Читать книгу Ein Zimmer ohne Aussicht - Jan Holmes - Страница 11
ОглавлениеKapitel Sieben (außen)
Ein Bürger des Dorfes, der sich für fürsorglich hielt, hatte es für seine Pflicht gehalten, die Behörden darüber zu informieren, dass auf dem Schiefer-Hof, oder dem »schiefen Hof«, wie er jetzt allgemein genannt wurde, etwas nicht stimmen konnte. Natürlich sollte sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, das war klar, aber immerhin ging es hier um das Wohlergehen zweier Kinder, die auf dem Hof wohnten und für deren Unversehrtheit das Amt schließlich Sorge tragen musste, oder etwa nicht?
»Was sagen Sie zu dem Fall der Schiefer-Kinder?«, sagte der Mann in der wöchentlichen Sprechstunde des Bürgerbüros zum diensthabenden Beamten.
»Was meinen Sie?«
»Haben Sie meine Nachricht von letzter Woche nicht gelesen?«
Der Angesprochene erinnerte sich, schob einige Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen und nickte langsam.
»Doch, aber ich sehe noch keinen Handlungsbedarf.«
»Wann wird der denn gegeben sein?«
Der Beamte zuckte mit den Schultern und runzelte die Stirn. Ihm gefiel es nicht, wie ihn sein Gegenüber zu einer Handlung zu drängen versuchte. Es bestand tatsächlich keinerlei Handhabe. Alles, was dazu hätte führen können, dass die Behörden eingriffen, hätte eines konkreten Anfangsverdachtes bedurft, aber die geäußerte Mutmaßung fußte nicht auf Tatsachen, sondern auf dem Geschwätz ein paar Betrunkener. So sah er das.
»Was sind die Tatsachen? Gibt es Anhaltspunkte, dass es den Kindern nicht gut geht, dass sie vernachlässigt werden? Irgendetwas Konkretes?«
»Sie haben ihren Vater verloren …«, sagte der Mann mit einer Geste, die bedeuten sollte, dass damit alles gesagt war.
»Das haben viele andere Kinder auch, trotzdem gibt es keinen Anlass für einen Eingriff der Behörden. Von einer Einweisung in ein Heim kann schon gar nicht die Rede sein.«
»Sie müssten die Leute mal hören.«
Der Beamte sah auf seine Papiere, die keiner weiteren Ordnung bedurften, obwohl er sie immer wieder verrückte und neu anordnete, und deutete ein Lächeln an, das seinen spöttischen Ton unterstrich.
»Genau das ist das Problem, die Leute reden, wissen aber nichts.«
Er sah dem besorgten Mann direkt in die Augen und wusste bereits, was kommen musste.
»Haben Sie sich mal angesehen, wie die dort oben leben? Wissen Sie, was Jakob wirklich passiert ist?«
Die Gerüchte waren allgemein bekannt, neben der obskuren Mordtheorie ging es jetzt auch um den Hof, der nicht mehr richtig bewirtschaftet wurde, es ging um das fehlende Einkommen, das es der Mutter angeblich unmöglich machen würde, für ihre Kinder zu sorgen. Trotz allem ließ sich die Entscheidung, einer Mutter ihre Kinder zu entziehen, nicht auf ein paar äußerst zweifelhaften Behauptungen aufbauen.
»Geht es den Kindern schlecht? Sind sie verwahrlost? Bekommen sie nicht genug zu essen? Werden sie misshandelt?«
»Nicht, dass ich wüsste …«, sagte der Mann, wobei seine Stimme leiser wurde. Er konnte sich offenbar nicht erklären, wie seine Fürsorge derart herzlos abgeschmettert werden konnte. Und der Beamte setzte sofort nach.
»Dann verschwenden Sie bitte nicht weiter meine Zeit. Wir können nicht aufgrund von ein paar Gerüchten tätig werden. Der Familie ist Tragisches widerfahren, trotz allem ist ihr Schicksal nicht eines, was nicht schon andere Familien geteilt und auch gemeistert hätten, ohne dass man die Kinder von ihrer Mutter getrennt hat. Was glauben sie, wie traumatisiert die Kinder werden, wenn wir sie ohne Anlass aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen?«
Daraufhin gab es keine Antwort mehr. Der Beamte lehnte sich zurück und überdachte den Fall, spielte sogar kurz mit dem Gedanken, einen Mitarbeiter zum Hof zu schicken und die Lage selbst in Augenschein zu nehmen, entschied sich aber im selben Moment dagegen, er wollte die Wellen nicht noch höher schlagen lassen. Wenn das Dorf erführe, dass das Jugendamt jemanden zum Hof schickte, würden sich alle Befürchtungen in den Köpfen der Bewohner sofort bestätigt haben. Wenn das Jugendamt nach dem Rechten sah, musste ja etwas nicht stimmen! So konnte schnell die Situation provoziert werden, die es eigentlich zu beweisen galt. Aber was wäre, wenn tatsächlich etwas nicht stimmte und sich die Behörde vorwerfen lassen musste, nichts unternommen zu haben, sollte tatsächlich Schlimmeres passieren? Er beschloss, den Pfarrer des Dorfes ein wenig über die Familie auszufragen, so würde er vielleicht einen neutraleren Blick für die Situation bekommen, ohne direkt Dreck aufzuwühlen, der die Dinge nur noch verkomplizieren und ihm auch nicht garantieren würde, dass er dann objektivere Einsichten erhielt.
