Читать книгу Ein Zimmer ohne Aussicht - Jan Holmes - Страница 9
ОглавлениеKapitel Fünf (außen)
Im Dorf dauerte es nicht lange, bis man verstanden hatte, was der Tod von Jakob Schiefer bedeuten würde. Er hatte zwar nur »eingeheiratet«, sein Einfluss war es aber, der den Hof hatte florieren lassen, und entgegen der Tradition übernahm seine Frau wie auch der Hof, den ihre Familie seit Generationen bewirtschaftet hatte, seinen Namen. Ihre Familie lebte vormals sehr zurückgezogen, doch mit der Hochzeit sollte sich das ändern, es war Jakob, der Verbindungen mitbrachte, Freundschaften und eine große Verwandtschaft, die er nicht müde wurde, auf den Hof einzuladen, sie aber auch in Anspruch zu nehmen, wenn Hilfe benötigt wurde. Diesen Verbindungen ist es zuzuschreiben, dass der Hof zum ersten Mal seit seinem Bestehen Gewinn abwarf, der nicht nur gerade dazu ausreichte, die Familie zu ernähren. Es konnten neue Maschinen angeschafft werden, mehr Tiere, modernere Fütterungsanlagen, und sogar ein Teil des Waldes sollte abgeholzt werden, um Platz zu schaffen für weitere Felder. Dazu sollte es nach Jakobs Tod nicht mehr kommen, und auch andere Veränderungen standen an. Es wurde nur zu schnell klar, dass Eva keine Schiefer war, sondern mit ihrem Gemüt immer noch der Familie Kluth angehörte, zu deren Art und Weisen sie zurückkehrte, sobald ihr Mann sie auf diese schreckliche Weise zu früh verlassen hatte. Die Gesellschaften auf dem Schiefer-Hof hörten auf, die Verwandtschaft kam nur noch selten und stellte die Besuche irgendwann ganz ein, als sie merkten, dass sie nicht mehr willkommen waren. Der Hof und seine Geschicke hatten unter Jakobs Leitung ein buntes Kapitel in der Geschichte der Familie Schiefer aufgeschlagen, das leider nur zu schnell wieder geschlossen wurde, jetzt gewann die Familie Kluth wieder die Oberhand. Und obwohl Eva ihren Namen nie wieder änderte, war es, als hätte sie es getan, denn mit dem Ablegen und Zurückweisen all dessen, was Jakob begonnen hatte, war es gleichsam, als hätte er nie existiert. Es gab nicht wenige, die den Verfall des Hofes insgeheim mit leichter Schadenfreude betrachteten, Mitleid war ihnen fremd.
Eva Schiefer erlebte den Zerfall ihrer Kontakte zunächst mit gemischten Gefühlen, aber schnell war ihr klar, dass es der Familie ihres Mannes nie um ihre Person gegangen war, sondern immer nur um den Hof. Wäre sie wirklich eine Schiefer geworden, würden ihre Verwandten ihre Entscheidungen nicht nur billigen, sondern sie auch mittragen. So aber wurde sie verlassen, zurückgelassen mit den Kindern und einer Schwiegermutter. Gerade der Umstand, dass die Mutter weiter bei ihr wohnen bleiben sollte, da ihre alte Wohnung bereits aufgelöst worden war und sie ja genug Platz hatte, wie die Verwandten nicht müde wurden, ihr klarzumachen, schürte ihren Hass nicht nur gegen die Familie, sondern auch gegen die Mutter ihres Mannes, die an den Ereignissen ebenso wenig wie sie selbst Schuld trug. Aber genau das war eben nicht allen klar, speziell die Familienangehörigen, die Eva verdächtigten, beim vermeintlichen Unfall ihres Mannes etwas nachgeholfen zu haben, empfanden es als gerechte Strafe, dass sie sich jetzt um seine Mutter kümmern musste. Diese sahen sie als Moralinstanz an, als letztes Bollwerk der echten Schiefers auf dem Hof, der jetzt ihren Namen trug, die letzte, die die Ordnung aufrechterhalten würde.
Eine Weile gab es noch Besuche, aber schnell hörten diese auf, nur Onkel Ernst machte dem Hof länger Aufwartungen und blieb auch noch, als die anderen sich bereits nicht mehr sehen ließen. Er gab vor, sich um seine Mutter kümmern zu wollen, obwohl diese anfangs noch rüstig genug war, um nicht nur für sich selbst zu sorgen, sondern auch noch auf dem Hof auszuhelfen. Doch schnell wurde klar, dass die alte Frau krank war und über kurz oder lang keine Hilfe mehr sein konnte, sondern eine Last werden würde. Diese allzu bekannte »Neuigkeit« trug Ernst den Verwandten zu, die sich in ihrer Entscheidung bestärkt sahen, Eva als Gegenleistung für das, was Jakob für den Hof geleistet hatte, die Pflege der Mutter zu übertragen. Als es erst so weit war, dass Eva den Hof nicht mehr richtig bewirtschaften konnte, einige Tiere starben und später Maschinen und Gebäude verfielen, mochte niemand mehr seine Entscheidung zurückzunehmen, im Gegenteil, man sah Eva in der Schuld, und schnell wurde der Schiefer-Hof bei den Stammtischgesprächen zum »schiefen Hof«, den niemand mehr besuchen mochte.
