Читать книгу Ein Zimmer ohne Aussicht - Jan Holmes - Страница 6

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Kapitel Zwei (innen)

Meine erste Erinnerung reicht zurück in die Zeit, als mein Vater noch lebte. Ich habe kein klares Bild mehr von ihm, er ähnelt mehr einer Erscheinung, einer Person, die anwesend war, an die ich mich aber nicht im Detail erinnern kann. Später ist dieses Gefühl der Präsenz angereichert worden durch einige wenige alte Fotos, die von meinem Vater existierten, aber diese Fotos zeigen Momentaufnahmen von Situationen, es sind Ausschnitte aus einer vergangenen Zeit, von der ich kein Teil war. Außerdem sind es Standbilder, es wird nicht gesprochen, man hört niemandes Stimme, man fühlt nicht die Umgebung, das Wetter, die Sonne oder den Regen, die Bilder sind stumm und können nur denjenigen etwas bedeuten, die anwesend waren, da sie die fehlenden Details in ihrem Kopf aufzufüllen in der Lage sind und so das Foto lebendig machen. Diese Möglichkeit habe ich nicht, daher bin ich auf das angewiesen, was in meinem Kopf vorhanden ist, und das ist sehr wenig. Die einzige Situation, an die ich mich tatsächlich erinnere, war kurz und flüchtig, aber ich habe sie bewahrt wie einen Schatz, ich weiß nicht, warum. Heute kommt sie mir eher wie ein Traum vor, und ich habe keine Möglichkeit zu erkennen, ob ich wirklich träumte, es gibt niemanden, den ich fragen könnte, ob sich alles so abgespielt hat, aber das ist auch nicht mehr wichtig. Mein Vater weckte mich eines Nachts, er kam offenbar von der Arbeit auf dem Land spät ins Haus und zeigte mir irgendetwas. Ich kann nur noch dieses Gefühl zurückrufen, das ich damals hatte, ich weiß nicht, wo ich schlief und was in der Folge passierte, mir ist nur noch bewusst, dass er es war, der mich weckte, was sonst wahrscheinlich nicht vorkam. Oder es war der Umstand, der Grund, der ihn zu mir geführt hatte, denn in seiner Hand hielt er etwas, das ich nicht erkannte, es war klein und zitterte, und als er es mir in meine Hände gab, erschrak ich zunächst und wusste nichts damit anzufangen. Mit einer unendlichen Zärtlichkeit streichelte er das Knäuel und meine Hand und sagte mir, dass es sich um ein Kaninchen handele. Ich kann mich erst an eine Zeit sehr viel später erinnern und daran, wie wir Kaninchen in einem kleinen Stall neben der Scheune hielten, um die wir uns kümmerten, aber der Traum davon, wie mein Vater mir die Verantwortung für die kleinen Geschöpfe in dieser Nacht buchstäblich in die Hand legte, bleibt unauslöschlich. Diese erste ist leider auch meine letzte Erinnerung an meinen lebendigen Vater, denn nicht viel später ereignete sich der tragische Unfall, der ihn das Leben kostete, so erzählte man mir nach Jahren.

