute es. So bekam ich wieder meine ursprüngliche Größe. „ Wo kommst du denn her? Ich hab dein Kommen gar nicht bemerkt, “ flüsterte mir erstaunt mein Nachbar zu. „ Hattest wohl Angst vor dem Grenzübergang? Aber jetzt ist alles gut. Wir haben es überstanden.“ Ich konnte ihm nicht erzählen, dass ich alles mitbekommen hatte, denn ich war ja im Bus geblieben, eben nur winzig klein.

Der Bus fuhr immer weiter nach Westen. Die Reisenden sprachen so gut wie nicht miteinander. Jeder döste vor sich hin und hing seinen Gedanken nach. Mich bewegten immer wieder die Gedanken an die Teile des merkwürdigen Busches hinter unserer Hütte, die ich in meiner Hosentasche spürte und die eine solche Größenveränderung bei mir verursachten. - Immer wieder versuchte ich mir zu überlegen was man wohl mit solch einer Gabe alles machen könnte. -

Nach stundenlanger eintöniger Fahrt durch wüstenähnliche Gegenden kamen wir in einer kleinen Siedlung an. Der Bus hielt vor einem Haus mit Übernachtungsmöglichkeiten. Der Busfahrer trieb alle Fahrgäste aus dem Bus, damit er diesen für die Nacht abschließen konnte. Ich hatte kein Geld dabei. Wo sollte ich in dieser Nacht denn bleiben? In die Herberge konnte ich so nicht. Jede Übernachtung kostete Geld, das ich nicht hatte. Am Eingang kontrollierte ein schäbig gekleideter Mann jeden der möglichen Übernachtungsgäste. Er ließ sich das Geld zeigen bevor er jemanden in die Herberge ließ. Schließlich waren bis auf einige wenige alle Fahrgäste in der Herberge verschwunden. Ich blieb mit einigen anderen draußen und suchte mir einen Schlafplatz im Hinterhof. Hoffentlich würde ich nur früh genug wach, damit ich die Abfahrt des Busses nicht verpasste.

Am nächsten Morgen trieb der Fahrer zur Eile, sorgte dafür ,dass alle seine Fahrgäste, auch wir vom Hinterhof, wieder im Bus waren, setzte sich ans Steuer, gab Gas und ein vollbesetzter Bus verließ den Ort unserer Übernachtung. Nicht einmal Erinnerungen blieben zurück. Zu unwirklich war uns der Ort erschienen und alle Fahrgäste hatten Ziele im Westen. Die stundenlange eintönige Fahrt ließ eine ganze Reihe Reisender schon bald wieder in einen dösigen Schlaf fallen. Scheinbar hatte man sich nicht so richtig ausruhen können in der letzten Nacht. Zwischen wiederholtem Eindösen gab es für mich wache Momente, in denen ich immer wieder über Blätter und Äste nachdenken musste. Ich machte mir überhaupt keine Gedanken, wohin meine Reise wohl gehen würde. Mein Vater hatte mir kein Ziel genannt. Seine einzige Sorge war wohl nur mein Entkommen vor einem zu erwarteten Massaker.

