Читать книгу Lesen in Antike und frühem Christentum - Jan Heilmann - Страница 7

1 Einleitung

Оглавление

In dieser Studie wird die Frage gestellt, wie die Texte des späteren Neuen Testaments1 (im Folgenden: neutestamentliche Texte) in ihrem unmittelbaren Entstehungskontext und im Rahmen der frühen Rezeptionsgeschichte gelesen wurden. Es klingt zunächst banal, wenn man die selbstverständliche Annahme formuliert, dass die neutestamentlichen Texte geschriebenSchriftGeschriebenes wurden, um gelesen zu werden. Kategorien wie die (Erst-)LeserLeser, die historische Rezeptionssituation, die gottesdienstlicheGottesdienst Verlesung (WortgottesdienstGottesdienstWort-/liturgische Lesung usw.) u. ä., aber auch das Verb „lesen“ und das Substantiv „Lesen“ gehören zum Standardrepertoire der exegetischenExegese Beschreibungssprache. Demgegenüber bleibt die Reflexion darüber, was „Lesen“ im frühen ChristentumChristentum konkret bezeichnet, aber zumeist unbestimmt. Auf der einen Seite umgehen viele Exegetinnen und Exegeten durch geläufige Formulierungen wie „Leser bzw. HörerHörer“2 und „Erstrezipienten“3 die Herausforderung, die historischen LesesituationenLese-situation neutestamentlicher Texte präzise zu beschreiben. Auf der anderen Seite steht die weit verbreitete monosituative Verortung der LesepraxisLese-praxis als eine gottesdienstliche Verlesung der neutestamentlichen Schriften im frühen Christentum, die meist mit der Annahme einer KontinuitätKontinuität zur Praxis des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in der SynagogeSynagoge verbunden wird. Die Rede von der gottesdienstlichen Lesung läuft jedoch Gefahr, kirchengeschichtlich identifizierbare, liturgische Lesepraktiken in die neutestamentliche Zeit hineinzuprojizieren. Denn liturgische Lektionen neutestamentlicher Texte sind, so der Stand in der liturgiewissenschaftlichenLiturgiewissenschaft Forschung, frühestens ab dem 3. Jh. bezeugt. In den ostsyrischen KirchenKirche wird die Praxis liturgischer Lesungen vor der Feier der Eucharistie sogar erst im frühen 5. Jh. übernommen.4

Die frühchristliche LesepraxisLese-praxis und der LeseaktLese-akt selbst stehen nur selten im Zentrum des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses in der neutestamentlichen Forschung. Es ist bezeichnend, dass im ThWNT der Artikel zu ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω (32mal im NT belegt; 65mal in der LXXAT/HB/LXX)/ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις (dreimal im NT/viermal in der LXX) nicht einmal eine Seite lang ist (und den Befund unzulässig verkürzt darstellt),5 dagegen aber z.B. der Artikel zum Verb κηρύσσω (61mal im NT belegt; 32mal in der LXX) 19 Seiten umfasst.6 Hinzu kommt, dass sich weder im Reallexikon für Antike und ChristentumChristentum (RAC), noch im Handwörterbuch RGG4, noch in der TRE ein Artikel zum Stichwort „lesen“ o. ä. findet.7 Dies lässt mutmaßen, dass Lesen eine Selbstverständlichkeit ist, die wegen der eigenen LeseerfahrungLese-erfahrung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unmittelbar evident zu sein scheint; ein notwendiger, aber sonst wenig interessanter Prozess, um die Botschaft des Textes zu Gehör zu bringen. Doch die Frage nach dem Lesen im frühen Christentum ist eben nicht nur eine technische Frage. Ein genaueres Wissen über das Lesen im frühen Christentum hat Implikationen für wichtige Forschungsfelder der neutestamentlichen Wissenschaft, wie etwa:

 die Kommunikationsbeziehungen zwischen Paulus und seinen GemeindenGemeinde und zwischen den Gemeinden untereinander;

 die frühchristliche Ritualgeschichte (also die Frage nach der Entstehung und Vorgeschichte des christlichen Gottesdienstes und von Liturgien);

 die rezeptive Arbeitsweise der AutorenAutor/Verfasser der neutestamentlichen Texte und damit z.B. auch für das Synoptische Problem;

 in methodischer Hinsicht für die Diskussion um formgeschichtlicheFormgeschichte Einordnungen der neutestamentlichen Texte sowie v. a. für die Diskussion um die Anwendbarkeit moderner literaturwissenschaftlicher Methoden und Theorien auf die neutestamentlichen Texte usw.;

 Modelle zur Konzeptualisierung der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon.

