Читать книгу Ein Zimmer ohne Aussicht - Jan Holmes - Страница 8
ОглавлениеKapitel Vier (innen)
Ich kann nicht behaupten, dass der Tod meines Vaters tatsächlich einen Verlust für mich bedeutet hat. Kann man etwas vermissen, was man nie gekannt oder gehabt hat? Mein Vater war nur eine flüchtige Erscheinung für mich, ein Geist, an den ich mich nicht wirklich erinnern kann, abgesehen von den Fotos, die ihn nicht darstellen, sondern nur abbilden, sie erzählen nichts von ihm, geben nur einen kurzen Moment wieder, nicht genug, um ihn vermissen zu können. Später in der Schule wurde mir aus den Erzählungen der anderen erst klar, was es bedeutete, einen Vater zu haben, jemanden, der die Kinder mitnahm auf Ausflüge, auf Abenteuer, der mit ihnen Baumhäuser baute oder Schiffe, die sie gemeinsam in den Bächen im Wald schwimmen ließen. Auch bei uns gab es Abenteuer, aber niemanden, der diese mit uns teilte, wir mussten uns unsere Umgebung selbst erobern, sofern es uns erlaubt war.
Für meine Schwester Frieda stellte sich die Sache etwas anders dar, sie ist etwas mehr als ein Jahr älter als ich und hatte unseren Vater trotz des geringen Altersunterschieds tatsächlich miterlebt. Wenn ich ihren Erzählungen Glauben schenken darf, kannte sie ihn, konnte sich in bewegten Bildern an ihn erinnern, und von dem, was sie mir erzählte, waren das nicht nur positive Erfahrungen. »Du weißt nicht, wie er war«, sagte sie manchmal, oder auch: »Du hast keine Ahnung, wie er sein konnte, wenn er getrunken hatte.« Das stimmte, ich hatte wirklich keine Ahnung, und da ich keinen Anlass hatte, meiner Schwester zu misstrauen, fehlte mir auch ein Grund, die Abwesenheit dieses Vaters zu bedauern. Was übrig blieb, war unser beider Einstellung, dass wir unseren Vater nicht vermissten, ich, weil ich ihn nie gekannt hatte und keine Lücke in meinem Leben füllen musste, meine Schwester, eben weil sie ihn gekannt hatte und lieber eine Lücke akzeptieren wollte als einen Vater, den sie nicht respektierte.
Was sich für mich nach dem Tod unseres Vaters änderte, war zunächst kaum zu merken, es wandelten sich kleine Dinge, die alle damit zu tun hatten, dass unser Leben sicherer werden sollte, behüteter und geschützt vor den Gefahren, die in der Welt lauerten. Als Erstes wurde ein Zaun um die Jauchegrube errichtet, in die unser Vater gestürzt war. Zuvor hatte es eine baufällige Mauer gegeben, die etwa einen Meter hoch und an den intakten Stellen für uns Kinder nicht ohne Weiteres zu überwinden war. Aber unsere Mutter wollte sichergehen, dass nie wieder etwas passierte, und ließ den Zaun bauen. Auch durften wir nicht mehr ohne Aufsicht den Hof betreten und in der Scheune spielen. Ich war zu klein, um zu wissen, wie es vorher gewesen war, aber meine Schwester erzählte mir mehr als einmal, dass sie »in Ketten gelegt« wurde. Jedoch schien sie diese Ketten im Laufe der Jahre nicht mehr zu bemerken, vielmehr hatte sie Gefallen daran gefunden und suchte, mir die Vorzüge der Regeln und Gesetze begreiflich zu machen, die fortan für uns gelten sollten. Es schien, als hätte der Tod unseres Vaters neue Gefahren heraufbeschworen, so als hätte sich der Hof mit einem Mal verwandelt, von einem großen Spielplatz mit unzähligen Möglichkeiten von Abenteuern und Entdeckungen zu einer Todesfalle, die nur darauf wartete, zuzuschnappen. An jeder Ecke gab es Gefahren, denen wir ausgesetzt waren, es gab Geräte, an denen man sich verletzen konnte, Gruben, die einen gleichsam lockten und in ihre Tiefe zu ziehen versuchten, morsche Balken auf dem Heuboden, die bei der kleinsten Berührung zerbrechen und uns in den Tod reißen würden. Von der näheren Umgebung gar nicht zu reden, es war uns untersagt, uns außer Sichtweite des Wohnhauses zu bewegen, und das bedeutete, dass wir den Hof nicht verlassen konnten, ohne uns über dieses Verbot hinwegzusetzen.