Von Zeit zu Zeit schaute ich mich im Bus um, betrachtete die für mich so unterschiedlichen Fahrgäste und fragte mich, warum sie wohl in diesem Bus saßen. Woher sie wohl kamen? Viele hatten schon im Bus gesessen als ich in den Bus kam. Nur einige wenige waren noch dazugekommen. So oft hatte der Bus vor der Grenze auch nicht mehr gehalten. Da waren kaum alte oder ältere Menschen im Bus. Die meisten waren zwar älter als ich aber eben noch nicht alt. Schräg vor mir saß ein junges Paar mit zwei Kindern. Das eine Kind konnte schon laufen. Es lief im Gang hin und her. Das andere, es war noch ein Baby, lag nur im Arm der Mutter, döste vor sich hin und forderte von Zeit zu Zeit die Brust seiner Mutter, die es dann auch bekam. Es hatte wohl Hunger. Die Mutter kannte keine Scham, nahm ihre Brust aus ihrem Umhang und ließ das Kind trinken. Die anderen Menschen schienen sie nicht zu kümmern. Die kümmerte es auch nicht. Ab und zu flüsterte sie ihrem Mann etwas zu, worauf dieser kaum hörbar antwortete. Die beiden flüsterten so leise miteinander, dass ich beim besten Willen nicht verstehen konnte worüber die beiden sich unterhielten. Eigentlich konnte mir das auch egal sein. Es musste mich nicht kümmern. Der Bus hielt jetzt an einer einsamen Tankstelle, um aufzutanken. Die Reisenden hatten hier die Möglichkeit, sich zu entleeren. Einige suchten die Toilette, soweit man das so nennen konnte, im Gebäude auf, andere verschwanden einfach hinter dem Gebäude und kamen nach einiger Zeit wieder zurück, ihre Kleidung richtend. Der Halt dauerte nicht lange. Der Bus war schnell vollgetankt, schnell waren alle wieder auf ihren Plätzen und es ging weiter. Keiner der Reisenden ging ein Risiko ein, jeder war bereits ohne Aufforderung durch den Busfahrer wieder im Bus. Keiner wollte den Bus verpassen. Nur fragte ich mich:“ Wo wollen die wohl alle hin?“ Sie sahen eigentlich nicht so aus als wollten sie jemanden besuchen, Verwandte oder Freunde. Den Habseligkeiten in Taschen und Kartons nach, die ich so sehen konnte und die die Menschen mit sich führten, schienen die meisten nicht mehr in ihren Heimatort zurückkehren zu wollen oder zu können.

Es wurde mir mal wieder zu anstrengend zu beobachten und nachzudenken und ich döste lieber vor mich hin. Ob die Sachen in meiner Tasche wohl vermehrbar waren oder waren das wohl die einzigen, die ich nutzen konnte. Immer wieder kamen mir solche Gedanken in den Sinn. Wie sollte man solche Dinge wohl vermehren können? Und was konnte man wohl alles damit anfangen? So richtig ausgiebig ausprobieren konnte ich das Ganze ja noch nicht. Die unterschiedlichsten Situationen spielte ich in meinem Kopf durch. Eines passierte immer: ich gewann und kam davon.

Der Bus näherte sich jetzt einer größeren Stadt. Das Schild mit dem Namen der Stadt war nicht mehr zu lesen. Man konnte nur sehen, dass es ein Schild gibt. Immer mehr Menschen drängten sich auf der Straße und der Bus konnte nur langsam vorwärtskommen wenn er nicht einen Fußgänger oder spielende Kinder überfahren wollte. Es gab für uns keinen Grund hier irgendwo anzuhalten, kein reisender machte Anstalten oder ein Zeichen, dass er aussteigen wollte. Da plötzlich hielt der Bus. Männer in Uniform hatten ihn angehalten und bestiegen den Bus durch die Vordertür. Sie begannen die Papiere zu kontrollieren. Einige Reisende wollten den Bus durch die hintere Tür verlassen. Sie hatten wohl Angst aufzufallen. Ich hatte keine Papiere, also blieb mir nichts anderes übrig als wieder klein zu werden. Es gelang, die Uniformierten gingen an meinem scheinbar leeren Sitz vorbei und kontrollierten die Reisenden hinter mir. Schließlich verließen sie den Bus wieder nachdem sie einige Reisende daran gehindert hatten, den Bus wieder zu besteigen. Der Fahrer löste die Bremse, legte den ersten Gang ein und fuhr weiter. Die Zurückbleibenden interessierten ihn wohl nicht. Nur langsam kam der Bus in den Straßen der Stadt voran, doch dann erreichte er wieder die Ausfallstraße und der Busfahrer konnte wieder Gas geben und den Bus beschleunigen. Schnell ließen wir die Stadt hinter uns. Einige Plätze blieben jetzt leer. Die Reisenden mussten wohl in der Stadt zurückbleiben. Ihre Reise hatte ihr Ende gefunden.