Mein Zuhause und meine Heimat waren immer unser Hof. Er und die Menschen, die dort lebten, bildeten meine ganze Welt, denn wir verließen das Gehöft fast nie. In der Nähe gab es ein kleines Dorf, das wir selten besuchten, unsere Mutter fuhr einmal in der Woche zum Markt, aber wir blieben in dieser Zeit zu Hause. Sonntags gingen wir in die Kirche und später wochentags in die Schule, aber bis dahin war der Hof alles, was wir kannten. Auch kam uns selten jemand besuchen. Ich lernte erst später, dass das früher anders gewesen war, dass unser Vater derjenige war, der Freunde und Bekannte hatte und diese nach Hause einlud, ich bekam aber auch mit, dass unsere Mutter nichts davon hielt, sodass die Besuche nach seinem Tod schnell aufhörten. Das war mehr darauf zurückzuführen, dass Mutter die Besucher vehement abwehrte, als dass niemand mehr hätte kommen mögen, aber auch das erfuhr ich erst sehr viel später. Von den Personen, die uns, wenn auch selten, weiterhin besuchten, kann ich mich an den Pfarrer erinnern und einen Arzt, der Tiere und Menschen gleichermaßen zu behandeln schien, ob mit denselben Geräten und Medikamenten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Zu unserer kleinen Welt gehörten außer mir und meiner Mutter noch zwei weitere Frauen, viel später sogar drei. In den ersten Jahren waren da noch meine ältere Schwester und meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, die in einer kleinen Wohnung mit eigenem Eingang lebte, die aber im Wohnhaus lag und durch eine Verbindungstür vom Hausflur aus erreicht werden konnte. Von diesem Flur führte auch eine Treppe nach oben, die mit einer Unzahl von Teppichen belegt war, die im Laufe der Zeit Farbe und Muster eingebüßt hatten, da es trotz aller Vorsicht nie möglich war, den Dreck des Hofes vollständig draußen zu lassen. Die Einrichtung des ganzen Hauses kann ich erst mit der Distanz meines heutigen Blickes beschreiben, denn damals war für mich alles ganz normal, da ich keine Möglichkeit hatte, Vergleiche zu ziehen. Ich hatte nie andere Häuser von innen gesehen, wusste nicht, wie es bei anderen Leuten aussah und wie man ein Haus anders hätte einrichten können, als es bei uns der Fall war. Heute würde ich die Einrichtung mit einem Wort zusammenfassen: staubig. Da der Hof seit Generationen von unserer Familie, die mit meinem Jahrgang auszusterben schien, bewohnt wurde, hatten sich auch die Geschichten und Geschicke dieser Generationen im Haus versammelt und wohnten dort gleichermaßen mit uns zusammen. Aus der Distanz betrachtet konnte man den Eindruck gewinnen, als hätte jede Person, die jemals in diesen Wänden gewohnt hatte, etwas hinterlassen, etwas hinzugefügt, aber nie etwas entfernt, aus Respekt vor denen, die vor ihr dasselbe getan hatten. So waren die Wände bedeckt mit Bildern von Gebirgsansichten in schweren Holzrahmen und Heiligenbildern, billigen Reproduktionen von Ikonen, oder kleinen Zetteln mit frommen Motiven. Mir wurde erst viel später klar, dass diese Zettel, die man auch in den Gesangbüchern fand, Totenzettel waren, die meine Mutter »Leitbilder« nannte. Ich nahm wahrscheinlich an, dass die Abbildungen uns zu einem rechten Lebenswandel anleiten sollten, und erst in meiner Schulzeit fand ich heraus, dass es sich um »Leidbilder« handelte. So bedeutete jeder dieser Zettel eine verstorbene Person, deren Totenmesse jemand aus der Familie besucht hatte und der jetzt neben gusseisernen Kerzenhaltern unsere Wände zierte. Abgesehen vom Wandschmuck stellten auch die Möbel eine Ansammlung der Anschaffungen mehrerer Generationen dar, alles wurde weitervererbt, ab und zu kam ein weiteres Stück dazu, das uns von jemandem hinterlassen wurde. Soweit ich weiß, wurden von meiner Mutter nie neue Möbel gekauft, sodass die gesamte Einrichtung des Hauses alt, dunkel und schwer in den Zimmern lastete wie düstere, unbewegliche Tiere, und eine Mode widerspiegelte, die seit Urzeiten nicht mehr aktuell war, außer bei uns. Was außerdem zu dem unreinlichen Eindruck beitrug, war die schiere Masse an Zimmern, die unser Haus aufwies und die nach und nach immer weniger genutzt wurden und hoffnungslos verstaubten. Solange meine Großmutter noch laufen konnte, machte sie es sich zur Aufgabe, alles in Ordnung zu halten, völlig egal, ob die Zimmer genutzt wurden oder nicht, wie in ständiger Erwartung unangekündigten Besuches. Aber seit sie die Treppen nicht mehr steigen konnte, war das obere Stockwerk dem Schmutz anheimgefallen, und je mehr sie sich in ihre kleine Wohnung zurückzog, desto mehr folgte ihr der Staub herunter in das Erdgeschoss, so als hätte er darauf gewartet, dass sich sein größter Widersacher geschlagen geben würde. Später würde jemand anderes den Kampf gegen den Dreck aufnehmen, dafür aber ganz andere Sachen ins Haus tragen.

Was ist eine »Heile Welt«? Eine Welt, in der alles heil ist oder geheilt? Eine Welt, in der es keine Schmerzen gibt, keine Widerstände, nur Glück und Wohlergehen? Eine Welt, in der es noch nicht einmal das Wissen um Schmerzen gibt? So etwas ist unmöglich, immer gibt es Schmerzen, Enttäuschungen, Verbote und, dadurch angeregt, dunkle Ahnungen. Gäbe es eine heile Welt, dürfte es keine Schmerzen geben, aber auch keine Verbote, denn diese regen die Fantasie an. Warum darf ich das nicht, warum ist das nicht gut, sondern böse, unrein oder sogar sündig? Und trotzdem gibt es die Illusion der heilen Welt, die sich in der Vorstellung zwangsläufig immer weiter zusammenzieht, um Bestand haben zu können. Sie schrumpft, verkleinert und reduziert sich auf immer weniger Menschen, die an ihr teilhaben dürfen. So sollte die Familie die kleinste, heile Welt sein, ein Schutz gegen dunkle Einflüsse von außen. Innerhalb dieser Welt, die alles Böse außen vor lässt, gäbe es dann keine Verfehlungen, keine Sünde mehr. Und tatsächlich ist es das, was wir auf unserem Hof erlebten, eine kleine, reine Welt in der großen, bösen Welt, die wir davon abhielten, zu uns einzudringen. Das ging natürlich nur so lange gut, wie wir der Kontrolle unserer Mutter unterstanden, die unser einziger Einfluss war, bis wir schließlich doch hinaus sollten und Kräften ausgesetzt waren, deren Auswirkungen sie später wieder richten musste, gegen die sie kämpfte, um den Schutz aufrechtzuerhalten, den sie uns bisher geboten hatte. Musste dieser Plan scheitern? Ist er überhaupt gescheitert? Oder tat sie recht daran, uns auf die Art zu schützen, wie sie es tat? Aber wenn eine heile Welt eine ist, in der man sich geborgen fühlt und in der man keine Angst zu haben braucht vor dem, was von außen auf uns hereinzustürmen droht, lebten wir in einer solchen Welt. Was innerhalb dieser Welt passierte, mag nach objektiven Maßstäben, juristischen wie moralischen, anders bewertet werden, aber ist etwas schlecht, wenn es nicht schadet, wenn alle Betroffenen gar nicht betroffen sind, sondern zufrieden in der Gewissheit, dass der beste Weg gefunden wurde, um heil zu bleiben und geheilt zu werden, wo man fehlging?

So gesehen lebten wir damals in einer heilen Welt. Das vollständige Bild aber sieht immer anders aus als die Innenansicht, ein Wechsel der Perspektive bringt zwangsläufig Dinge ans Licht, die anders sind, als es den Anschein hatte. Aber diese neue Perspektive würde lange auf sich warten lassen.

Ein Zimmer ohne Aussicht

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