Читать книгу Kālī Kaula - Jan Fries - Страница 20
Jenseits der Veden
ОглавлениеDie frühe vedische Epoche, die viele Lehren und Rituale beinhaltete, welche größtenteils von den Ārya eingeführt wurden, bereitete den Weg für die spätere vedische Epoche, die viel zur Weiterentwicklung der Rituale und Opferungen unternahm. Hier können wir einen Wechsel von importierten Konzepten zu Glaubensvorstellungen beobachten, die in Indien entwickelt wurden. Vieles von dem, was wir über die praktische Verehrung wissen, stammt aus einer Klasse von Schriften, die Brāhmaṇas genannt werden; die meisten davon wurden zwischen dem zehnten und dem siebenten Jahrhundert v.u.Z. verfasst. Die Brāhmaṇas sind oft Kommentare zu den Veden, weisen aber auch größere Eigenentwicklungen auf. Eine davon war die Klassenstruktur, die im letzten Abschnitt behandelt wurde. Als diese Idee allgemeine Akzeptanz fand, verursachte sie merkliche Spannungen und Schwierigkeiten innerhalb der Gesellschaft. Eine andere ist ein Schatz an Mythologie, von dem vieles auf älteren Glaubensvorstellungen beruht. Jünger sind die Śrautasūtras, die spezifizieren, was bei der Opferung zu tun und zu lassen ist, die Gṛhyasūtras über häusliche Opferungen und schließlich die Āraṇyakas, die Waldbücher, die Material behandeln, das als zu gefährlich für Städte, Siedlungen und Dorfgemeinschaften betrachtet wird. Letztere wurden von jenen Asketen bevorzugt, die die Gesellschaft verlassen hatten. All diese Werke arbeiteten die vedischen Ideen aus und entwickelten sie weiter. Allmählich wandelten sie sie um. Hier ist etwas, das Du beim Studieren des indischen Gedankengutes bedenken solltest. Die meisten Philosophen scheuten vor der Behauptung zurück, etwas Neues erfunden zu haben. Altes ist Gutes in der hinduistischen Philosophie. Wenn also irgendein Seher etwas Neues vorstellen wollte, dann erklärte er höflich, dass dies nur eine Interpretation einer viel älteren (und üblicherweise vedischen) Überlieferung sei. Verschiedene Tantras erklären, dass Śiva die Veden diktierte, dann die Upaniṣaden (als die Menschen reif für ein neues Verständnis waren) und schließlich die Tantras. Natürlich herrscht zwischen diesen Texten große Uneinigkeit. Es ist jedoch nicht besonders höflich, das auszusprechen. Altes Zeug wurde selten angezweifelt. Es wurde einfach als ältere Weisheit beiseite gelegt und ignoriert.
Mit den frühen Upaniṣaden treten wir in eine neue Epoche des indischen Denkens ein. Im achten und siebenten Jh. v.u.Z. wurden verschiedene neue Philosophien definiert. Diese fanden ihre ersten Manifestationen in den frühen Upaniṣaden namens Aitareya, Kauṣītakī, Chāndogya, Kena, Taittirīya, Īśa, Kaṭha und Bṛhadāraṇyaka. Als nächste folgten wahrscheinlich zwischen dem siebenten und fünften Jh. v.u.Z. Praśna, Muṇḍaka, Māṇḍūkya, Śvetāśvatara, Maitrī, Subāla, Jābāla, Paiṅgala, Kaivalya und Vajrasūcikā. Diese Gruppe wird gerne als die ‚Älteren Upaniṣaden‘ bezeichnet. Neuerdings schrecken die Sprachwissenschaftler allerdings vor dieser Bezeichnung zurück: genaue Textanalysen belegen, dass auch die ältesten Texte ganze Einschübe jüngeren Materials enthalten. Es gibt eine ganze Menge weiterer Upaniṣaden, da sich der Name nicht nur auf eine literarische Klassifikation, sondern auch auf eine Art des Denkens bezieht. Manche Upaniṣaden wurden erst vor wenigen Jahrhunderten verfasst. Diese, die sogenannten ‘kleinen Upaniṣaden’, kann man grob in drei Gruppen einteilen: Śaiva, Vaiṣṇava und Śākta. Solche Konzepte existierten in der Zeit der frühen Upaniṣaden nicht; wir können den Beginn der kleinen Upaniṣaden grob auf das erste Jahrhundert v.u.Z. datieren, worauf sie bis ins 15. Jahrhundert weitergeführt wurden (Sharma 1972).