Langsam brach die Nacht herein. Die Dämmerung hatte nicht lange gedauert. Im Bus gab es kein Licht. Es gab nichts zu sehen, weder im Bus noch draußen. Am besten, man versuchte ein wenig zu schlafen. Ich fiel in einen recht oberflächlichen Schlaf. Das war keine Erholung. Wofür sollte ich auch eine Erholung brauchen? Ich hatte doch den ganzen Tag nichts getan, außer Menschen zu beobachten, Kontrollen zu vermeiden und im Bus sitzen. Obwohl ich wenig getrunken hatte musste ich jetzt aber mal pinkeln. Leise schlich ich mich nach vorne zum Busfahrer und bat ihn zu halten, weil ich mal pinkeln müsste. Als er sah wie ich die Beine zusammenkniff erbarmte er sich und hielt. „Aber mach schnell! Hier kann ich nicht lange halten. Also raus und flott wieder rein!“ Ich war noch nicht wieder richtig im Bus als er schon wieder anfuhr. Diese Nacht fuhr der Bus durch. Wir hielten nirgendwo an. War ja auch nicht nötig, unsere Tanks waren voll. Es dauerte nicht lange und ich war eingeschlafen.

Es wurde bereits hell als ich langsam wach wurde. Wenn die Sonne immer noch im Osten aufging, dann fuhren wir immer noch nach Westen. Der Bus hielt in einer kleinen Ansammlung armseliger Hütten vor einer mit einem Schild, das auf Tee und etwas zu essen hinwies. Der Fahrer weckte die, die noch schliefen und rief zum Frühstück. Wer es sich leisten konnte verließ den Bus und frühstückte in der Hütte. Wir anderen begnügten uns mit dem essbaren, das wir noch dabeihatten. Zu trinken gab es Wasser aus einem vor der Hütte liegenden Brunnen. Mit einem zerbeulten Blecheimer konnte man sich genügend Wasser heraufholen. Die Rast dauerte nicht lange. Der Fahrer drängte zur Eile, sorgte dafür, dass alle wieder im Bus waren und fuhr los. Wieder ging die Fahrt den ganzen Tag nach Westen, unterbrochen nur durch kurze Halte um zu tanken oder ein persönliches Geschäft zu erledigen. Je länger wir fuhren desto mehr gelangte ich zu der Überzeugung, dass wir alle irgendwie auf der Flucht waren. Jedes Mal wenn uns uniformierte Iraner näher kamen wurden die Menschen im Bus, Männer, Frauen oder Kinder, unruhig und atmeten sichtlich auf wenn der Bus am Fahren blieb und nicht anhielt. Der nächste längere Halt war an der Grenze als wir den Iran wieder verlassen wollten. Auf der einen Seite gab es Probleme beim Verlassen des Landes. Auf der anderen Seite gab es Probleme bei der Einreise in das andere Land. Doch schließlich, nachdem etwas Bargeld dem richtigen Mann zugeschoben worden war, konnte der Bus einreisen und wir unkontrolliert mit ihm.

Nach Überquerung einer Hügelkette auf staubigen Straßen kamen wir in ein Tal, das uns grün entgegen schimmerte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Bei mir zuhause war rund um unsere Behausung, rund um die ganze Siedlung und rund um meine Schule nur Sand, in dem an wenigen Stellen einige Büsche wuchsen, eher braun denn grün. Ich konnte mich nicht sattsehen an der Fülle der Pflanzen, der Bäume, durch die auch schon mal ein kleiner Wasserlauf schimmerte. Dauernd hielt ich mein Gesicht mit plattgedrückter Nase an die Glasscheibe des Busses um ja nichts draußen zu versäumen. Nachdem es bereits einige Zeit hell war hielt der Bus endlich und wir durften aussteigen. Der Halt war dazu gedacht uns mit essbarem zu stärken doch ich lieg erst mal auf das grüne Gras zu, das neben der Fahrbahn wuchs. Ich konnte nicht anders, ich musste mich einfach mal reinlegen, daran riechen, ein Geruch, den ich bisher nicht gekannt hatte. Es war der Geruch von Leben. Man konnte das Wachsen, die Feuchtigkeit riechen. Am liebsten wäre ich hier im Gras inmitten blühender Pflanzen einfach liegengeblieben, den Rest meines Lebens einfach liegengeblieben.

