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Der Untergang
ОглавлениеNach Beendigung des ausgiebigen Gastmahls fand Milon Gelegenheit, unter das Vordach des Hauses hinauszutreten und den drohenden Berg zu beobachten. Über den Gärten der Villa lag knöcheltief Asche. Es war sehr dunkel geworden, obwohl es erst Nachmittag war. Vom Vesuvius flammte es durch die Rauchnebel wie eine gewaltige Feuersbrunst. Nach dem Mahle traten auch Pomponianus, seine Angehörigen und der Befehlshaber Plinius unter das Vordach heraus. Ein Ausruf des Entsetzens wurde laut:
«Der ganze Berg brennt!»
Doch Plinius beruhigte:
«Das sind nur einige Bauernhäuser, die brennen, da sie nahe am Berge stehen. Lasst uns jetzt für eine Weile der Ruhe pflegen. Einmal wird der Berg ausgetobt haben. Der Zorn der Götter ist wie der Zorn der Menschen von kurzer Dauer.»
Also begaben sich die Herrschaften wieder ins Innere des Hauses. Plinius legte sich in eine Kammer, die vom Hof aus zu betreten war, um Mittagsschlaf zu halten. Der Regen von Asche und Steinchen ging unaufhörlich weiter.
Etwa nach einer Stunde begann ein so heftiges Beben der Erde, dass man glauben konnte, die Mauern der Gebäude rutschten auf dem Boden dahin. Dazu ertönte ein so entsetzliches Krachen, dass sich die ganze Bewohnerschaft, von Angst ergriffen, wieder unter dem Vordach einfand. Man ging Plinius wecken und musste schon Gewalt anwenden, um die Tür, die nach dem Hofe aufging, zu öffnen, da Asche und Steine bereits ein Hindernis bildeten. Als Plinius die Verschlimmerung der Lage nun auch gewahrte und vor allem die Gefahr, weiter im Hause zu verbleiben, das einstürzen konnte, erwog er mit Pomponianus ernsthaft, wohin man am besten fliehen könnte. Vom Sarnus her kam die Meldung, dass mit größeren Schiffen auf dem Fluss kein Durchkommen mehr sei, da die seichten Stellen bereits verstopft wären vom Schlamm der Asche und vom Steinregen. Es sei auch heftiger Gegenwind ausgebrochen, der eine Ausfahrt aufs Meer selbst für kleinere Boote verhindere.
Als plötzlich einige Balken und Ziegel des Daches herabstürzten, beschloss man nach aufgeregtem Hin und Her, in dem nur Plinius seine unerschütterliche Ruhe bewahrte, in die Felder südostwärts zu flüchten, möglichst weit weg von dem tobenden Berge.
«Stürzt das Haus ein, so sind wir lebendig begraben!», rief Pomponianus.
Nun banden sich die meisten ein Kissen auf den Kopf oder stülpten sich Körbe über, um vor dem Steinregen geschützt zu sein. Die Sklaven wurden angewiesen, Speise, Trank und Decken mitzunehmen. Es war dunkle Nacht geworden, als der geisterhafte Zug die Villa verließ, von schwankenden Windlichtern angeführt. Als er am Fischteich vorbeikam, leuchtete ein ferner Blitzstrahl auf. Milon gewahrte für einen Augenblick den in der Asche tanzenden Faun, immer noch Flöte spielend. Ihm schien, er grinse über die von Furcht ergriffenen, flüchtenden Menschen.
Das Vorwärtskommen über die zerbröckelnden, aschegetränkten Steinfelder war mühsam. Manch einer rutschte aus, stürzte und bedurfte der Hilfe, um sich wieder aufzurichten. Weinen und Jammern der Kinder, mitunter Schreie der Angst durchzitterten das unaufhörliche Prasseln der Schlackensteine. Alle hielten sich möglichst dicht hintereinander, da jeder fürchtete, den Anschluss zu verlieren und in die Irre zu gehen.
Fuscus führte, nach Anweisung des Plinius, den Zug etwas südlich auf die Küste zu, wo sich vielleicht die Gelegenheit einer Rettung aufs Wasser ergeben könnte. Es ging immer langsamer vorwärts, da zu allen Hindernissen die staubige Aschenluft das Atmen zu erschweren begann.
Plötzlich sank Plinius erschöpft zu Boden. Tyrios musste für ihn eine Decke ausbreiten. Er verlangte nach kaltem Wasser, das man ihm aus einem Krug reichte. Er trank zweimal. Bald aber trieb der heiße Wind einen stechenden Schwefelgeruch heran, der zu weiterer Flucht zwang. Auf Tyrios und Milon gestützt, richtete sich Plinius auf, brach aber im selben Augenblick tot zusammen.
