Читать книгу Ein Zimmer ohne Aussicht - Jan Holmes - Страница 5

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Kapitel Eins (außen)

Die Gebäude lagen in einem engen Tal, das sich vom Dorf in die Hügel schlängelte, windgeschützt und vor den Blicken Neugieriger verborgen. Ein schmaler, schlecht asphaltierter Weg führte durch die immergrünen Nadelwälder über mehrere Anhöhen bis zum Gehöft, wo er endete und weswegen er nur selten befahren wurde. Rund um das Wohnhaus, den großen, aber fast verfallenen Stall und die kleine Scheune, erhoben sich seit Langem ungenutzte Weiden, die auf den Kuppen der Hügel allmählich in Wald übergingen. Die Natur eroberte das einst bewirtschaftete Land langsam zurück, streckte ihre Finger nach den Gebäuden aus, säte Disteln und hohe Gräser, die keine Tiere mehr fraßen, und ließ die Zäune verrosten, die Pfähle, an denen der Stacheldraht hing, allmählich verrotten und einstürzen. Auf den ersten Blick bot das Gehöft ein malerisches Bild, zeigte Romantik des Landlebens und strahlte Behaglichkeit und Ruhe aus. Auf den zweiten Blick änderte sich nicht viel, die Ruhe blieb, aber die Behaglichkeit wich etwas zurück, wenn man die abblätternde Farbe am Wohnhaus entdeckte, die schiefen Läden, die träge im Wind quietschten und die Halme, die sich zwischen den Pflastersteinen der schmalen Auffahrt ausbreiteten. Trotz allem wäre es nicht übertrieben, diesen stillen Ort immer noch als »Idylle« zu bezeichnen, und Menschen, die geschäftstüchtiger waren als die momentanen Bewohner, hätten es sicherlich verstanden, diese Idylle zahlenden Urlaubern schmackhaft zu machen. Aber davon war dieser Fleck Erde weit entfernt, im Gegenteil, hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein, nur das Nötigste wurde instand gehalten. So wurde das Dach erst dann geflickt, wenn es hereinregnete, ansonsten war das Werk der Jahre überall deutlich zu sehen.

Kam man auf den Hof, ging man zunächst eine kleine Steigung über aufgeworfenes Pflaster hinauf und gelangte dann zum Wohnhaus. Eine kleine Treppe führte seitlich zu beiden Seiten der Tür nach oben, der gegenüber eine Sitzbank am Geländer angebracht war, die aus grobem Holz bestand, das vor längerer Zeit einmal in einem dunklen Braun angestrichen worden sein mochte. Die schwere, massive Tür hatte kleine Fenster aus gelblichem Glas, geschützt durch schmiedeeiserne Gitter. Am Türrahmen darüber prangte eine aus einem Baumstamm gesägte Scheibe, durch Ketten gehalten und verziert mit dem Spruch »Lasset uns am Alten, so es gut ist halten, aber auf altem Grund, Neues wirken jede Stund«. Rechts und links der Tür standen zwei alte, mit vermooster Erde gefüllte Fässer, aus denen aber nur ein paar traurige Überreste der Pflanzen ragten, die hier vor langer Zeit eingesetzt worden waren. Mit der Tür im Rücken überblickte man den Hof, gegenüber lag der ächzende Stall, der nicht mehr genutzt wurde, das Dach war eingefallen, es würde nicht lange dauern, bis die Witterung das Gebäude zum Einsturz brachte. Zur Rechten lag die kleine Scheune, die als Garage und Lagerraum genutzt wurde, hier verstaubten alte und zum Teil schon lange vergessene Geräte, die keine Verwendung mehr fanden, darüber lag der Heuboden, der nicht mehr gefüllt wurde, Schwalben hatten die Dachbalken mit ihren Nestern verziert und teilten sich den Raum mit Spinnen und Mäusen. Hinter dem Stall erhob sich das weite Land, auf dem in früherer Zeit Kühe und Pferde gegrast hatten, vor mehreren Generationen hatte es Schafe und Ziegen gegeben sowie einige Hundert Hühner, aber jetzt war der Stall leer. Es gab nur noch ein paar streunende Katzen, die in der Scheune Jagd machten, und einen alten Hofhund, der an einer langen Kette im Hof lag, so als gäbe es noch etwas zu bewachen.

