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Die lebensgefährliche Erkrankung des ledigen Fürsten 1970

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Das war’s also. Alles hat mal ein Ende. Diesmal mein Leben. „Noch nicht sofort“, hat der Arzt gesagt und meinte mich damit zu trösten, „aber bereits beim nächsten Koma kann es sein, dass Sie nicht mehr erwachen.“ Das Wort Vollrausch hat er diskreterweise nicht in den Mund genommen. Er hielt sich an die Fakten: „Herzschwäche und Leberzirrhose“. „Bei Ihrer robusten Grundkonstitution hätten Sie allerdings noch eine Chance. Aber nur bei konsequentem Verzicht auf Alkohol und bei einer geregelten, gesunden Lebensweise!“

Das sagte er mir vor sechs Monaten. Und gestern wieder diese Alkoholorgie. Und heute Nacht dieser Herzanfall. Wenn Hubertus nicht gewesen wäre, der sofort den Notarzt gerufen hat, könnte ich meinen entseelten Körper bereits aus einer anderen Dimension begucken. Es ist aus. Man soll sich nichts vormachen, aber hart ist es schon, den baldigen unausweichlichen eigenen Exitus so deutlich, so greifbar vor sich zu sehen.

Hubertus glaubt noch daran, dass ich zu retten sei. „Durchlaucht sollte nach Brasilien fliegen und einige Zeit auf Ihrer Farm leben. Das hat Ihnen immer gut getan!“, riet er mir. Aber auch in Brasilien bin ich nicht sicher vor meiner Alkoholsucht und vor meiner Vorliebe für das Nachtleben.

Und dieser gebrechliche, hinfällige, schlappschwänzige Körper verkraftet es nicht mehr. Eigentlich hat unter solchen Auspizien mein Weiterleben überhaupt keinen Sinn. Vielleicht sollte ich zu meiner Jagdflinte greifen. Das ersparte mir dieses langwierige, qualvolle Dahinsiechen. Aber ich weiß – ich werde das nicht tun. Ich werde inkonsequent. Immer habe ich nach der Devise gelebt: „Wir sind hier, um unser Leben zu genießen. Alle Ideen von heilsamen Werten und religiösen Verheißungen sind verlogene Vertröstungen für die Armen, die sich keinen Luxus leisten können.“

Und jetzt bin ich so weit, dass ich keinen Luxus mehr vertrage, und will dennoch weiterleben! Das Leben hobelt alle gleich. Eigentlich gehöre ich jetzt auch zu diesen unzähligen „Illusionisten“, die aus dem „Glauben“ weiterleben. Aus dem Glauben an ein Wunder, das ihre Gebrechen heilt und ihren Nöten abhilft. Nur glaube ich nicht, dass dies im Jenseits geschieht und dass man sich dieses Wunder durch Wohlverhalten auf dieser Erde verdienen kann.

Immerhin habe ich gute dreißig Jahre mein Leben, ohne vor irgendwelchen Tabus oder Schranken zu kuschen, bis zum Delirium genossen. Ja, ich gebe es zu, ich bin ein Raubtier. Wir sind doch alle Raubtiere. Nur gibt es keiner zu. Ich habe die Gutgläubigkeit meiner Geliebten und Liebhaber ausgenutzt bis zum Gehtnichtmehr. Ich habe mir alles genommen, was meinen Besitzwunsch erregte, ohne Rücksicht darauf, ob es schon jemandem gehörte oder nicht. Ich war der Stärkere, ich hatte mehr Geld und weniger Skrupel. Und alles, was ich wollte, habe ich bekommen. So ist die Menschheit: käuflich und ohne Grundsätze. Eine labile, manipulierbare Masse. Aber ich bin der Böse, der diese menschlichen Kreaturen massenweise ausgehalten hat, der ihrem Leben einen Sinn und ein Ziel gegeben hat, indem sie meinem Vergnügen dienten.

Immerhin habe ich nur im privaten Bereich gewildert und nicht im öffentlichen oder genauer im politischen. Und ich war immer ehrlich. Ich habe meinen Opfern oder Profiteuren nie etwas vorgemacht, habe ihnen nichts von Liebe oder Treue oder Hingabe vorgeheuchelt, sondern habe immer genau gesagt, was ich wollte und welchen Preis ich dafür zahlen wollte. Es waren klare, saubere Geschäfte. Wenn sich dennoch jemand in mich verliebte oder mich idealisierte, so war es sein Problem, nicht meines. Ich habe meinen Partnern immer von vornherein reinen Wein eingeschenkt.

Und ich habe nicht wie diese vielen verlogenen Heuchler unter den Politikern irgendwelche moralischen, religiösen oder staatspolitischen Interessen oder Ideale vorgeschoben, um mein eigenes Mütchen zu kühlen oder meine eigene Diebesbeute in Sicherheit zu bringen. Am ekelhaftesten habe ich es immer empfunden, wenn diese Kreaturen ihre Raub- und Eroberungsgelüste mit religiösen, frömmlerischen Mäntelchen rechtfertigen wollten. Wenn man schon ein Wolf ist, so sollte man sich nicht als gütige Großmutter verkleiden, sondern den Mut haben, sein wahres Gesicht zu zeigen.