Die Frage nach dem Lesen im frühen ChristentumChristentum ist zuletzt aber gerade auch von hermeneutischer und theologischerTheologie Bedeutung, da Heilige SchriftenHeilige Schrift(en) bzw. als offenbarte und schriftgewordene Worte GottesGott interpretierte Texte schlicht und einfach zuallererst gelesen werden müssen.8

Das Ziel dieser Studie liegt darin, Lesen im frühen ChristentumChristentum im Horizont der antiken LesekulturLese-kultur zu untersuchen und damit ein neues Forschungsfeld für die neutestamentliche ExegeseExegese zu erschließen. Dabei ist im Folgenden zunächst herauszuarbeiten, inwiefern die existierenden Ansätze in der neutestamentlichen Forschung, die das Phänomen Lesen im frühen Christentum beschreiben, von einer Debatte in den Altertumswissenschaften beeinflusst und von einem problematischen Grundnarrativ geprägt sind. Dieses Grundnarrativ lässt sich komplexitätsreduziert wie folgt reformulieren:

a) Da BücherBuch in der Antike teuer waren, konnten sich nur wenige Menschen Bücher leisten und damit lesen. b) Texte wurden grundsätzlich „lautLautstärkelaut“ vorgelesen. Und zwar weil man c) Texte in scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht „leiseLautstärkeleise“ lesen konnte und d) die LiteralitätsrateLiteralität/Illiteralität in der Antike insgesamt, und im frühen Christentum insbesondere, äußerst gering war. Daraus wird geschlussfolgert: Die neutestamentlichen Schriften seien für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt bestimmt gewesen. Dieses Narrativ setzt nicht nur ein problematisch gewordenes, auf das 19. Jh. zurückführbares Modell des frühen Christentums „als überwiegend ökonomischer, literarischer und bildungsmäßiger Unterschicht“9 voraus. Vielmehr unterstellt das Narrativ auch, dass Lesen in Antike und frühem Christentum ein rein auditivesauditiv Phänomen war, gegenüber dem gesprochenen Wort nur eine sekundäre Rolle spielte bzw. eine Hilfsfunktion hatte und von der heutigen Lesekultur fundamental zu unterscheiden ist. Im Sinne eines umfassenderen Verständnisses, das insb. auch den direkten Zugang zum SchriftmediumLese-medium einschließt, habe Lesen nur eine marginale Rolle gespielt. Ein gutes Beispiel für die aus diesem Narrativ folgende Marginalisierung und funktionale Unterordnung des Phänomens „Lesen“ ist das 2017 erschienene Dictionary of the Bible and Ancient Media.10 Es enthält zwei lange Artikel zu den Stichworten „Performance Criticism (Biblical)“Biblical Performance Criticism und „Performance of the Gospel (in antiquity)“ (insg. zehn Seiten), aber nur eine halbe Seite zum Stichwort „Reading culture“ und keinen Eintrag zum Stichwort „Reading“.

Demgegenüber wird in dieser Studie anhand einer umfassenden Auswertung der Quellen herauszuarbeiten sein, dass Lesen in der Antike deutlich differenzierter zu beschreiben ist und auch als ein elaboriertes und eigenständiges Phänomen wahrgenommen wurde. Für die Schriften des antiken JudentumsJudentum und des antiken ChristentumsChristentum wird zu zeigen sein, dass die anvisierte Rezeptionssituation nicht generell auf den Modus des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in einer Gruppe reduziert werden kann, sondern sich auch andere Formen der anvisierten Rezeptionsweise eindeutig nachweisen lassen. Im ersten Kapitel ist zunächst der Forschungsstand zu diskutieren. Dabei wird in einem ersten Schritt der Forschungsstand zum Lesen im frühen Christentum behandelt, in einem zweiten Schritt ist die altertumswissenschaftliche Debatte um das „lauteLautstärkelaut“ und „leiseLautstärkeleise“ Lesen in der Antike zu problematisieren, und in einem dritten Schritt werden die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung systematisiert. Davon ausgehend werden unter 1.4 und 1.5 die Fragestellung und der Forschungsansatz sowie das methodische Vorgehen der vorliegenden Studie erläutert.

Lesen in Antike und frühem Christentum

Подняться наверх