Nach außen hin waren die Veden noch immer das Rückgrat der religiösen Aktivität, aber auf einer subtileren Ebene brachten die späteren Kommentare ein blühendes Wachstum innovativer Interpretationen mit sich. Es gab so viele Veränderungen, dass ich mich auf ein paar grundlegende beschränken werde. Etwa vom Jahre 1000 v.u.Z. an begannen die Opferpriester Schöpfungsmythen zu sammeln und auszuarbeiten. Du hast schon einige davon gehört, und es gibt noch weitere im ṚV, aber das Thema war zu jener Zeit nur von geringer Bedeutung. Nun erlangte es eine größere Bedeutung, da immer mehr Denker über die Natur der Welt zu spekulieren begannen. Im Wachstum dieser Spekulationen können wir eine Zunahme verschiedener philosophischer Schulen beobachten. Es hatte schon immer eine große Vielfalt in der religiösen Praxis gegeben, aber nun begann die Vielfalt das gesamte Weltbild zu erschüttern. Mit ihr stoßen wir auf eine Zunahme des Zweifels. Allmählich begannen die Götter an Bedeutung zu verlieren. Die zu extremer Kompliziertheit entwickelten Rituale wurden für so bedeutend gehalten, dass die Götter bei richtig durchgeführten Opferungen verpflichtet waren, ihren Segen zu gewähren.
Bils 12
Leben nach Leben
Dies ist ein fast automatischer Prozess: Richtige Opferung wird mit vorhersagbaren Ergebnissen gleichgesetzt. Mit dieser Art von Glauben kann man von einem Gott erwarten, dass er sich so verhält, wie der Priester es wünscht. Daher begann viel von der ursprünglichen Lebendigkeit der Gottheiten zu verschwinden, während die Macht und Autorität der Ritualspezialisten immer mehr zunahm. Dies führte zu Spannungen zwischen den Brahmanen und der Krieger-Aristokratie, die aber gelegentlich durch Hochzeiten zwischen den Klassen ausgeglichen werden konnte. Wir können auch eine Zunahme von ‘All-Selbst’-Konzepten beobachten, wie Puruṣa, Ātman, Prajāpati und schließlich Brahman. Hier verließ das indische Denken den Polytheismus und begann, den Pantheismus zu erkunden. Mit den Upaniṣaden wurde Brahman zur wichtigsten spirituellen Vorstellung. Dies implizierte eine neue Einschätzung der Rolle des Menschen in der Realität.
Frühere Perioden hatten darauf bestanden, dass die kosmische Ordnung (Ṛta) durch regelmäßige und präzise Opferungen aufrecht erhalten wird. Doch neuerdings war die hauptsächliche Verbindung des Menschen mit dem Göttlichen die frisch entdeckte All-Seele. Da jedes Wesen mit einem Selbst (Ātman) ausgestattet ist, kann es sich an seine Verbindung mit dem All-Selbst, Brahman, erinnern und schließlich dahin zurückkehren. Dieses Erinnern und Erkennen wurde zur wichtigsten spirituellen Disziplin. Wir befinden uns an den Wurzeln der Suche nach Befreiung. Brahman zu erkennen und damit eins zu werden, bedeutet alle Form, Namen, Rang und persönliche Geschichte zu verlieren. Wer ins All-Selbst eingehen will, muss das persönliche Selbst loslassen. Die frühen vedischen Priester versuchten die kosmische Ordnung aufrecht zu erhalten, waren aber nicht an einer Auflösung im All-Selbst interessiert. Die Verfasser der Upaniṣaden begannen Opferungen als etwas Nebensächliches anzusehen; der Gegenstand ihrer Suche war die Befreiung von der begrenzten menschlichen Existenz durch das Einswerden mit dem Bewusstsein, aus dem Alles entsteht. Und genau hier kommen wir noch einmal zum Thema Transzendenz zurück.