Verwirrung und Entsetzen der Fliehenden waren nun vollkommen. Da es für sie jetzt nur ein Vorwärts gab, blieb der hohe Tote ohne Wächter in der Nähe des Meeresufers liegen, mit einer Decke zugedeckt. Durch die gewonnene Entfernung hatte der Steinregen nachgelassen; aber die Asche fiel wie Schnee im Winter. Neue Aufregung entstand, als die Frau des Pomponianus hinfiel, obgleich sie von ihrem Mann und einer Sklavin gestützt wurde. Sie verlor die Fassung und schrie auf:
«Es gibt keine Götter im Himmel! Die letzte Nacht ist angebrochen, die ewige Nacht, die unsere Erde verschlingt!»
Schließlich bettete man sie auf eine schwere Decke. Vier Sklaven hoben sie auf und trugen die Jammernde weiter. Pomponianus, mit seinen zwei Töchtern nebenhergehend, versuchte sie zu besänftigen, damit sie nicht ganz von Sinnen käme. Endlich lichteten sich langsam die dunklen Ballungen des Aschengewölks. Ein Schimmer von Tageslicht drang durch, und nach einer Weile leuchtete eine helle Stelle auf, wo die späte Nachmittagssonne am Himmel stand. Grau verstaubte Gestalten, wankten die Flüchtenden durch die weißlich tote Welt. Wohl lebte mit dem Hellerwerden ein Schimmer Hoffnung in den Geängstigten auf; aber das Beben der Erde setzte immer wieder von Zeit zu Zeit ein. Rückwärts, in Richtung Pompeji, war die ganze Gegend weiterhin in Finsternis gehüllt. Fernes Grollen ließ die Schrecken des Untergangs der blühenden Stadt ahnen.
Vor den Augen der Fliehenden erhob sich plötzlich in dunklen Umrissen gespenstisch ein Orangenbaum, aus dessen grauem Laubwerk goldgelbe Früchte wie aus einer unwirklichen Vergangenheit herunterleuchteten. Eine Scheune stand in der Nähe. Ihre festen Pfähle hatten dem Wanken der Erde widerstanden. Pomponianus ließ den Zug anhalten und gebot:
«Hier bleiben wir. Richtet drinnen ein Lager für die Herrschaft. Wir werden hier über Nacht bleiben. Vielleicht ist frühmorgens eine Rückkehr möglich.»
Um in die Hütte hineinzukommen, musste durch Asche und Steine der Zugang frei gemacht werden. Über dem Meer brach auf einmal die niedere Abendsonne unter der Wolkendecke durch und zauberte eine unwirklich rotglühende Landschaft aus Asche und Rauchschwaden hervor. Tyrios kletterte in den Orangenbaum, schüttelte das Geäst. Eine dicke Staubwolke fuhr daraus und eine Anzahl Früchte fielen nieder. Behände sammelte er sie in einen Korb, den er über sich getragen hatte, und rieb mit einem Tuch die Schalen sauber. Dann brachte er seine Gabe zu den Herrschaften, die dankbar danach griffen und die seltenen Früchte als unerwartetes Geschenk der zur Hölle gewordenen Erde verzehrten.
«Tyrios versteht es immer wieder, sich bei den Herrschaften angenehm zu machen», dachte Milon.
Er hatte inzwischen für das Gesinde ein Strohlager auf dem Aschenboden im Freien hergerichtet. Das Stroh hatte man in der Scheune vorgefunden. Plötzlich trat Fuscus zu ihm und sagte:
«Milon, du gehörst zu der Gruppe, die heute Abend mit mir zurück nach Stabiae muss. Pomponianus will das Schiff mit seinen Gütern nicht unbewacht lassen. Bereite dich zum Rückweg! In Kürze brechen wir auf.»
Wie gerne hätte sich Milon auf das eben bereitete Strohlager hingestreckt nach all den überstandenen Strapazen!