So trostlos sich die Beschreibung der Gebäude anhört, könnte man meinen, sie seien verlassen worden, aber das ist nicht die Wahrheit, hier wohnten Menschen, hier gab es Leben und die dazugehörigen Schicksale. Die Leute im Dorf wussten nicht viel zu berichten, außer der offensichtlichen Tatsache, dass hier eine Frau mit ihren Kindern und ihrer alten Schwiegermutter lebte. Darüber hinaus gab es einige Gerüchte, schlimme Dinge, die nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wurden, deren Wahrheitsgehalt aber niemand mehr überprüfen konnte und die selbst von den klatschsüchtigen Bewohnern des Dorfes nur dann hervorgeholt wurden, wenn es sonst nichts mehr zu sagen gab. Aber damit tat man unrecht, so die offizielle Ansicht, es gab nichts Schlechtes, was man über die Frau oder ihre Kinder sagen konnte, auch wenn man sie wegen ihrer verschlossenen Art mied. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihnen gemeint, es galt, Rücksicht zu nehmen, niemand war verantwortlich für das geschehene Unglück. Auch wenn man die kleine Familie selten sah, meist nur sonntags in der Kirche, selten auf einem Dorffest oder dem Wochenmarkt, ließ man sie in Ruhe. Erst später, als die Kinder in die Schule mussten, wurde offensichtlich, wie schwer die Vergangenheit und die Gegenwart auf dem alten Hof und seinen Bewohnern lasteten, wie das Gewicht der Zeit sie gleichsam erdrückte und zersetzte, Spuren in den Gesichtern hinterließ, die man sonst erst bei älteren Menschen erkannte, viel zu früh eingebrannt in die jungen Augen. Aber umso mehr hätte man trotz aller Gerüchte die Mutter bewundern können, die sich die ganze Zeit allein durchschlug, sich mit kleineren Arbeiten ein Zubrot verdiente und erst viel später Hilfe in Anspruch nahm. Man hatte immerhin Respekt vor ihrer Leistung, vor ihrer Standhaftigkeit, und es gab nicht wenige, die sich niemals hätten vorstellen können, in ihrer Situation überlebt, die Kraft besessen zu haben, die Schläge auszuhalten, die ihr das Schicksal mitgegeben hatte. Jeder war sich sicher, ganz früh aufgegeben und die Gegend verlassen zu haben, in der die Geister der Vergangenheit umgingen. Warum war sie nicht mit ihren Kindern in die Stadt gegangen, hatte sich helfen lassen, die Kinder versorgt, fernab der Einsamkeit des Hofes? Aber die Leute verstanden auch, dass das einer Flucht gleichgekommen wäre, einem Aufgeben, Resignieren angesichts dessen, was passiert war. Man verließ seinen Hof nicht einfach so, man schnitt seine Wurzeln nicht ab, wenn es nicht irgendwie anders ging. Die jungen Leute hingegen waren nicht mehr so verbunden mit ihrer Herkunft, es gab viele Höfe, die nicht übernommen wurden, weil die Söhne und Töchter anderes im Sinn hatten, dem Dorf den Rücken kehrten, um sich in der Stadt niederzulassen und dort ihr Glück zu suchen. Einmal im Jahr kehrten sie zum Schützenfest zurück, betranken sich ohne Maß und erzählten von der alten Zeit und wie schön diese gewesen sei. Am nächsten Tag packten sie jedoch ernüchtert ihre Sachen, ließen sich von den Eltern nur wenig widerwillig etwas zustecken und verschwanden wieder in ihrem neuen Leben, Erinnerungen an eine Idee von Heimat im Gepäck, die ihnen ausreichte. Die Mutter auf dem abseits gelegenen Hof aber würde dort bleiben, wo sie ihr Leben lang gewohnt hatte. Die Gebäude hatten seit Generationen ihrer Familie gehört, sie war in dem Haus geboren und würde dort ihre letzten Tage verbringen. Ihre Eltern sowie der Schwiegervater waren schon vor langer Zeit gestorben, ihr waren keine Geschwister geschenkt, und nach dem Tod ihres Mannes, der auf den Hof eingeheiratet hatte, war es an ihr, mit ihren Kindern dafür zu sorgen, dass nicht alles vollständig zerfiel, doch ihre Kräfte reichten offenbar nicht aus. Die Leute aus dem Dorf kamen selten zum Hof herauf, aber diejenigen, die es bisweilen taten, alte Freunde der Familie, der Arzt oder der Pfarrer, berichteten nach ihrer Rückkehr vom fortschreitenden Verfall der Gebäude, was eine Schande sei, aber was solle man machen? Es hatte anfangs nicht wenige Angebote gegeben, ihr zu helfen, es wurde allgemein als Schande angesehen, das gute Land nicht weiter zu bewirtschaften, aber nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, Hilfe anzunehmen oder auch nur irgendjemanden länger als nötig auf dem Hof zu haben, wurde ihr Wunsch respektiert, und man ließ sie in Ruhe. Hätte man gewusst, welche Tragödien sich hinter den Wänden und Bruchsteinmauern abspielten, man wäre vielleicht nicht so nachgiebig gewesen, aber das Schicksal spielt sich im Verborgenen ab und ist oft nicht als solches zu erkennen.

Ein Zimmer ohne Aussicht

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