Direkt hinter den Gebäuden begannen die Wiesen, die von Bachläufen und Reihen von Bäumen durchzogen waren. Die gesamte Landschaft ist hügelig, sodass man schon nach mehreren Metern in einer Senke zu verschwinden vermag, ohne vom Haus aus gesehen werden zu können. Weiter draußen drohte dann der Wald, dessen unaussprechliche Gefahren eine weitere Zone des Verbots darstellten, sodass wir es niemals wagen sollten, ihn ohne Begleitung zu betreten. Das Problem war, dass wir niemanden hatten, der uns begleiten würde. Unsere Mutter und ihre Schwiegermutter waren nach dem Unfall vollauf damit beschäftigt, den Hof zu bewirtschaften, und sie vermochten trotzdem über die Jahre hinweg nicht, das Nötigste zu leisten, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Krankheiten dezimierten die Tiere, Kühe und Hühner fielen zum Teil Seuchen zum Opfer, die Einkünfte reichten nicht aus, um die verendeten Tiere zu ersetzen, das Geld blieb aus. In einem Jahr wurde der Zaun beschädigt, die Kühe brachen aus, manche wurden nicht wiedergefunden und verendeten wahrscheinlich irgendwo im Wald. Die Geräte wurden schlechter, fingen an zu rosten, verrotteten und waren nicht mehr zu reparieren. In späteren Jahren, als meine Großmutter nicht mehr helfen konnte, was meine Mutter ihr still zum Vorwurf machte, wurde der Betrieb völlig eingestellt, da meine Mutter es nicht mehr schaffte, für uns, ihre Schwiegermutter und den Hof zu sorgen. Sie machte ein wenig Geld damit, einige Gerätschaften, die noch zu benutzen waren, an andere Bauern aus dem Dorf zu verkaufen, aber dann war es an der Zeit, sich nach etwas anderem umzusehen. Sie hätte es nie übers Herz gebracht, den Hof oder die Ländereien zu veräußern, sie war hier geboren und wollte hier sterben, wir sollten den Hof übernehmen und später wieder zur alten Blüte führen. Das war zumindest, was sie sich für uns und unsere Zukunft vorstellte.
Aber es würde noch Jahre dauern, bis es so weit war, zunächst erfolgte der Rückzug meiner Mutter aus dem Leben im Dorf. Eine meiner frühesten Erinnerungen an mein Leben auf dem Hof ohne unseren Vater war das sonntägliche Ritual, wenn wir in die Kirche gingen. Schon lange vorher wurden wir angezogen und mussten darauf achten, die guten Sachen für den Sonntag nicht beim Frühstück zu beschmutzen. War alles im Haus erledigt, gingen wir gemeinsam den Weg entlang ins Dorf, der für uns Kinder jedes Mal eine Ewigkeit dauerte, an den leicht ansteigenden Rückweg wagten wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zu denken. Unser Hof lag so weit abseits, dass es lange dauerte, bis wir am nächsten Gehöft vorbeikamen. Auch hier machten sich die Bewohner auf den Weg ins Tal, wir grüßten kurz und gingen dann weiter, ich wusste nicht, warum wir die Nachbarn nicht abholten und mit ihnen gemeinsam weitergingen, manches Mal schien es mir sogar, als würden wir unseren Schritt absichtlich verändern, verlangsamen oder beschleunigen, wenn die Gefahr bestand, dass wir neben den anderen Familien hergehen müssten. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum das so sein sollte, und würde erst in den folgenden Jahren erfahren, was meine Mutter dazu trieb, die anderen zu meiden.