Der Wandel von vedischer zu upaniṣadischer Religion verschiebt den Schwerpunkt von den Riten für die Kriegerklasse zu denen der Brahmanen, Asketen und Weltverweigerer. Wo es vorher nur möglich war, die absolute Transzendenz durch eine Eroberungsfahrt in und durch die Sonne zu erreichen, wurde es jetzt möglich, beim Sterben nach Innen zu gehen. Das Brahman, so lesen wir in den Upaniṣaden, ist nicht nur im jenseitigen Himmel, sondern vor allem in uns selbst zu finden. Wir haben also ein allumfassendes Universalbewusstsein, und gleichzeitig in unserem Inneren einen Ableger davon. Dabei wurde eine neue Idee eingeführt: Im Inneren des Körpers ist das Herz, und dieses ist ein Raum der absoluten Leere. In dieser Leere erscheint das wirkliche Selbst, welches daumengroß oder noch kleiner ist. An diesem Punkt gab es eine Menge unterschiedlicher Ideen, so z. B. bei den Anhängern des immer populärer werdenden Viṣṇu, die davon ausgingen, dass Brahman eben Viṣnu und daher dieses Selbst wären. In anderen Texten begegnen wir diesem Selbst als dem Puruṣa oder als Śiva. Oft wurde das Selbst auch als Emanation der Sonne betrachtet, als eine kleine Sonne, die im Inneren leuchtet. Wie dem auch sei, der Sterbende hatte die Möglichkeit, die Eroberungsfahrt nach innen anzutreten, und dabei absolute Befreiung zu gewinnen. In diesem Prozess, der durchaus meditative Züge in sich trägt, wurde weiterhin die Eroberungsterminologie des vedischen Yoga verwendet. Statt den Zügeln/Lichtstrahlen der Sonne zu folgen, folgte man jetzt den Lichtstrahlen, die vom Herz zur Schädeldecke führten, durchbohrte diese und löste sich im Allbewusstsein auf. Und damit haben wir einen Vorgeschmack auf all die späteren Reisen zur Transzendenz, wie sie z. B. bei der Erweckung der Kuṇḍalinī vorkommen. Die Lichtbahn zur Sonne wurde mit der Lichtbahn durch die Schädeldecke gleichgestellt. Man könnte dieses willentliche Sterben, oder auch seine meditative Vorwegnahme, natürlich als Yoga bezeichnen.
Das wäre allerdings nicht passend, denn in der späten Upaniṣadenzeit taucht der Yogī zwar auf, ist aber nicht im Geringsten an meditativen, spirituellen oder introvertierten Praktiken interessiert. Vielmehr ist ein Yogī entweder ein gefährlicher Zauberer, dessen Hauptinteresse darin liegt, magische Kräfte zu gewinnen, und dessen gefürchtetster Zauber darin besteht, sich mit anderen Personen oder Tieren ‚zusammenzuschirren‘ oder ‚anzujochen‘, in deren Körper einzudringen und dann deren Leben zu genießen. Dabei geht es oft um reichlich primitive Machtvorstellungen und völlig materielle Ziele: wie White (2011) deutlich macht, wird von keinem der frühen Yogīs erwähnt, er hätte sich jemals mit Āsana, Atemkontrolle, Introversion, Ethik oder irgend einer meditativen Technik beschäftigt. Doch das Zusammenschirren mit anderen konnte auch zur Initiation verwendet werden, und diese Idee lebte in verschiedenen tantrischen Richtungen auf: der Guru ‚durchbohrt‘ den Schüler durch die Augen oder eine andere Öffnung und fließt in goldenem Glanz in diesen hinein, um dessen Bewusstsein nach oben, zur Transzendenz zu tragen. Es werde auch Situationen erwähnt, in denen große Yogīs zeitweilig in den Köper von Personen eindrangen, um diese mit ihrem Wissen, ihrer Kraft und ihren magischen Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld oder in Notsituationen zu unterstützen.
