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1.3.6 Engführung der Forschung auf die Fragen nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ des Lesens in der Antike und auf reading communities

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Blickt man nun noch einmal zurück auf die lang und umfassend diskutierte Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen, das die Debatte im 20. Jh. um das Lesen in der Antike maßgeblich geprägt und dadurch eine sehr eigenwillige Dynamik des Forschungsdiskurses befördert hat, so ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, dass man eigentlich eine viel zu eng geführte Frage nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ diskutiert hat. Deshalb bekommt man nach über 100 Jahren den Eindruck, dass sich die Diskutanten im Kreis gedreht haben. Die einseitige Fokussierung auf diese eine Unterscheidung hat dazu geführt, dass man viele andere Facetten der komplexen Kulturtechnik des Lesens weitgehend unberücksichtigt gelassen oder nur am Rande erforscht hat. Insbesondere die lexikologische Konzentration auf einige Hauptbegriffe des Lesens,1 die noch dazu nur im Hinblick auf die zu eng geführte Forschungsfrage ausgewertet wurden, und das Fehlen einer systematischen Erfassung antiker Leseterminologie wiegt schwer. Dies wiederum hat gewichtige Implikationen für die weiterführenden Oralitätshypothesen, die maßgeblich auch auf der vermeintlich eindeutigen Antwort des Normalmodus der „lauten“ Lektüre basieren.

Auf die Defizite der Fragestellung weisen auch schon die klassischen Philologen H. Krasser und W. A. Johnson hin; beide beurteilen die Debatte sehr kritisch.2 Allerdings kommen sie bezüglich des ähnlichen Untersuchungsgegenstandes zu divergenten Ergebnissen. Krasser untersucht in seiner unpublizierten Habilitationsschrift die Darstellungen von LeseszenenLese-szene, die literarische Reflexion von Lesern, LesepraktikenLese-praxis und -techniken sowie literarische Wahrnehmungsgewohnheiten in Rom zwischen dem ausgehenden 1. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. Dabei kann er zeigen, dass sich in der Kaiserzeit (erstmals fassbar bei OvidOvidius, P. Naso) ein größer werdender literarischer Markt etablierte, der mit veränderten Distributionsformen, mit einem Bedeutungsgewinn des Buchhandels sowie mit einer großen Steigerung des Angebots und der Verfügbarkeit von LesestoffenLese-stoff einherging. Krasser stellt u. a. „eine Entfremdung zwischen AutorAutor/Verfasser und LeserLeser“3 fest, die sich z.B. darin zeigt, dass Autoren über unterschiedliche Leseerwartungen reflektierten und sich an ein anonymes und breites LesepublikumLese-publikum richten.4 Dabei ist zu erkennen, dass sich publizierte Literatur – anders als noch im Rom in der Zeit der späten Republik, die er allerdings auch schon als Umbruchssituation beschreibt5 – an einen breiteren Leserkreis richtete, der weit über den Kreis der ElitenElite hinausreichte.6 Krasser zweifelt darüber hinaus überzeugend die „ausschließliche Dominanz des Ohrs bei der Rezeption von Literatur“7 an und zeigt einerseits differenziert die Leseanlässe auf, die im kaiserzeitlichen Rom mit stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung einhergegangen sind (v. a. die recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung) durch Autoren als Bestandteil des Redaktionsprozesses; UnterhaltungUnterhaltung beim MahlGemeinschaftsmahl; die Nutzung eines VorlesersVorleser im privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Kontext; das kunstvolle VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum); die Realisierung des Textes als ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Klangerlebnis bei der individuellen Lektüre; als gesundheitsförderliche Tätigkeit im Rahmen der antiken Diätetik).8 Andererseits stellt er heraus, dass „vor allem im Bereich der vornehmlich intellektuell orientierten LeseakteLese-akt die leiseLautstärkeleise Lektüre aller Wahrscheinlichkeit nach sogar die Regel war.“9 Zuletzt präsentiert er erste Ansätze zur Systematisierung unterschiedlicher Lektüreformen,10 die unten wieder aufgenommen wird, und untersucht, welche Tageszeiten im kaiserzeitlichen Rom (im Ideal und in der Wirklichkeit) zum Lesen genutzt wurden und inwiefern das Alter eines Menschen nach seinem Berufsleben als Lesezeit galt. Dabei kann er eine enge Verbindung der intellektuellen Lektüre mit der Nachtarbeit (lucubratiolucubratio) aufzeigen.11

Johnsons Arbeiten hingegen prägen einen neuen, kultur- und sozialgeschichtlichenSozialgeschichte Ansatz in der Erforschung des Lesens in der Antike, der analog zu ähnlichen Paradigmenwechseln in der historischen LeseforschungLese-forschung12 primär an der Kultur der LeserLeser bzw. in differenzierender Perspektive an unterschiedlichen Leserkulturen und weniger an Fragen der Lesetechnik und der Wahrnehmung des Lese- und Verstehensprozesses interessiert ist.13 Johnson fokussiert demgegenüber vor allem auf die Kultur des Lesens als „ElitenphänomenElite“ in der Römischen Kaiserzeit. So richtig sein Ausgangspunkt ist, dass einzelne LeseszenenLese-szene immer in Relation zu einem spezifischen soziokulturellen Kontext stehen und generalisierende Aussagen über „das“ Lesen in der Antike dies zu berücksichtigen haben, und so hilfreich sein Modell der Konstruktion einzelner reading communities für soziologische Fragen bezüglich des Lesens auch sein mögen,14 einige Schlussfolgerungen Johnsons sind zu hinterfragen.15 Insbesondere die Fokussierung auf performative Vorleseszenen und der weitgehende Verzicht auf Fragen nach der physiologischen Dimension des Lesens bzw. auf Fragen nach der Reflexion kognitiverkognitiv Prozesse beim Lesen sind m. E. problematisch.

