Читать книгу Samir - Jakob Arnold - Страница 6
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ОглавлениеIm Augenwinkel sah ich drei Männer in einer etwas abseits gelegenen Ecke miteinander tuscheln. Sie redeten scheinbar eindringlich miteinander, denn ich konnte ihre heftig sich bewegenden Arme sehen. Diese Bewegungen bemerkte ich im Augenwinkel und die hatten dazu geführt, dass ich überhaupt zu ihnen hinsah. Was die wohl zu bereden hatten? Ich hatte keine Ahnung, aber trotzdem hätte ich es zu gerne gewusst, über was die so intensiv und heftig gestikulierend zu reden hatten. Langsam und leise, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, bewegte ich mich in ihre Richtung. Bei meiner Annäherung hatte ich meine Hände in den Hosentaschen.
Plötzlich hatte ich die Blätter in der Hand. Was machten diese Blätter in meiner Hosentasche? Da fiel es mir wieder ein. Diese Blätter hatten ja eine magische Wirkung! Sie veränderten meine Größe!
Da ich mich anfangs nur im Bereich der Häuserschatten bewegte, konnten die Männer mich nicht sehen. Auch meine Bewegungen waren für sie nicht sichtbar. Aber um das Gesprochene verstehen zu können musste ich näher ran. Wenn ich ganz klein wäre würden sie mich wahrscheinlich nicht bemerken. Aber andererseits wenn ich zu klein würde könnten sie ganz leicht auf mich treten und mich zertreten. Dann wäre es aus mit mir und meine Flucht, es war ja wohl eine Flucht, hier zu Ende. Noch im Häuserschatten stehend steckte ich nur ein kleines Stück eines Blattes aus meiner Hosentasche in den Mund und begann zu kauen. Langsam veränderte sich meine Größe. Ich schrumpfte, wurde immer kleiner bis ich so klein war, dass man mich nur beim ganz genauen hinsehen bemerken würde, ich aber immer noch groß genug war um unter Umständen weglaufen zu können. Immer noch leise schlich ich mich näher und konnte schließlich genau hören was gesagt wurde.
„Die haben wir ganz schön abkassiert, was!“ hörte ich den einen sagen. „Ganz schön! Aber was bleibt bei uns? Wir müssen doch alles abgeben. Der kassiert ohne Risiko!“, meinte der andere. Der Dritte hörte scheinbar nur zu. „Wie wäre es wenn wir diesmal einfach alles für uns behalten und abhauen?“, meinte wieder der erste. „Geht nicht! Dreh dich mal langsam um und wen siehst du an der Ecke? Da stehen zwei von Alis Männern. Junge, wir werden doch ganz genau beobachtet. Was glaubst du denn wie weit wir kommen würden?“ Sie saßen in der Falle und wussten nicht, was sie machen sollten. „Dann nehmen wir uns wohl einfach was uns zusteht und gehen unseres Weges.“ „Ja, bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Kommt lasst uns das eingenommene Geld zusammenlegen. Wir nehmen uns unseren Anteil und geben den Rest gemeinsam ab.“ Langsam beförderten sie das Geld, Scheine und Münzen, aus ihren Taschen und legten es in der Mitte zusammen, auf einen Haufen die Scheine und auf einen anderen die Münzen. Ich war dicht dran und konnte das Geld ganz genau sehen.
Die Männer drehten sich nahezu gleichzeitig zu den zwei Beobachtern an der Ecke. Sie wollten ihnen damit wohl ein Zeichen geben, dass sie zur Übergabe bereit seien.
Das war meine Chance! Klein wie ich war, ging ich zu den beiden Geldhaufen und steckte alles ein! Ich beeilte mich so sehr, dass ich überhaupt keine Zeit hatte mir das Geld anzuschauen. Ich hätte nur lesen müssen was auf den Scheinen geschrieben stand.
Ich konnte ja lesen. Das hatte ich bei dem Lehrer unseres Dorfes gelernt.