Manche Yogīs jochten sich auch mit Göttern zusammen, drangen in diese ein, und versuchten sie, mit mehr oder weniger großem Erfolg, zu beherrschen. All diese Themen werden von White genau behandelt. Die andere Sorte Yogī der Upaniṣadenzeit ist ein Möchtegernzauberer, der mit Tricks, Betrug, Bettelei, kleinen Zaubereien und Erpressung sein Leben fristet. Manche von ihnen dienten auch als reisende Spione. Wir erleben also mit der Entstehung der Upaniṣaden eine Welle neuer, nach innen gerichteter Spiritualität, die allerdings nur von Sehern, Einsiedlern, Entsagern und Asketen ausgeübt wird. Noch hatten die Yogīs nichts damit zu tun.
Mit der Entwicklung der Upaniṣaden taucht eine dramatische Neubewertung der Existenz auf. Diese erscheint in zwei radikal neuen Ideen: Wiedergeburt und Karman.
Wie die Wiedergeburt entdeckt (oder erfunden) wurde, bleibt ungeklärtes Rätsel. Wiedergeburt ist möglich, da jedes Lebewesen eine inkarnierte Form von Brahman darstellt und daher unsterblich ist. Körper kommen und gehen, aber das eine Bewusstsein besteht durch alle Zeitalter. Bisher wurde die Idee von Indologen einfach als ein innovativer neuer Durchbruch betrachtet. Es gibt allerdings eine Reihe von neueren Studien, in denen Bronkhorst die Ansicht vertritt, diese Ideen könnten in der östlichen Gangesebene entwickelt worden sein, in einer Gegend, die er als Größeres Magadha bezeichnet. Entweder sie wurden schon recht früh erfunden, oder sie waren dort schon in der Vorzeit vertreten. Diese Ideen vermischten sich mit der späten vedischen Religion, und aus der Verbindung könnte die Denkweise der Upaniṣaden hervorgegangen sein. Im Raum um Magadha stoßen wir schon in den frühesten Überlieferungen auf Konzepte wie Karman und Wiedergeburt. Und damit betrat der offizielle indische Glauben echtes Neuland. In vedischen Zeiten gab es ein paar schlecht definierte Anderswelten, einige Paradiese der Götter und einige vage Höllen, in die manche Menschen nach dem Tod kommen konnten. Diese waren zunächst nicht besonders genau beschreiben, aber die Brāhmaṇas entwickelten das Thema weiter. An irgendeinem Punkt begann sich dies zu ändern.
Für manche Autoren blieben die Anderswelten bestehen, aber sie wurden lediglich zu Übergangspunkten. Zum Beispiel erklärt die Kauṣītakī Brāhmaṇa Upaniṣad 1, 2, dass die Seelen nach dem Tod zum Mond gehen. Jene, die den Mond als Himmelstür verstehen und wissen, ‘wie man darauf antwortet’, können zu den höheren Reichen aufsteigen. Diejenigen, die es nicht können, kehren als Regen zur Erde zurück und werden als Tiere oder Menschen wiedergeboren. Damit sind wir am Anfang eines von mehreren Wiedergeburtsmodellen. Die Upaniṣaden entwickelten das Thema immer weiter; sie hatten noch nicht den Konsens erreicht, der im frühen Hinduismus auftauchte. Wie die Idee der Wiedergeburt auch immer aufkam, sie war sicher nützlich. Einerseits nahm sie den Gläubigen viel von der Angst vor dem Tod. Andererseits stabilisierte sie die gesellschaftliche Ordnung.
