Читать книгу Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann - Страница 14
1.3.1 Geschriebenes als Abbild des Gesprochenen?
ОглавлениеInSchriftGeschriebenes der Antike sei das Geschriebene generell als Abbild des Gesprochenen verstanden worden. SchreibenSchreiben sei der Prozess, bei dem das Gesprochene festgehalten, also aufgezeichnet würde, beim Lesen würde das gespeicherte Gesprochene wieder hörbarLautstärkehörbar gemacht.1 So richtig es ist, dass man aus der Antike zahlreiche Quellen findet, in der GeschriebenesSchriftGeschriebenes in verschiedensten Formen mit einer engen Relation zur StimmeStimme, zum Gesprochenen gestellt wird,2 eine generalisierende Schlussfolgerung zum „lautenLautstärkelaut“ oder „leisenLautstärkeleise“ Lektüremodus lässt sich daraus aber gerade nicht sicher ziehen.
Die Quellen, die Busch heranzieht, um zu zeigen, dass legere generell das Wieder-Hörbarmachen des Gesprochenen, also die Re-realisierung von Klang meint, bzw. die Verknüpfung von Lesen und der richtigen Aussprache, stammen aus rhetorischen Lehrbüchern (Quint.Quintilian inst. or. 1,7,24–35 u. ö.; Cic.Cicero, Marcus Tullius orat. 44,150) und beziehen sich auf das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt, das freilich mit der vokalen Re-Oralisierung des Textes verknüpft ist. Eine allgemeine Lesedefinition wird damit jedoch nicht gegeben.3
Denn prinzipiell erscheint auch bei einer individuellen, „leisenLautstärkeleise“ Lektüre ein solches „Wieder-Hörbarmachen“ der durch die Schrift repräsentierte menschliche StimmeStimme (Quint.Quintilian inst. or. 1,7,30f als locus classicus) denkbar – dann aber im Kopf des LesersLeser. Dass diese Möglichkeit überhaupt nicht bedacht wird, führt dazu, dass man auch nicht nach den entsprechenden Quellenbelegen sucht. Eine feste Interdependenz zwischen dem, was Schrift aus der Sicht antiker SprachphilosophiePhilosophie repräsentierte, und einem Normalmodus des Lesens sollte man in jedem Fall nicht a priori postulieren. Zudem müsste man weiter fragen, ob Schrift (insbesondere in Texten) in der Vorstellung der antiken Menschen ausschließlich Gesprochenes repräsentierte oder ob das Repräsentationsverständnis nicht doch mehrdimensionaler war. Hinzuweisen ist diesbezüglich auf die differenzierte und durchaus kontrovers diskutierte Schriftauffassung in der Antike. Kristallisationspunkt der Debatte ist die Frage, ob das Schriftverständnis von Aristoteles (vgl. insb. Aristot.Aristoteles int. 1 [16a3–18]) phonographisch zu verstehen oder semiotisch konzeptualisiert ist bzw. ob er die Schrift der Stimme hierarchisch unterordnet oder gleichwertig zugeordnet.4
Zudem ist Folgendes zu bedenken: Der Seh- und HörsinnSehen war für die griechische Kultur gleichermaßen wichtig, wobei jedoch dem Sehen in der philosophischenPhilosophie Diskussion grosso modo ein leichter (erkenntnistheoretischer) Vorzug zugebilligt wird.5 Daher sollte gerade die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Lesen und Sehen unbedingt bei der Erforschung des Lesens in der Antike berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich als erste Teilfrage für die vorliegende Studie, welche Rolle Verben der visuellenvisuell Wahrnehmung für die Beschreibung von Lesen in den Quellen hatte.