Er hatte sich jeden Tag, außer am Sonntag, dem muslimischen Sonntag, mit uns Kindern unter einem großen Baum in der Mitte unseres Dorfes getroffen. Jeden Tag, nur wenn der Monsunregen es unmöglich machte, sich im Freien aufzuhalten fiel der Unterricht mal aus. Ein Schulgebäude gab es in unserem Dorf nicht. Dafür waren wir zu arm. Es blieb uns nur der Platz unter dem Baum. Hier konnte der Lehrer wenigstens einiges an den Baum hängen. So auch so etwas wie eine Tafel, mit deren Hilfe er uns das Lesen beigebracht hatte. Unser Lehrer war ein weiser Mann. Er brachte uns Lesen und Schreiben bei. Wenigstens das nötigste. Er erklärte uns, in welchem Land wir lebten, und zeigte uns an einer alten verschlissenen Karte, wo unser Land Afghanistan auf der Erde liegt. Auf der Karte war noch ein „Königreich Afghanistan“ eingetragen. Die Russen, das Militär oder die Taliban gab es auf „unserer“ Weltkarte noch nicht. Überhaupt haben wir alles was wir über Afghanistan und unser Dorf wussten nur aus den Erzählungen unseres Lehrers gelernt.
Danach hieß es für mich nur noch möglichst schnell verschwinden. Es klappte prima, die drei drehten sich um, starrten auf den Fleck, auf dem das Geld gelegen hatte. Doch es war weg und blieb weg, Sie hatten mich nicht gehört und nicht gesehen. Sie hörten und sahen mich auch jetzt nicht. „Scheiße, das Geld ist weg! Alles! Wer von Euch beiden hat es genommen?“ „Wir haben es doch alle drei aus den Augen gelassen, weil wir uns sicher gefühlt haben.“ „Was sollen wir jetzt machen? Mist! Da kommen schon die beiden von Ali. Was sagen wir denen? Die glauben uns ja doch nicht!“ Klein wie ich ja noch war versteckte ich mich in einer dunklen Ecke nicht weit von den Männern. Ich wollte doch zu gerne hören, was da jetzt zwischen den fünfen abging, nachdem das ganze Geld verschwunden war und zwar in meine Taschen. Ich konnte es gut fühlen.
„Okay, dann liefert jetzt mal ab!“ sagte der eine von Alis Leuten. „Wir haben überhaupt kein Geld für euch!“, antwortete einer der anderen drei, der wohl der Sprecher war. „Wie? Kein Geld für uns? Wir haben doch gesehen wie ihr das Geld in die Mitte gelegt habt!“ „Ja das ist richtig! Aber jetzt ist alles weg! Und wir wissen nicht wohin!“ „Ihr wollt uns wohl verarschen? Also her mit dem Geld!“ „Guck doch selber hin! Da in die Mitte hatten wir es hingelegt, und jetzt? Weg ist es, einfach weg!“, stammelte einer der drei. „Kommt verarschen können wir uns selber. Wer hat das Geld genommen? Raus jetzt mit der Sprache! Her mit dem Geld!“. Alis Männer wurden ungeduldig. „ Aber wir haben es doch selber nicht! Ihr könnt uns ja durchsuchen!“ Genau das taten die beiden Geldeintreiber jetzt auch. Jeder der drei wurde genauestens durchsucht, selbst unter ihrer Kleidung. „Verdammt! Die haben ja überhaupt nichts! Das wird uns Ali niemals glauben! Er wird behaupten, dass wir selber das Geld für uns genommen haben. Verdammter Mist! Was machen wir jetzt!“ Noch bevor die letzten Worte gesprochen waren hatten sich die dreisten drei bereits aus dem Staub gemacht. Sie hatten wohl keine Lust sich Alis Tiraden zuzumuten.
Ich stand verloren abseits, hatte das Geld und wusste nicht wie ich weiterkommen sollte. Die ältere Frau hatte auch nichts mehr. Ich hatte sie aus den Augen verloren als ich mich um die Männer kümmerte, um das Geld zurückzuholen. Eines wusste ich: Ich wollte auf keinen Fall zurück auch wenn mich manchmal ein Gefühl von Heimweh überkam. Damals war es mir nicht bewusst, dass es Heimweh war. Minuten, in denen ich mich verloren und alleine fühlte waren angefüllt mit Gedanken an zuhause, an meine Mutter, unsre warme wenn auch armselige Hütte, meine Geschwister, die ich so lieb hatte auch wenn ich mich mit ihnen oft stritt, unsere Tiere, die ich oft so ungern hütete. Vater war mir oft merkwürdig vorgekommen. Ich hatte keine Vorstellung, keine Ahnung, womit er sein Geld verdiente, das Geld, das für unser Überleben unverzichtbar war. Was hatte Vater wohl bewogen, mich einfach in den Bus zu setzen, der gerade vorbeikam? Wo sollte ich denn hinfahren? Was musste ich tun? Viele Fragen gingen mir durch den Kopf aber es gab keine Antworten.