Im »Goldenen Löwen« kam nicht selten die Rede auf den Hof, und einmal war auch Ernst anwesend. Nach dem Gespräch dieses Abends, an das der Wirt sich noch Jahre später erinnerte, blieb er allerdings weg, und es gab einige Spekulationen, was der Grund dafür sein mochte. An diesem Tag war auch der Pfarrer des Dorfes, Wilhelm Landhofer, im »Goldenen Löwen«, allerdings hielt er sich dem Stammtisch fern. Seine Haushälterin war krank geworden, und so war der Löwe die einzige Möglichkeit, abends noch etwas zu essen zu bekommen. Der Pfarrer saß einige Tische entfernt von der üblichen Runde, der die Reinbacher-Brüder ebenso angehörten wie Gustav Pesch, bereits erwähnter Ernst Schiefer und zwei weitere Bewohner des Dorfes. Schnell kam das Gespräch auf den »schiefen Hof«, es gab wildes Gelächter und böse Bemerkungen. Der Pfarrer hörte sich die Reden einige Zeit lang an, stand dann behäbig auf und ging zum Stammtisch herüber. Seine Autorität sowie der seltene Anblick des Geistlichen in der Kneipe ließ das Gespräch schnell verstummen, man war sich im Klaren darüber, dass das Gesagte diesen Raum nicht verlassen sollte und niemand es gewagt haben würde, Eva diese Dinge ins Gesicht zu sagen, auch oder gerade, weil man sie mied und nur sonntags in der Kirche sah. Gustav blickte den Pfarrer verstohlen von unten an und stieß ihm kumpelhaft die Hand in die Seite.
»Mensch, Willi, setz dich, lass dir einen Korn bringen«, begann er, aber der Angesprochene winkte nur ab. Die Runde blickte um sich wie eine ertappte Bande von kleinen Jungs, die beim Klauen von Äpfeln erwischt worden war.
»Mit welchem Recht redet ihr eigentlich so?«, fragte er niemand Bestimmten, aber es sah auch keiner hoch, um sich zu vergewissern, wen er meinte. Als er keine Antwort erhielt, fuhr der Pfarrer fort und sprach Ernst direkt an. »Schämst du dich nicht, so über deine Schwägerin zu reden? Als Jakob noch lebte, warst du voll des Lobes und jetzt sprichst du von ihr wie von einer Aussätzigen oder Mörderin!«
Die anderen am Tisch sahen Ernst an und wussten, dass die Kritik auch sie meinte, aber sie waren nicht so dumm, sich dem Pfarrer entgegenzustellen. Der Angesprochene sah von einem zum anderen, blickte dann kurz zum Mann Gottes, senkte die Augen aber sofort wieder.
»Man weiß ja nie …«, begann Ernst, wusste aber nicht wirklich, was er damit sagen wollte.
»Was weiß man nicht? Wenn du jetzt auch davon anfangen willst, dass Eva Jakob umgebracht hat, möchte ich dir mal eine Frage stellen: Wenn du tatsächlich meinst, dass Eva eine Mörderin ist, warum lässt du dann deine Mutter bei ihr?«
Ernst wusste keine Antwort, aber der Pfarrer hatte bereits eine Erklärung: »Ich sage dir, warum: Weil du feige bist und faul dazu. Glaubst du, es weiß niemand, warum du noch immer zum Hof gehst? Doch nicht, um deine Mutter zu besuchen, und an Eva ist dir auch nichts gelegen, wenn man dich so reden hört.«
Die Runde wurde hellhörig, und Ernst sank noch etwas weiter in sich zusammen, er wollte nur, dass der Pfarrer endlich ging.
»Was?«, fragte Adi, dem jetzt klar war, dass nur noch Ernst und nicht mehr er und die anderen die Angeklagten waren, die Reden von vorhin waren vergessen, nun ging es um etwas viel Schlimmeres, Abgründigeres. Er hob entschuldigend die Hände, sah den Pfarrer an und erwartete eine Erklärung. Doch dieser hatte seine Augen nur auf Ernst gerichtet, sein Blick glühte vor Zorn.
»Ich sage dir eins, Ernst, ich wohne jetzt schon sehr lange hier, und ich höre viel. Wenn ich nur die Hälfte von dem glauben soll, was ich über dich gehört habe, dann gebe ich dir nur einen Rat mit: Wenn mir zu Ohren kommt, dass da oben irgendetwas passiert, dann wirst du dich nicht mehr nur vor Gott zu verantworten haben. Ich erwarte dich am Sonntag zur Beichte.«
So hatte den Pfarrer noch niemand erlebt, und es würde auch nie wieder vorkommen. Ernst blickte nicht hoch, als der Pfarrer den Tisch verließ und wieder zu seinem Abendessen herüberging. Auf dem Weg dorthin begegnete ihm einer der anderen Gäste, der gerade von der Toilette kam, er setzte zu einem Gruß an, aber der Blick des Geistlichen ließ ihn verstummen, noch bevor ein Wort seine Lippen verlassen konnte. Die anderen versuchten, zu erfahren, wovon die Rede gewesen war, aber aus Ernst war nichts herauszubringen. Er trank sein Glas aus, machte dem Wirt ein Zeichen, dass er anschreiben solle, verließ den Löwen und würde nicht mehr an den Stammtisch zurückkehren. Der Pfarrer saß an seinem Tisch, ärgerte sich über seinen Ausbruch, kaute verbissen und wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte seinen Verdacht niemals äußern und hoffte, dass seine Ansprache die gewünschte Wirkung gezeigt hatte. Ein verirrtes Schaf konnte ihm mehr Sorge bereiten als die ganze versprengte Herde.