In einer Gesellschaft, die immer starrer wurde, muss sich so mancher gefragt haben, was für einen Sinn das alles haben sollte. Eine feste Unterteilung in Klassen ist nun mal eine Sache, die viele ganz schön unfair trifft. Vielleicht ist die Idee, dass die Dinge im nächsten Leben besser werden, ein kleiner Trost für diejenigen, die unten am Boden sind. Dasselbe kann man über die Idee sagen, dass Dein gegenwärtiges Elend kein Schicksal, sondern Deine eigene Schuld ist. In diesem Sinne wurde die Reinkarnation zu einem bequemen Beruhigungsmittel für diejenigen, die mit dem Klassensystem unglücklich waren. Gleichzeitig fühlten sich die Reichen und Mächtigen dadurch geschmeichelt, denn schließlich hatten sie sich ihren Wohlstand ja in anderen Leben durch gute Taten verdient. Der Wiedergeburtsglauben lieferte eine Philosophie, die die Leute mehr oder weniger dort hielt, wo sie sein sollten. Diese Denkweise verringert die soziale Unruhe und wird von der Regierung allgemein gefördert.
Die älteren Upaniṣaden führten die Idee ein, dass alle Taten Auswirkungen haben. Dasselbe gilt für das Nichttun: Was immer Du tust oder zu tun vermeidest, beeinflusst die Welt. Wenn Wesen durch das Leben gehen, erzeugen sie Karman. Karman bedeutet Handeln, Tun, Wirken und die Ergebnisse von Taten. Diese einfache Beobachtung hatte einen radikalen Charakter. In der frühen vedischen Epoche hielt man das menschliche Schicksal für abhängig von angemessenen Ritualen, Opferungen, Zaubersprüchen und dem guten Verhältnis zu Göttern und Priestern. Die Menschen konnten etwas tun, um ein böses Schicksal abzuwenden, sie konnten von Unglück und Sünden der Vergangenheit durch die richtigen Rituale erlöst werden. Selbst ein grausiges Schicksal nach dem Tod, den drohenden zweiten Tod (Punarmṛtyu), konnte durch die richtigen Opferungen abgewendet werden. Karman setzte all dem ein Ende. Die erste Erkenntnis der karmischen Philosophie besagt, dass die Menschen für sich selbst verantwortlich sind. Was nach dem Tod geschieht, hängt vom richtigen Verhalten im Leben ab. Karman wurde jetzt als subtiler Einfluss betrachtet, der sich der individuellen Seele (Ātman) im Laufe des Lebens anfügt und die nächste Geburt beeinflusst. So kann einen Karman Leben um Leben verfolgen. Wenn Du jetzt ein gutes Leben genießt, dann kommt das von dem Karman, das Du in den letzten Leben entwickelt hast, abhängig von deinem Verhalten in diesen. Karman war nicht nur eine abstrakte Qualität, ein Kausalitätsgesetz, sondern es wurde manchmal auch zu einem moralischen Prinzip. Hier waren sich die Seher alles andere als einig. Manche hielten Ethik für ein bedeutendes Prinzip, und andere wollten sie so weit wie möglich ignorieren. Schauen wir uns beide Möglichkeiten an: gute und böse Taten (was auch immer das sein soll) erzeugen gleichermaßen Karman, und Karman, egal ob gut oder schlecht, impliziert Bindung an die Welt der Dinge und Illusionen. Die war natürlich ein Hindernis, wenn man sich gerne ins Brahman auflösen wollte. Nach Ansicht mancher Seher galt es also, sowohl gute wie böse Taten zu vermeiden. Das ist nicht ganz das, was moderne Hindus, ganz zu schweigen von New-Age-Anhängern oder Theosophen, unter Karman verstehen. Im Denken