An der Kirche angekommen, setzten wir uns in eine der hinteren Reihen, und auch hier gewann ich mit der Zeit den Eindruck, dass wir zwar geduldet waren, aber nicht zu den anderen gehörten. Wir wurden gegrüßt, freundlich, wie es schien, aber auch zurückhaltend und mit einer gewissen Distanz, die man jemandem gegenüber zeigt, dem man meint, nicht vollständig vertrauen zu können. Es hatte den Anschein, als wären wir Fremde im Dorf, Zugezogene, die nicht wirklich dazugehörten, dabei war unsere Familie seit Generationen hier ansässig, länger als viele andere, und weit davon entfernt, nur so etwas wie Touristen zu sein oder Kirchgänger, die man lediglich zu Weihnachten in der Messe sah, die keine Lieder mitsingen und das Vaterunser nicht auswendig konnten und die wir deswegen immer etwas abfällig ansahen.
Wenn es darum ging, die heilige Kommunion zu empfangen, begann der Spießrutenlauf. Unsere Mutter und Großmutter nahmen uns bei der Hand, und jedes Mal gab es ein kleines Gedränge und Geschiebe, weil jeder lieber an der Hand der Großmutter laufen wollte. Später versuchten wir bereits vor Beginn der Messe dadurch, wie wir uns in die Bank setzten, zu beeinflussen, wer mit wem gehen durfte, aber meist war es meine Mutter, die meine Hand ergriff und durch den Mittelgang der Kirche nach vorne führte, während meine Schwester mit einem Lächeln die Hand der Großmutter nahm und uns folgte. Da wir in den hinteren Bänken saßen, gingen wir oft fast als Letzte durch den Gang und betrachteten die anderen Besucher der Messe. Ich weiß nicht, ob meine Mutter uns deswegen diesen Platz aussuchte, aber der Umstand, dass wir ganz hinten in der Schlange standen, bewirkte, dass uns kaum jemand beobachten konnte. In der Messe saßen wir hinter allen anderen, und es gab nur ein paar Kinder, die sich zu uns umdrehten, von ihren Eltern aber streng ermahnt wurden und nach ein paar Maßregelungen ruhig sitzen blieben und uns in Ruhe ließen. Während wir im Mittelgang standen und langsam voran trippelten, damit meine Mutter und Großmutter die Kommunion in Empfang nehmen konnten und wir vom Pfarrer einen Segen auf die Stirn erhielten, waren die meisten der anderen Gläubigen schon wieder auf ihre Plätze zurückgekehrt, knieten auf den Bänken und beteten. Zumindest war es das, wovon ich ausging, dass sie es taten, auf jeden Fall blickten alle angestrengt auf den Rücken ihres Vordermannes oder hatten sogar die Hände vor die Augen geschlagen, der Grund dafür war mir nicht bekannt, und ich wagte nicht, meine Mutter in der Kirche danach zu fragen. Nach der Messe war ich froh, mich endlich wieder bewegen zu können, auch wenn uns jetzt der Aufstieg bevorstand, aber an der frischen Luft hatte ich meine Frage schon wieder vergessen. Und so dauerte es bis zum nächsten Sonntag, bis ich mich erneut wunderte, warum man besser beten konnte, wenn man dabei nichts sah. Auf jeden Fall waren auf diese Weise die anderen mit sich selbst beschäftigt, und ich bemerkte nur selten einen verstohlenen Seitenblick auf uns, der schnell wieder abgewandt wurde, sobald ich ihn erwiderte. Ich konnte aber nicht deuten, ob dieses Verhalten damit zu tun hatte, dass man beim Beten eigentlich niemanden ansehen sollte, oder ob es an uns lag, dass diese Blicke so kurz und verstohlen schienen.