Die Hupe des Busses ertönte. Ich wurde aus meinen Träumen in die Wirklichkeit zurückgeholt. Es ging weiter. Dieses Erlebnis unendlich scheinender Fülle hatte mich nahezu überwältigt und ich begann wieder vor mich hin zu dösen. Was sollte ich auch sonst in diesem Bus machen.

Gegen Abend hielt der Bus in einer kleinen Stadt vor einem Kaffeehaus, in dem man auch übernachten konnte. Der Busfahrer brauchte wohl mal eine ganze Nacht ruhigen Schlafes bevor wir weiterfuhren. Wir, die wir kein Geld hatten, um in der Herberge übernachten zu können, blieben draußen vor der Tür. Das war nicht so schlimm. Die Nacht war mild, das Gras war weich und roch ganz frisch. Ich streckte mich im Gras aus, versuchte mich so gut es ging ein wenig zuzudecken und war schnell eingeschlafen. In dieser Nacht träumte ich von den Dingen, die ich bis hierher so plötzlich und unvorbereitet erlebt hatte. Jetzt kamen auch wieder die Schatten in der Nähe meiner Behausung in meinem Traum vor. Was die wohl nur gewollt hatten? Im Traum sah ich den Busch, von dem ich Blatt und Ast gebrochen hatte, wieder in meiner Nähe. Meine Größenveränderungen kamen mir wieder in den Sinn. Ich hätte zu gern gewusst warum Vater mich so ohne große Erklärung in den Bus verfrachtet hatte. Vieles kam in meinen Träumen vor und es gab keine Erklärungen. Mit meinen Fragen blieb ich allein.

Die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages weckten mich. Noch schlaftrunken bewegte ich mich vorwärts. Das Wasser eines nahe gelegenen Brunnen diente zur Morgentoilette. Alle Mitfahrer mussten zurück in den Bus und weiter ging die Fahrt. Bald war die nächste Grenze erreicht und ohne größere Probleme überquert. An einem Schild am Straßenrand, dessen Schrift ich lesen konnte, erkannte ich, dass wir jetzt in der Türkei waren. Türkei? Aber was war denn das? Mein Vater hatte schon mal von einem Land dieses Namens, im fernen Westen gelegen, erzählt. Jetzt aber war ich hier in diesem fremden Land und wusste nicht was ich hier eigentlich sollte. Die Straße führte mitten durch die Berge. Auf beiden Seiten des Busses konnte man hohe Berge mit weißem Zeug oben auf den Spitzen drauf sehen. Die Straße war breit gebaut doch der Bus musste immer wieder langsam fahren weil die Straße an vielen Stellen bereits kaputt war. Sie hatte Löcher, die seit Jahren nicht ausgebessert worden waren. Meistens kamen uns große Lastwagen entgegen. Solche großen Krachmacher kannte ich von zuhause. Da hatten immer viele Männer in merkwürdiger Kleidung drauf- oder dringesessen, wenn sie durch unser Dorf fuhren.

Plötzlich gingen die Berge zu den Seiten weg. Wir kamen in ein breites Tal und mittendrin konnte man viel Wasser sehen. Stundenlang fuhr der Bus an diesem großen Wasser entlang, manchmal durch größere Ansiedlungen mit hohen Häusern und Menschen auf den Straßen. Doch nirgendwo hat der Bus angehalten. Ich hätte so gern mal meine Hände ins Wasser gehalten oder auch nur mal einen Schluck getrunken. Soviel Wasser an einem Fleck hatte ich noch nie gesehen. Vater hatte zuhause manchmal von einem großen See erzählt, an dem er mal gewesen war. Das war aber schon lange her gewesen. Der Bus fuhr vom Seeufer weg. Wieder kamen die Berge näher und das Tal wurde enger. Die Hänge hier waren nur spärlich bewachsen. Sie waren fast so kahl wie die Gegend um unser Dorf. Da, vor uns war rechts am Straßenrand ein Schild, auf dem ich ein komisches Wort „Diyarbakir“ lesen konnte, das ich nicht kannte. Woher auch? Später erfuhr ich, dass das ein Ortsschild war, damit man wusste in welchem Ort man angekommen war.

Samir

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