vieler Leute ist Karman so etwas wie ein Bankkonto. Gute Taten erhöhen den Betrag auf dem Konto, schlechte Taten verringern ihn, und wenn man genügend Bonuspunkte gesammelt hat, kann man heilig werden oder sich komplett aus der Existenz ausklinken. Der Schwachpunkt in dieser gesellschaftlichen Philosophie ist die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Taten. Gut und schlecht sind Bewertungskategorien, die vom individuellen Standpunkt abhängen und für sich keine eigene Existenz haben. Gute Taten müssen nicht unbedingt zu guten Ergebnissen führen, schlechte Taten und Sünden müssen nicht unbedingt für jeden schädlich sein. Tatsächlich ist Gutes oft die Wurzel von Schlechtem und umgekehrt: es kommt immer drauf an, für wen. Und allein, dass Deine Absichten gut sind, bedeutet nicht, dass Deine Taten Gutes bewirken. Die MuUp 1, 2, 7-11 verspottet solche Aktivitäten wie richtiges Sozialverhalten, gute Taten, Kultivierung von Wissen, Durchführung von Ritualen, Opferungen und die Erlangung von Verdiensten als nutzlos. Stattdessen erklärt sie das Leben des waldbewohnenden Bettelmönchs zum Weg der Befreiung.
In der Philosophie der Upaniṣaden wurde die Idee des Karman erst entwickelt, und unsere Quellen stimmen nicht miteinander überein. Manche sahen das Karman als ein abstraktes Prinzip (das Gesetz der Kausalität, wenn man so will), während andere es primär zu einem moralischen Prinzip machten. Wir begegnen sogar der Ansicht, dass das Karman eines Vaters auf den Sohn vererbt wird (Kauṣītaki Brāhmaṇa Upaniṣad 2, 15), aber diese wurde nie wirklich populär. Von Bedeutung für die Epoche der Upaniṣaden ist die Idee, dass alles Karman, egal ob gut oder schlecht, zu einer Bindung an die Welt führt. Eine Befreiung von dieser Bindung war für diejenigen möglich, die es schafften, ihr menschliches Selbst (Ātman) mit dem All-Selbst, Brahman, zu verschmelzen. Diese Ansicht verwandelte die ganze religiöse Landschaft.
Alle Wesen erzeugen zu allen Zeiten Karman, ob sie es wollen oder nicht, und dies schließt auch die Götter ein. Wenn die Götter in den Fesseln des Karmans gefangen sind, dann sind sie nicht mehr frei, ihre göttliche Macht auszuüben, wie sie es gewohnt sind. Dies setzte dem vedischen Glauben ein Ende, dass die Götter Übeltäter bestraften. Der allsehende Varuṇa, der keulenschwingende, donnernde Indra, die Gottheiten von Gesetz und Ordnung verloren einfach ihre Funktion. Wenn jemand Böses tat, dann wurde einfach das Karman der Tat die Strafe. Die Götter hatten nichts damit zu tun, es sei denn, es war ihr Karman, eine Bestrafung zu veranlassen, die das Karman des Übeltäters verursacht hatte. Göttliche Belohnungen waren ebenso nur möglich, wenn das Karman des Belohnten es erlaubte. Kurz gesagt, verloren die Götter mit der Etablierung der Prinzipien von Karman und Wiedergeburt viel von ihrer Bedeutung. Tatsächlich erklären manche Texte wie die BāUp 1, 4, 10:
Wer immer das ‘Ich bin Brahman’ kennt, wird dieses Alles. Selbst die Götter können das nicht verhindern, denn er wird ihr Selbst. Wer immer also eine andere Gottheit (als sich selbst) verehrt, in dem Gedanken, dass er einer und (Brahman) ein anderes ist, kennt es nicht. Er ist für die Götter wie ein Tier.
