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c) Strafverfahrensrecht

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Strafprozessuale Normen, welche die Verfolgbarkeit regeln, unterliegen nach h.M. in Rechtsprechung und Literatur nicht dem Rückwirkungsverbot des § 1 StGB, da es schon nach dem Wortlaut auf die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit, nicht aber der Verfolgbarkeit ankomme.[88] Daher sollen prozessrechtliche Vorschriften auch nicht zu den Gesetzen im Sinne des § 2 StGB gehören.[89] Dies soll insbesondere für rein formelle Ordnungsvorschriften des Prozessrechts gelten, die sich nicht gestaltend auf die Rechtsposition des Beschuldigten auswirken,[90] sowie für die Prozessvoraussetzungen.[91] Verfahrensvorschriften ergreifen hiernach grundsätzlich nach ihrem Inkrafttreten – vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Übergangsregelungen (vgl. Art. 308, 309 EGStGB) – ipso jure auch solche Verfahren, die bereits eingeleitet sind.[92] Der BGH hat bezüglich des Verfahrensrechts den Grundsatz aufgestellt:[93] „Neues Verfahrensrecht gilt, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, auch für bereits anhängige Verfahren. Es erfasst sie in der Lage, in der sie sich beim Inkrafttreten der neuen Vorschriften befinden; anhängige Verfahren sind nach diesen weiterzuführen. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für Rechtsvorschriften, die das Verfahren des Gerichts regeln, sondern auch für Bestimmungen, welche die Stellung von Verfahrensbeteiligten im Prozess, ihre Befugnisse und Pflichten betreffen, sowie für Vorschriften über die Vornahme und Wirkungen von Prozesshandlungen hängt nicht vom Ort der gesetzlichen Regelung ab, sondern allein von deren Charakter.“

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Die Rechtsprechung geht deshalb davon aus, dass eine Verkürzung der Verjährungsfrist nach Begehung der Tat – vorbehaltlich besonderer Regelungen (vgl. Art. 309 EGStGB) – nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegt und deshalb zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist. Sie soll in jedem Fall zurückwirken, sei es nach prozessrechtlichen oder sachlich rechtlichen Grundsätzen.[94] Abweichend vom früheren Recht[95] kann die mit einer Verkürzung der Verjährungsfrist verbundene Milderung des sachlichen Rechts eine nach altem Recht wirksame Unterbrechung der Verjährung allerdings nicht mehr gegenstandslos machen (§ 78c Abs. 5 StGB). Gleiches soll für eine rückwirkende Änderung des Strafantragserfordernisses gelten.[96]

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Demgegenüber nimmt ein Teil der Literatur an, grundsätzlich unterliege das gesamte Verfahrensrecht und damit auch § 2 Abs. 1 StGB dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG.[97] Das Zugriffsrecht des Staates auf den Straftäter dürfe nach Begehung der Tat nicht ausgedehnt werden.[98] Hiervon sollen nur Vorschriften ausgenommen sein, die ausschließlich den formalen Verfahrensablauf und die Einrichtung der Gerichte betreffen.[99]

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Eine zunehmend an Boden gewinnende Meinung in der Literatur[100] will zumindest Verfahrensvoraussetzungen dem Rückwirkungsverbot unterwerfen, soweit ihnen Strafwürdigkeits- oder Strafbedürftigkeitserwägungen zugrunde liegen,[101] bzw. wenn der Gesetzgeber eine Neubewertung der Tat durch die Gesetzesänderung vorgenommen hat.[102] Denn die einfach-rechtliche Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafprozessrecht, zwischen Strafbarkeit und Verfolgbarkeit ist für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG nicht verbindlich. Auszugehen ist vielmehr von der staatstheoretisch-verfassungsrechtlichen Wurzel des „nulla-poena“-Prinzips und dessen Ratio, die im Verbot der nachträglichen Umbewertung einer Tat zu Lasten des Täters zu sehen ist. Geht man bei der Verjährung davon aus, dass sie auch materiell-rechtlichen Charakter hat, weil sie nach der Schwere des Delikts, dem vom Gesetzgeber angedrohten Strafrahmen abhängig ist, unterliegt sie Art. 103 Abs. 2 GG und damit auch § 2 Abs. 1 StGB.[103]

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Gleiches muss für die rückwirkende Beseitigung des Strafantragserfordernisses gelten, weil hierdurch ein staatliches Bestrafungsrecht erst nachträglich geschaffen wird.[104] Dies muss jedenfalls gelten, wenn die Strafantragsfrist abgelaufen ist. Weiterhin muss Art. 103 Abs. 2 GG Anwendung finden, wenn durch das neue Gesetz das Strafbedürfnis höher als zuvor eingestuft wird, so wenn die Geringfügigkeit der Verfehlung nicht mehr anerkannt und das Strafantragserfordernis aus diesem Grund aufgehoben wird oder wenn besondere persönliche Beziehungen zum Opfer Grundlage des Strafantragserfordernisses sind. Die Aufhebung des Strafantragserfordernisses bedeutet in diesen Fällen eine Veränderung in der Bewertung der Delikte. Hingegen bleibt die Tatbewertung unberührt, wenn allein Geheimhaltungsinteressen der Opfer für nicht mehr schützenswert gehalten werden oder das Strafantragsrecht, das bestimmten Fachbehörden wegen ihres besseren Überblicks über die Notwendigkeit der Strafverfolgung zugewiesen ist, aufgehoben wird. In diesen Fällen wirkt sich eine nachträgliche Änderung des Strafantragserfordernisses nur mittelbar auf den Straftäter aus: Die Bewertung der Tat selbst bleibt dadurch unberührt.

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Bei den Vorschriften über die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen ist zwischen der Einstellung nach § 153a und nach § 153 StPO zu unterscheiden: Die Einstellung des Verfahrens bedeutet einen Verzicht auf Strafe, wird aber im Rahmen eines kriminalpolitischen Gesamtkonzepts abgestufter strafrechtlicher Interventionen zur strafrechtlichen Sanktion, wenn bei § 153a StPO Auflagen verhängt werden, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Hingegen handelt es sich bei den Weisungen um Maßregeln der Besserung und Sicherung, auf die der „nulla-poena“-Satz nicht anwendbar ist. Allerdings beinhaltet § 153 StPO keine gesetzgeberische Entscheidung, dass Bagatellverstöße nicht strafbar sind. Diese Regelung trägt vielmehr dem Problem der begrenzten Ressourcen bei der Strafverfolgung Rechnung. Da dadurch keine Entscheidung über die fehlende Strafbedürftigkeit von Bagatell-Delikten getroffen wird, kann sich eine nachträgliche Einschränkung der Einstellungsmöglichkeiten nicht als verschärfende Rückgängigmachung einer Tatbewertung auswirken.[105]

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Soweit außerstrafrechtliche Beweisvermutungen und Beweislastregeln durch Strafgesetze ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung in Bezug genommen werden können,[106] unterliegen auch diese Art. 103 Abs. 2 GG. Dies gilt gleichermaßen für eine Änderung der Promille-Grenze bei § 316 StGB.[107] Hingegen dienen Beweisverbote dem Schutz außerprozessualer Interessen und Rechte des Beschuldigten, die von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst werden.[108]

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