Читать книгу Milon und der Löwe - Jakob Streit - Страница 6
Оглавление«Wie ist das möglich? Was hat sich zugetragen, dass dein Herr dich so plötzlich weggeben will? Hast du seinen Zorn entfacht?»
«Nein, edler Alkides. Mein Herr ist unterwegs auf einer Reise nach Eleusis unglücklich vom Pferde gestürzt und auf der Stelle gestorben. Seine Frau, meine Herrin, verkauft nun Haus und Sklaven und zieht zu ihrem Sohne nach Olympia. Tyrios und ich sind gestern von einem Römer erworben worden.»
Milon hatte im Erzählen das Haupt gesenkt, und Alkides bemerkte, wie Verzweiflung sich über das Antlitz des Jünglings legte, der ihm so oft bei den Verrichtungen des Opfers die niedere Arbeit abgenommen hatte. Er fühlte, wie schwer ihm der Abschied von Athen fallen musste. Einen Augenblick sann er nach, dann machte er einen ungewöhnlichen Vorschlag:
«Komm, Milon, lass uns zum Tempel der Göttin gehen, um für dich den Abschiedssegen zu erflehen!»
Als sie die letzten Stufen zum Eingangstor gemeinsam erstiegen, rötete der Glanz des Abends die Säulenhallen. Stumm schritten die beiden weiter hinauf zum Parthenon-Tempel. In der Vorhalle breitete Alkides seine Arme aus und sprach für Milon ein Gebet. Danach setzten sie sich draußen auf die oberste Stufe des Tempels zu Füßen einer der riesigen Säulen. Das Bild des sinkenden Sonnenwagens lag vor ihnen.
«Erzähle», sprach Alkides, «wie kam es, dass du so weit weg ins römische Land verkauft worden bist? Fand sich hier in Athen kein neuer Herr für dich?»
«Gestern brachte der Sohn meiner Herrin einen Händler von Piräus herauf. Der kauft junge griechische Sklaven, um sie nach Rom zu bringen. Sein Schiff liegt im Hafen zur Abfahrt bereit. Er schien gute Preise zu bieten. Tyrios und ich wurden vom Fleck verkauft. Du weißt ja, edler Alkides, Sklaven werden nicht befragt, was mit ihnen zu geschehen habe. Morgen früh werden wir abgeholt. Mir selber ist bange vor den Römern. Wie ich hörte, tragen sie in ihrem Wappen als Zeichen den Wolf. Es heißt, fast alle Völker der Erde seien ihnen untertan. Alkides, du musst es wissen: Wie ist es mit den Römern? Vielleicht kannst du meine Furcht zerstreuen?»
Fragend schaute Milon auf den Priester, als ob seine Zukunft auf dessen Lippen ruhe.
«Junger Freund», begann dieser, «gerne hätte ich dir vergönnt, hier in Athen bleiben zu dürfen. Lieber ein Sklave in Athen als ein Freier in Rom! Wir Griechen sehen in den Römern unsere stolzen Besieger, denen wir Tribut zahlen müssen. Die Gunst der Götter ist von uns gewichen, da sie uns besiegten. Unsere Tempel haben sie in Rom nachgebildet und Götterbilder darin aufgestellt, die sie uns raubten. Unser Dienst an den Göttern ist bei ihnen ein äußerliches, abergläubisches Treiben geworden. Sei aber nicht bange, Milon: So die Göttin des Schicksals deinen Weg nach Rom lenkt, geh ihn getrost. Wo du auch sein wirst, die vielen Opferfeuer, die du hier an den Altären mitgefeiert hast als wackerer Holzträger, werden dir auch in Rom weiterleuchten. Die Tempel und Säulen der Akropolis bleiben in deinem Innern aufgerichtet. Wenn du einmal in schwere Bedrängnis und Trübsal gerätst, dann schließe deine Augen; lass in dir die Tempel Athens im Bilde aufleuchten. Mut und Zuversicht werden sich in dein Herz senken; denn über allem Menschlichen walten die ewigen Götter!»
Alkides hielt inne. Seine Hände tasteten in die Falten des Priesterkleides und brachten eine bronzene Schaumünze zum Vorschein mit dem Haupt der Göttin Athene.
«Hier, Milon, nimm dies als Andenken; dann trägst du immer ein Stück Athen mit dir.»
Als ob er eine große Kostbarkeit mit seiner Hand umschlösse, presste Milon das Geschenk gegen seine Brust:
«Ich danke dir, Alkides! Du machst mir den Abschied schwer und leichter zugleich. Leuchtet nicht dieselbe Sonne über Athen und Rom? Kreisen nicht dieselben Sterne über der weiten Erde?»
«So ist es», bestätigte Alkides.
«Ich sehe, du wirst nicht verzagen im fremden Lande. Lass uns jetzt gemeinsam den Weg zur Stadt hinunterschreiten und im Wandern Abschied nehmen. Es beginnt zu dunkeln. Schon glänzen die ersten Sterne. Sieh dort drüben, der Abendstern! Das Gestirn der Göttin Aphrodite steht über dem Meere, ein gutes Vorzeichen für deine Fahrt!»