Der Bürger drehte sich beim Verlassen des Büros noch einmal um, den Hut in der Hand stand er da, auf verlorenem Posten aber mit noch einer Karte in der Hinterhand. Er startete einen letzten Anlauf: »Und was ist mit dem Kindergarten? Das Mädchen müsste lange im Kindergarten sein, dafür muss man doch sorgen!«
Er erntete jedoch nur ein Kopfschütteln, ein mitleidiges dieses Mal, aber das Mitleid galt ihm und seinem verzweifelten finalen Versuch und nicht den angeblich vernachlässigten Kindern.
»Da gibt es nichts zu sorgen. Wenn die Eltern, oder in diesem Fall die Mutter, es nicht für nötig befindet, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken, können wir da auch nichts tun. Es gibt eine Schulpflicht, für den Kindergarten existiert etwas Vergleichbares allerdings nicht.«
Der Bürger nickte resigniert, blickte zu Boden, zögerte kurz, als wollte er noch etwas hinzufügen, überlegte es sich dann aber doch anders. Er hob die Hand zum Gruß und verließ das Büro, der Beamte war froh, diese unerfreuliche Situation endlich beendet zu haben.
Der Pfarrer Wilhelm Landhofer erhielt noch in derselben Woche einen Anruf von einem Mitarbeiter des Jugendamtes und wurde gebeten, eine Einschätzung der Lage abzugeben. Der Beamte ließ sich die Verschwiegenheit des Pfarrers zusichern und fragte nach dem Wohlergehen der Kinder, Frieda und Bruno Schiefer, die Gerüchten zufolge auf dem Hof ihrer Mutter nicht in ausreichendem Maße versorgt seien. Aber der Pfarrer sah sich außerstande, das Gerede zu bestätigen, das auch ihm schon zu Ohren gekommen war. Im Gegenteil, er wusste nichts Negatives über die Familie zu berichten und bemühte sich nach bestem Wissen und Gewissen, die Gerüchte zu entkräften. Der Beamte gab sich zufrieden, aber jetzt war der sprichwörtliche Schwarze Peter weitergegeben, und nun machte der Pfarrer sich Gedanken darüber, was passieren würde, wenn seine Einschätzung nicht der Realität entsprach und die Kinder wirklich Hilfe benötigten. Schließlich sah er die beiden, wie auch ihre Mutter, nur ungefähr eine Stunde in der Woche und dann unter Umständen, die eine genaue Einschätzung der Lage nicht wirklich zuließen. Er beschloss, dem Hof in der nächsten Zeit einen Besuch abzustatten und selbst nach dem Rechten zu sehen. Als Mitglieder seiner Gemeinde und regelmäßige Kirchgänger würden sie sicher keinen Verdacht schöpfen, wenn er sie als ihr Seelsorger besuchte und sich infolge des tragischen Unglücksfalles nach ihnen erkundigte.
Im »Löwen« war die Meinung, dass es auf dem Hof nicht mit rechten Dingen zuging, zwar weit verbreitet, man sah Eva Schiefer mit Zurückhaltung an, misstraute ihrer Abkehr vom Leben im Dorf und ihre Zurückgezogenheit, trotzdem bestand keine Einigkeit darüber, dass man einschreiten müsse.
»Was geht uns das an? Lass sie doch machen, was sie will, die wird schon klarkommen.«
Gustav war sich seiner Einschätzung der Dinge sicher, aber Walter hatte eine andere Auffassung:
»Wir im Dorf haben uns schon immer beigestanden, und wenn da was nicht stimmt, müssen wir uns einmischen!«
Er schlug zur Bekräftigung seiner Worte auf den Tisch und sah herausfordernd in die Runde. Sein Bruder gab ihm recht: »Ganz genau. Wo wären wir denn, wenn wir nicht zusammenhalten würden?«
»Zusammenhalten, schön und gut, aber einfach so einmischen geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Was würdest du sagen, wenn ich morgen bei dir in der Küche stünde und sagen würde: Hier müsste mal wieder geputzt werden?«
»Ich würde dir den Besen in die Hand drücken.«
Die Runde lachte, das Thema war vorerst abgeschlossen, aber noch lange nicht erledigt, jeder hing noch seinen Gedanken nach, und es dauerte eine ganze Weile, bis jemand ein anderes Problem ansprach und sich die Gruppe wieder geschlossen an der aufflammenden Diskussion beteiligte.