So wie sich die Menschen von Tieren ernähren, so ernähren sich die Götter von ignoranten Anhängern. Die noch immer durchgeführten rituellen Opferungen wurden von vielen heiligen Philosophen verspottet. Sie erklärten, dass Befreiung statt durch Ritualismus durch die direkte Erfahrung von Brahman zu finden ist. Dies ist das Wissen, das vom Bösen befreit, das alle Fesseln löst, dies ist der Weg, der aller Ethik überlegen ist. Die Autoren der frühen Upaniṣaden hatten gelegentlich ein wenig für Ethik übrig, aber sie betonten wiederholt, dass Befreiung etwas ist, was jenseits sämtlicher ethischer Werte liegt. Es geht nicht darum, Gutes oder Böses zu tun, der Trick besteht darin, das ganze Spiel zu verlassen – und alles andere auch. Nun sieht die Idee des Karman etwas pessimistisch aus. Das war nicht von Anfang an so. Die Īśa Upaniṣad erklärt, obwohl Fesselung die Norm ist, dass Befreiung für all diejenigen möglich ist, die ihre Bindung an die Welt abbrechen. Wir befinden uns hier am Beginn einer neuen Bewegung: Aus jener Zeit gibt es Belege für wachsende Gemeinschaften von waldbewohnenden Asketen, nackten Aussteigern und wandernden Bettelmönchen aller Art, Leuten, die den Werten der Gesellschaft Lebewohl gesagt haben. Hinzu kamen Menschen, die ihre weltlichen Verpflichtungen erfüllt hatten, und zum Lebensende Befreiung suchten. Während manche Texte das Leben der waldbewohnende Asketen preisen (Chāndogya Upaniṣad 5, 10), plädieren andere für ein spirituelles Leben innerhalb der Gesellschaft. Zur selben Zeit stellt die späte Maitrī Upaniṣad eine völlig pessimistische Ansicht des Karman vor. Hier finden wir die bittere und hoffnungslose Stimmung, die so typisch für den frühen Buddhismus wurde. Um damit anzufangen, ist der Körper faul riechend, substanzlos, voller Kot, Schleim, Urin und Krankheit, gebunden an Wünsche, Ärger, Verwirrung, Begehrlichkeit, ein ‘Karren ohne Intelligenz’. Die Götter selbst können als Ausdrucksformen des Brahman verehrt werden, aber ihre Wohltaten sind vergänglich und sollten verworfen werden. Vereinigung ist nur erreichbar, wenn alles zerstört ist. Die beste Methode, um Frieden zu finden, sind Askese und Entbehrungen; indem er alles Gute und Böse abschüttelt, wird der Weise selbstlos, leer und abwesend. Wesentlich spätere Zusätze zu dieser Upaniṣad beschreiben einige nützliche neue Konzepte wie jene Energiebahn, die der Wirbelsäule entspricht (Suṣumnā) und deren Bahn dem Weg der höchsten Krieger zur Sonne gleich kommt, Meditation über Klang, die Meditation über das daumengroße Ich in der Höhle des Herzens, die Vermeidung von Gedanken plus einige schräge rituelle Elemente. Manches davon ist eine Grundlage zum meditativen Yoga, wie es um das dritte Jahrhundert u.Z. entwickelt wurde, aber alles in allem ist es ganz gewiss keine frohe Botschaft. Diese Einstellung wurde zu einem der vorherrschenden Elemente im indischen Denken. Wenn moderne Menschen von Reinkarnation hören, betrachten sie das meist als eine gute Nachricht. Angeblich glaubt mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands an Reinkarnation, ohne sich viele Gedanken darüber zu machen. Für die Menschen im alten Indien war Wiedergeburt etwas, das dringend vermieden werden sollte.