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b) Dogmatische und systematische Konzeption des § 2 StGB

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Die dogmatische und systematische Konzeption, die § 2 StGB zugrunde liegt, ist nach wie vor umstritten. Nach h.M. wird durch § 2 Abs. 1 StGB die Anwendung des zur Tatzeit geltenden Rechts als Grundsatz angeordnet; dieser Norm wird damit die Funktion einer speziellen strafrechtlichen Rechtsgeltungsregel zugesprochen. Die Gegenposition hält an den allgemeinen staatsrechtlichen Rechtsgeltungsregeln auch für das Strafrecht fest und sieht in § 2 StGB eine spezielle Rechtsanwendungsregel für Strafgesetze.

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Die h.M. in Rechtsprechung und Literatur verortet den Kern der gesetzlichen Regelung in § 2 Abs. 1 StGB und versteht die Anwendung des zur Zeit der Tat geltenden Gesetzes als Grundprinzip des intertemporalen Rechts.[43] Begründet wird dies damit, dass dem Rückwirkungsverbot im Strafrecht eine Sonderrolle zukomme, weil es den Richter zwinge, sich am Tatzeitrecht zu orientieren.[44] Das Strafgesetz diene dem Bürger als Grundlage, sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass er eine Strafbarkeit vermeidet.[45] Der Normbefehl könne einen Täter nur motivieren, wenn er bereits zur Tatzeit Geltung gestanden habe.[46] § 2 Abs. 1 StGB wird damit die Funktion einer Rechtsgeltungsregel für das Strafrecht zugesprochen, die ergänzend neben den lex posterior-Grundsatz tritt.

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Die Gegenposition stellt maßgeblich auf das zur Entscheidungszeit geltende Gesetz ab[47] und begründet dies damit, dass bereits das Rückwirkungsverbot eine Ausnahme von dem allgemeinen Prinzip bildet, dass der Richter das jeweils neueste Recht anzuwenden hat, um legitimerweise in Grundrechte des Straftäters eingreifen zu können. Außerdem liege der Vorrang auf dem zur Entscheidungszeit geltenden Gesetz jedenfalls in dem Sinne, dass die Geltung der Norm für Altfälle noch im Entscheidungszeitpunkt bestehen muss.[48] Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG) folgt jedoch, dass bereits im Zeitpunkt der Tat das sanktionsfähige Verhalten und der Sanktionsrahmen gesetzlich festgelegt sein müssen. Insofern hat das Tatzeitrecht nicht nur eine limitierende, sondern eine komplementäre, die Strafbarkeit begründende Funktion.[49] Deshalb erfordern die Absätze 1, 3 und 4 des § 2 StGB eine zusammenfassende Würdigung.

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Für letztere Auffassung spricht, dass das lex posterior-Prinzip als staatsrechtlicher Grundsatz nicht durch § 2 Abs. 1 StGB durchbrochen und modifiziert werden kann. Die allgemeinen Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Gesetzen gelten für alle Gesetze, auch für Strafgesetze. Sie beruhen auf staatsrechtlichen Grundlagen und sind daher der Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers vorgegeben. Die Geltungsregeln werden deshalb durch § 2 Abs. 1 StGB nicht ersetzt oder modifiziert, sondern bleiben unberührt. § 2 Abs. 1 StGB regelt nur den zeitlichen Anwendungsbereich.[50] Im Einzelnen:

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In einer Demokratie ist der Wille des Volkssouveräns unverzichtbare Grundlage für die Geltung eines Gesetzes. Dieser Wille entfällt durch ein späteres Gesetz. Wenn durch ein allgemeines Gesetz, wie es § 2 Abs. 1 StGB ist, dieser Grundsatz generell außer Kraft gesetzt werden soll, scheitert dies bereits daran, dass staatsrechtliche Grundlagen wie der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ einer generellen, nicht nur einen konkreten Einzelfall betreffenden Entscheidung des Gesetzgebers entzogen sind. Der Gesetzgeber kann lediglich im Einzelfall anordnen, dass ein bestimmtes Gesetz weitergelten soll und so in Bezug auf Einzelregelungen die Fortgeltung der bisherigen Regelung anordnen. Ein allgemeines Gesetz, das den Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ für ein ganzes Rechtsgebiet wie das Strafrecht außer Kraft setzen soll, ist mit einer demokratischen Rechtsordnung nicht vereinbar. Wenn man bei blankettausfüllenden Gesetzen § 2 Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel verstünde, wären auch die durch Strafnormen in Bezug genommenen Regelungen dem „lex posterior derogat legi priori“-Grundsatz entzogen und würden fortgelten. Entweder kommt man dann zu einer gespaltenen Rechtsgeltung ein und desselben Gesetzes im strafrechtlichen und im außerstrafrechtlichen Bereich, was mit den staatsrechtlichen Grundlagen der Gesetzeslehre nicht vereinbar ist, oder es wird zu einer Frage des Anwendungsbereichs einer Regelung, nämlich ob sie nur in den außerstrafrechtlichen Rechtsgebieten noch zum Tragen kommt. Vergegenwärtigt man sich schließlich, dass das Strafrecht nicht nur durch Blankettverweisungen außerstrafrechtliche Normen in Bezug nimmt, sondern darüber hinaus auch andere Regelungen insbesondere bei rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen die Strafrechtslage bestimmen können, so wird deutlich, dass § 2 Abs. 1 StGB bei der Interpretation als Rechtsgeltungsregelung letztlich zum Grundsatz erhoben und der „lex posterior“-Satz zur Ausnahme würde. Selbst wenn ein Strafgesetz ausdrücklich aufgehoben wird, müsste es aufgrund von § 2 Abs. 1 StGB, sofern man hierin eine strafrechtliche Geltungsregel sieht, fortgelten. Der Gesetzgeber kann sich jedoch durch § 2 Abs. 1 StGB nicht der Kompetenz entledigen, ein Strafgesetz vollständig außer Kraft zu setzen.

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Schließlich spricht gegen die Einordnung von § 2 Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel, dass durch diese Vorschrift das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bestätigt wird. Bei Art. 103 Abs. 2 GG handelt es sich aber nach ganz h.M. um ein Grundrecht des Bürgers, das der staatlichen Machtausübung Grenzen setzt, und nicht um eine Rechtsgeltungsregel.[51] Außerdem wird in § 2 Abs. 1 StGB klargestellt, dass sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt, bestimmt. Die Aussage, dass ein Gesetz, das zwischen Tat und Verurteilung aufgehoben oder geändert worden ist, weiterhin gilt, enthält § 2 Abs. 1 StGB nicht. Damit handelt es sich nicht um eine Rechtsgeltungsregel. Der Einwand, ein außer Kraft gesetztes Strafgesetz könne als „Nichtrecht“ nicht mehr angewendet werden, verkennt, dass aufgehobene Rechtsnormen sich durchaus als limitierende Faktoren für jüngere Gesetze erweisen können, um Grundrechtseingriffe zu vermeiden. In solchen Fällen wird die Neuregelung durch das vorausgehende Gesetz inhaltlich begrenzt. Hierfür bedarf es keiner Fortgeltung früherer Gesetze; es reicht eine Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs des neuen Gesetzes aus, und die Rechtsfolgen können weiterhin nach dem inzwischen aufgehobenen Gesetz bestimmt werden. Die Anwendung eines nicht (mehr) gültigen Gesetzes ist im Übrigen der Rechtsordnung keineswegs fremd, wie die Rechtslage bezüglich nachkonstitutioneller verfassungswidriger Gesetze zeigt, die bis zur Verwerfung durch das Bundesverfassungsgericht von den Gerichten anzuwenden sind und Rechtswirkungen hervorbringen.[52]

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