Diese Zeit, in der mein Bewusstsein erwachte und meine Erinnerung dauerhaft einsetzte, war eine seltsam prägende Phase für mich, die mir aber nie sonderbar vorkam, denn ich hatte es ja nie anders erfahren, zumindest nicht bewusst. Meine Schwester unterschied sich in dieser Hinsicht von mir, sie war mir ein gutes Jahr voraus und hatte Zeiten erlebt, in denen sie frei, ungebunden und ohne Kontrolle auf dem Hof herumlaufen konnte, Zeiten, in denen wir in der Kirche vorne saßen oder in denen uns Leute auf dem Hof, auf dem noch Tiere gehalten wurden, besuchen kamen. Ich bin mir heute sicher, dass der Umschwung, den der Tod unseres Vaters für uns alle bedeutete, sie am härtesten traf und in ihr eine Änderung hervorbrachte, die sie zu Anfang stärker rebellieren ließ als mich, der die Veränderung kaum mitbekommen hatte, in der späteren Zeit aber umso gefügiger machte, was die Wünsche unserer Mutter anging. Ich weiß nicht, wie es passierte, vermute aber, dass Frieda ihren Hass auf unseren Vater projizieren konnte, um ihn so zu kanalisieren und letztendlich loszuwerden. Ich glaube tatsächlich, dass sie davon überzeugt war und auch heute noch ist, dass sie richtig handelte und dass die Einflüsse und das Äußere, alles das, was nicht zur Familie gehört, tatsächlich das ist, was sich im Unrecht befindet. Ich glaube auch, dass sie erfolgreich gegen das ankämpfen konnte, was sie aus früheren Zeiten kannte, als Vater noch lebte. So wie sie ihn mir gegenüber dargestellt hat, war er für sie das Tor zu einer vergifteten Freiheit, zu Dingen, die Spaß machen konnten, die man aber früher oder später zu bereuen hatte und die deswegen nicht gut waren. Und er als der Versucher und Verführer, als derjenige, der diese Dinge möglich machte, war deswegen ein nur zu leichtes Ziel für ihren Hass und die Abscheu, die sie zeigte, wenn sie später von ihm sprach. Aber über das, was in meiner Schwester vorging, kann ich nur spekulieren, ich weiß lediglich, dass all das, woran ich mich bewusst erinnere, für mich eine gottgegebene Natürlichkeit besaß. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anlass, an irgendetwas zu zweifeln, was in unserer Familie und darum herum vorging, es sollte noch Jahre dauern, bis die ersten Splitter in meinen Geist getrieben wurden, die ich nicht so einfach würde entfernen können.
Die Kirchenbesuche waren in dieser Zeit die einzigen Gelegenheiten, den Hof zu verlassen und andere Menschen zu treffen, wobei sich das Treffen darauf beschränkte, dass wir die anderen sahen und wahrnahmen, sie beobachteten, einschätzten und, basierend auf dem, was wir zu Hause praktizierten und lernten, auch bewerteten, aber ein wirklicher Kontakt fand nicht statt. Nach der Messe verließen wir aufgrund unseres Sitzplatzes oft als Erste die Kirche und machten uns sofort auf den Weg nach Hause, sodass wir keine Gelegenheit hatten, mit jemand anderem zu sprechen oder sogar zu spielen. Es gab einige Nachbarn mit älteren Kindern, die einen schnelleren Schritt hatten, und so kam es vor, dass uns ein paar Familien auf dem Weg zu unserem Hof überholten. Sie grüßten, wir grüßten zurück, man wünschte sich einen schönen Sonntag oder, je nach Anlass, schöne Feiertage, meine Großmutter wechselte vielleicht noch ein paar Worte über das Wetter oder die Ernte, aber damit war die Unterhaltung schon erschöpft, die anderen gingen weiter, wir sahen ihnen nach und dachten nicht weiter an sie. Zurück auf dem Hof war die größte Erleichterung, sich aus den sauberen Sonntagssachen herausschälen zu können. Mit ihnen wäre es unmöglich gewesen, zu spielen oder sogar auf dem Hof herumzulaufen, da immer peinlich darauf geachtet werden musste, dass sie schonend behandelt und niemals schmutzig wurden, damit sie möglichst lange hielten, was völlig unsinnig war, da wir ständig herauswuchsen. Aber vielleicht wurde so schon für kommende Generationen geplant, die die Kleidung erben und irgendwann auftragen würden. Wir wechselten also unsere Kleider, die Strenge und die Disziplin des gerade Erlebten fielen von uns ab, wir rannten herum und schrien so lange und so laut, bis uns unsere Mutter zurechtwies und anhielt, den heiligen Tag in Ehren zu halten.