Eine Weile später wanderte Fuscus mit sechs jüngeren Sklaven in Richtung des Meeres, da man dem Ufer entlang den Weg in der Nacht besser zu finden hoffte. Die Sonne sank ins Wasser und erlosch. Fuscus trug die einzige brennende Ampel, deren gläserne Hülle das Ölflämmchen vor den Winden schützte. Am Meerufer lagen viele tote Fische, die von den Wellen über die vom Himmel gefallenen Schlackensteine aufs Trockene geworfen worden waren. Dieses Gestein hatte breite Streifen des Wassers zurückgedrängt und ausgefüllt. Tyrios war zur Bedienung der Herrschaft zurückbehalten worden, und so vermisste Milon seinen Kameraden, mit dem er bis jetzt Freud und Leid geteilt hatte. Wortlos schritten die Sklaven der Ampel nach. Der Stein und Aschenregen hatte ganz aufgehört, nur hin und wieder wirbelte der Wind vom Lande hertreibend Staubwolken auf, die zeitweise das Atmen behinderten. Die Müdigkeit hatte Milon dermaßen überwältigt, dass er oft glaubte, im Gehen einzuschlafen und umzusinken, und doch ging’s unaufhörlich weiter. Einmal wurden sie durch Menschen aufgeschreckt, die das Meerufer als Fluchtweg benutzten. Fuscus hielt die Gruppe an. Was sie erzählten, war entsetzlich.
«Pompeji ist über und über verschüttet! Die Stadt mit einem Leichentuch von Asche bedeckt. Keine lebende Seele ist dort mehr anzutreffen. Tausende sind unter den Trümmern der Häuser begraben. Flüssiges Feuer floss in breiten Strömen vom Vesuvius bis in die Stadt.»
Kein Wunder, dass die Flüchtenden Fuscus abrieten weiterzugehen: «Zurück! Da hinten ist nur Tod und Verderben!»
Fuscus erkundigte sich nach dem Flusse Sarnus. Ein Flüchtling erklärte:
«Über den Sarnus konnten wir uns zu Fuß aus der Stadt retten. Das Flussbett ist vom Steinregen ausgefüllt worden. Das war unsere Rettung. Wir blieben zu lange im Hause, das in der Nähe des Flusses stand und zugeschüttet wurde. Schließlich konnten wir uns einen Ausweg schaffen und uns hinüberretten.»
Fuscus versuchte, sich Mut zu machen:
«Keine Stunde mehr und wir sind bei unserem Schiff. Dort finden wir gute und sichere Lagerstätten!»
Wer beschreibt den Schreck des Fuscus und seiner Leute, als sie sich den Gärten und der Villa des Pomponianus näherten. Mannshoch lagen Asche und Steine. Die Mauern des Hauses auf einer Seite eingestürzt, das Dach völlig in Trümmern. Von Fischteich und Faun nichts mehr zu erblicken. Als sie hinunter zum Schiff kamen, erkannte man es nur an zwei hölzernen Masten, die aus einem riesigen Schutthaufen ragten. Ein einziger Stein- und Aschenhügel hatte sich vom Ufer über das Deck des Schiffes gebildet. Jenseits des Sarnus, wo die Stadt lag, flackerten da und dort noch immer Flammen von ausbrennenden Gebäuden. Glücklicherweise wehte der Wind den Rauch in andere Richtung. Fuscus konnte mit seinen Helfern beginnen, einen Zugang zum Schiff frei zu machen, was beim Schein des spärlichen Windlichtes mühsam vor sich ging.
Es mochte gegen Mitternacht gehen, als sie durch eine Falltür in den Rumpf des Schiffes einsteigen konnten. Im Innern war es völlig unversehrt. Unberührt lagen die Güter und Waren des Pomponianus an ihrem Ort. Kurzerhand legte sich die todmüde Mannschaft auf Säcke und Teppiche, als Letzter Fuscus, der in das Windlicht Öl nachfüllte.
Milon fand nicht so rasch den Schlaf wie seine Genossen, zu sehr bewegte das Erlebte seine Gedanken. Er klaubte aus seinem Gürtel die Münze hervor, die Alkides ihm auf der Akropolis zum Abschied geschenkt hatte, und drückte sie gegen seine Stirn. Seine Lippen wollten danken für die Errettung aus den Schrecken dieses Tages; aber sie fanden die Worte nicht. Ihm war, als wären die Götter Athens nicht mit ihm hierher gezogen. Die Götter der Römer erschienen ihm als Feinde der Menschen, da sie so Entsetzliches zuließen, wie er es heute erfahren hatte. Er versuchte, abgerissene Sätze, die bei den Opfern auf der Akropolis sich in sein Gedächtnis geprägt hatten, zu flüstern. Da stiegen für einen Augenblick die hellen Tempel vor seinem inneren Auge auf. Sachte schob er die Münze in die Gürteltasche zurück. Er fühlte, das Römerreich konnte ihm keine neue Heimat geben. Mit dem Geschmack bitterer Asche auf der Zunge schlief Milon ein.