Als Milon in der Abenddämmerung heimkehrte, fand er das Hoftor unverschlossen. Sachte stieß er es auf, doch Agaja, die auf das Heimkommen des Ausreißers harrte, nahm das leise Knarren wahr. Ihre aufgeregte Stimme wurde laut. Sie eilte aus dem Hause. Kaum erblickte sie Milon, stürzten ihr die Tränen in die Augen:
«Tyrios ist schon fort, nach Piräus. Der römische Händler war hier und wollte auch dich gleich mit auf das Schiff bringen.»
«Er hat uns doch auf morgen früh bestellt, warum die plötzliche Eile?», entgegnete Milon erschrocken.
Agaja fasste seine Rechte, presste sie zwischen ihre alten, abgearbeiteten Hände und redete beschwörend auf ihn ein:
«Milon, der Händler war sehr zornig, weil er dich nicht vorfand. Ich fürchte, man wird dich morgen früh auspeitschen, wenn du verspätet aufs Schiff kommst. Ich rate dir, Milon, geh nicht nach Piräus, geh nicht zu den Römern! Verlasse heimlich Athen, flieh in die Berge zu meinem Bruder, der über Delphi die Schafherden weidet. Dort sucht man dich nicht. Du kennst den Weg. Dort bist du sicher vor Häschern. Du kannst wieder Schafhirte sein, wie du es als kleiner Knabe warst. Später, wenn alles vergessen ist, kehrst du wieder nach Athen zurück als freier Mann!»
Agaja bewegte zitternd die Lippen, auch als sie nicht mehr sprach. Sie heftete ihre sorgenden Augen auf den Jüngling, sein Einverständnis erwartend. In der stummen Pause fiel Milons Blick über die Gartenmauer auf den Stern, der über dem Meere glänzte. Er hörte des Alkides Abschiedsworte:
«Das Gestirn der Aphrodite, ein gutes Vorzeichen für deine Fahrt!»
Ja, er hatte Abschied von Athen genommen. Er wollte den Weg gehen, der ihm vorgezeichnet war: mit Tyrios über das Meer nach Rom! In einer plötzlichen Regung strich er der guten Agaja über die weißen Haare, hielt ihren Kopf zwischen seinen Händen, sprach fest und bestimmt:
«Agaja, die Welt öffnet sich vor mir! Ich werde das Schiff noch heute Abend besteigen und mit der römischen Wölfin fahren. Liebe Agaja, du warst mir stets wie eine Mutter. Ich werde dich auch in fernen Ländern nicht vergessen. Geh hin und wieder hinauf zur Akropolis, bete für mich beim Parthenon!»
Nach diesen Worten löste er seine Hände von Agajas Haupt und fuhr fort:
«Damit der römische Händler nicht zu böse wird, binde ich sogleich meine kleine Habe in das Reisetuch, das du mir gegeben hast, und eile unverzüglich zu dem römischen Schiff.»
Wie auch Agaja leise für sich jammerte, sie spürte, Milon war fest entschlossen, und so half sie mit, seine geringe Habe einzupacken, der sie Früchte und Honigbrot beifügte.
Als Milon nach einer kurzen Weile das Hoftor öffnete, fiel sein langer Schatten hinaus auf die Pflasterung der Gasse. Agaja hob die Ampel gegen sein Antlitz, sich sein Bild ein letztes Mal einzuprägen, und legte ihm zärtlich eine Hand auf die Schulter. Sie hatte an ihm in ihren alten Tagen einen Sohn gefunden und ihm während sieben Jahren ihre Liebe gegeben.
«Ich werde früh morgens ans Meer hinunterkommen und deine Abfahrt segnen!», sprach sie bestimmt.
Milon wehrte es ihr nicht, und so fügte sie bei:
«Dein Schiff werde ich finden. Schaue nach mir aus; es soll dir Glück bringen!»
Es war ein weiter Weg, den Milon in der Nacht bis ans Meer zu gehen hatte. Als leichtfüßiger Läufer kam er bald auf die breite Straße, die die Stadt Athen mit dem Meere verband. Noch befanden sich im dämmrigen Dunkel Eselskarren und beladene Maultiere unterwegs, die Waren vom Meerhafen hinauf in die Stadt brachten. Hinter sich vernahm Milon plötzlich das Rattern eines größeren Gefährtes. Ein Pferdegespann, begleitet von vier fackeltragenden Läufern, fuhr einen vornehmen Wagen in Richtung Piräus. Eine günstige Gelegenheit mitzuhalten, dachte Milon, und er eilte kurz hinter dem Wagen her. So kam er viel rascher vorwärts, weil er immerzu dem Schimmer der Fackeln folgen konnte. Milon fühlte sich glücklich im leichten Laufen, da er ohne besondere Anstrengung mit den geübten Fackelträgern Schritt zu halten vermochte. Ihm war plötzlich, die Lichter gäben ihm selbst das Geleit, und wiederum sah er vorne den Abendstern über dem Meere glänzen, dem er entgegeneilte. Athen im Rücken und im Feuerlauf in ein neues Leben! – Das Traben der Pferde über die Pflasterung fuhr ihm in die Glieder und berauschte ihn. Jubel durchzog seine schnell atmende Brust. Immer wieder musste er von Zeit zu Zeit einen Sprung hochauf in die Luft nehmen. Vergessen war sein Sklavensein, das ihn bis jetzt noch kaum bedrückt hatte unter der Obhut der guten Agaja. Vergessen, dass Rom die Wölfin im Wappen führte. Vor ihm unbekannte, ferne Ufer, in sich den Mut, sich in die Welt zu wagen.