Es ist hier nicht möglich, die theoretischen Überlegungen Johnsons, seine Quellenauswertungen und seine vielfältigen Schlussfolgerungen im Einzelnen zu diskutieren und die vielen wichtigen Einzeleinsichten sowie sein Paradigma sozialer und ideologischer Konstruiertheit des Phänomens Lesen zu würdigen, möglich sind nur einige generelle Beobachtungen: Auch wenn Johnson weder die Möglichkeit stiller Lektüre noch die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre im kaiserzeitlichen Rom negiert,16 so spricht er dennoch von einer quantitativen Dominanz des performativen VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in Zirkeln der elitären römischen OberschichtElite,17 was er als grundsätzlichen qualitativen Unterschied zur eigenen modernen Kultur markiert.18 Es ist allerdings – und das gilt gleichermaßen für die unter 1.1.2 und 1.1.3 skizzierten Ansätze – vor dem methodischen Fehlschluss zu warnen, dies aus einer (im Übrigen noch zu beweisenden) quantitativen Übermacht von literarischen Darstellungen von Vorleseszenen in Gruppen bei bestimmten kaiserzeitlichen AutorenAutor/Verfasser bzw. in der antiken Literatur zu schließen. Denn performative oder gemeinschaftliche LeseszenenLese-szene in der Literatur sind z.B. institutionell verankert (GerichtGericht, politische Versammlung o. ä.) oder im Zusammenhang mit dem Darstellungsinteresse der jeweiligen Autoren zu sehenSehen: Soziale Konflikte, Diskussionen usw. im Kontext gemeinschaftlicher Lektüre sind mutmaßlich deutlich interessanter darzustellen und zu lesen als individuell-direkte Lektüren. Individuell-direkte Lektüre ist für den Beobachter von außen zumeist gar nicht zugänglich oder muss, wenn sie doch beobachtet werden kann, z.B., wenn jemand individuell in der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit liest, relativ gleichförmig unspektakulär erscheinen.

Neben dem undefinierten Gebrauch des Elitenbegriffs basieren Johnsons Schlussfolgerungen zum Lesen in der Kaiserzeit als ElitenphänomenElite19 a) auf den zu hinterfragenden quantitativen Schätzungen von Harris zur geringen LiteralitätLiteralität/Illiteralität in antiken Gesellschaften,20 b) auf einer Skepsis in der neueren Forschung gegenüber der älteren Forschung zum antiken Buchhandels- und Publikationswesens, die demgegenüber privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat ZirkulationsmechanismenZirkulation postuliert,21 c) auf nicht näher belegter Schätzung des hohen Preises für antike BücherBuch22 und d) auf einem Cognitive Model for Ancient Reading, das nicht aus den Quellen (d. h. aus Leseprozessen beschreibenden oder reflektierenden Texten) deduziert wurde, sondern allein aus hypothetischen Annahmen bezüglich der physischen Gestalt antiker Manuskripte (insb. Rollenform, scriptio continuaSchriftscriptio continua und Zeilenbreite) gewonnen wurde.23 Nicht zuletzt die relativ konträren Ergebnisse von Krasser und Johnson zeigen, dass die Forschungsdiskussion zum Lesen in der Antike jenseits der alten Frage nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen gerade erst angefangen hat und wichtige Grundlagen noch aufzuarbeiten sind.24

Auf einer Metaebene zeigt sich an der Diskussion um das „lauteLautstärkelaut“ und „leiseLautstärkeleise“ Lesen – besonders an der mehrfachen „Erfindung“ des „leisen“ Lesens in der Geschichte – eine Einsicht, die in der historischen LeseforschungLese-forschung schon von anderen gemacht worden ist – nämlich, „[d]aß die Geschichte des Lesens im Blick auf die Modalitäten der Lektüre nicht eine lineare Geschichte ergibt.“25 Dies gilt nicht nur für das Paradigma der Entwicklung vom „lauten“ zum „leisen“ Lesen, sondern z.B. auch für ein anders klassisches Paradigma, nämlich der Entwicklung von statarischer zu kursorischer Lektüre im 18. Jh.26 Gegen ein solches idealisiertes Entwicklungsparadigma sprechen frühneuzeitliche Quellen, „in denen Lesetechniken zur schnellenLese-geschwindigkeit und effektiven Wissensaneignung propagiert werden.“27 Im Rahmen dieser Arbeit wird zu zeigen sein, dass auch in der Antike schon Lektüretechniken angewandt worden sind, die traditionell (und m. E. zu undifferenziert; vgl. dazu 1.5) als „kursorisch“ bezeichnet werden. Anhand der Modalitäten des Lesens lässt sich also definitiv keine globale, vermutlich aber auch nur schwer eine auf einen bestimmten kulturellen Raum wie der griechisch-römischen Welt beschränkte, lineare Geschichte schreibenSchreiben. Die Modalitäten des Lesens sind im Wesentlichen zunächst als prinzipiell anzusehen, müssen also für jedes SchriftsystemSchrift-system und jede Schrift- und LesekulturLese-kultur als analytische Möglichkeit zunächst in Betracht gezogen werden. Ob sie jeweils im vollen Umgang realisiert werden, hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab; d. h. die Modalitäten des Lesens in spezifischen kulturhistorischen Räumen sind jeweils einzeln anhand der Quellen zu untersuchen.

Lesen in Antike und frühem Christentum

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