Wenn ich meinen Tod auch etwas vorzeitig finde, so bin ich doch zufrieden mit diesen dreißig Jahren, die ich ganz nach meinem Geschmack genossen habe. Ich habe alle Frauen gehabt, die ich wollte, ich war einer der Ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, der im Hotel „Vier Tageszeiten“ in Brunsbüttel kanadischen Hummer, russischen Kaviar und geräucherten Stör kiloweise gegessen hat, und ich habe die besten Weine aus aller Welt getrunken, als in Deutschland noch das Dortmunder Bier ein begehrtes Luxusgesöff war. Ich konnte mir für meine reiterliche Passion die besten Pferde leisten, war Vereinsmeister im Tennis und habe einige silberne Pokale bei Golfturnieren eingeheimst. Ich war erfolgreich, angesehen, beliebt, umschwärmt.

Man kann mir sogar Wohltätigkeit nachsagen. Nicht wenige verheiratete Damen, deren Kinderwunsch durch ihre Ehepartner nicht erfüllbar schien, haben bei mir ihr Heil gesucht und in einigen Fällen auch gefunden. Ich habe also sogar das wichtigste Ziel unseres hiesigen Daseins mehrfach erreicht – das Leben weiterzugeben, für den weiteren Bestand der Menschheit zu sorgen.

Ich habe Glück gehabt. Die Damen waren diskret und ihre Männer, falls sie die Wildfänge ihrer Frauen bemerkt haben sollten, waren es ebenfalls. Ich hatte also keine Probleme mit meinem Nachwuchs.

Gelegentlich habe ich als guter Onkel und Freund der Familie den Kleinen sogar nützliche Geschenke gemacht, ein paar hübsche Kleidchen für die Mädchen, Anoraks und Sportschuhe für die Jungen. Auch mit der Verteilung von Fahrrädern oder Rollschuhen, Puppenstuben oder Metallbaukästen war ich nicht kleinlich. Und siehe da: Aus allen diesen Ablegern ist bis auf eine Ausnahme etwas Brauchbares geworden. Aber missratene Kinder kommen in den besten Familien vor, sogar wenn man sich als Vater tagtäglich darum kümmert.

Natürlich habe ich darüber meine dynastische Pflicht vernachlässigt, eine standesgemäße Heirat verpasst und die Erzeugung von legitimen fürstlichen Stammhaltern unseres uralten Geschlechts versäumt. Diese Unterlassung bereitet mir nicht nur wenige nächtliche, sondern auch tägliche Kopfschmerzen.

Mein Arzt gab mir sein Bedauern zu dieser Sachlage bekannt und meinte, dass meine diesbezüglichen Körperteile eigentlich noch ganz funktionsfähig seien und dass bei einer soliden Lebensführung auch die rudimentären Vaterpflichten noch von mir geleistet werden könnten.

Aber welche standesgemäße, gescheite, gesunde junge Frau will sich mir alten, verbrauchten, kurzatmigen, schwabbeligen und bei den sexuellen Turnübungen schweißtriefenden „Säckel“ für ein solches Projekt noch zur Verfügung stellen? Ich fände es auch von mir heuchlerisch und unanständig, wenn ich sie ohne Liebe heiraten würde. Denn Liebe ist – wie gesagt – für mich nur eine Illusion. Und auch mein Besitz, mit dem sich vielleicht manche junge Frau als baldige Erbin trösten könnte, ist, unter uns gesagt, abgewirtschaftet, nicht mehr viel wert.

Das kann ich aber nur diesem geheimen Tagebuch anvertrauen, denn in der Öffentlichkeit gelte ich immer noch als einer der reichsten Männer Deutschlands. Ich empfände es als Betrug, wenn sich eine junge Frau nach meinem Ableben mit meinen Gläubigern und unfähigen Verwaltern herumschlagen müsste.

Hubertus, mein alter treuer Leibdiener, hat in diesem Punkt eine andere Meinung. Er meint, eine Ehe mit einer frischen, tatkräftigen jungen Frau könne vielleicht doch das Wunder bewirken, das sowohl meine lädierte Person als auch mein heruntergekommener Besitz so nötig hätten.

Und ich bin so schwach – im Widerspruch zu meinen eigenen Überzeugungen – ihm Recht zu geben. Ich will an ein Wunder glauben. Dieser Glaube an ein machbares Wunder hat sich in meinem Gehirn, dem Gehirn eines „ungläubigen Thomas“ wie ein gutartiger Tumor eingenistet und weicht keine Sekunde mehr aus meinem Bewusstsein. Mein Gott, ich werde in diesem Jahr fünfzig Jahre alt und habe mein Pulver verschossen. Ich muss die Tatsache endlich akzeptieren: Ich habe meine Zukunft hinter mir.

Die Vergangenheit holt mich ein. Da erscheinen die erloschenen Flammen oder verblühten Rosen meiner Sturm- und Drangjahre nicht nur als verklärte Erinnerungen vor meinem geistigen Auge, sondern als abgehalfterte Karikaturen ihrer einstigen Attraktivität in meiner ebenso verkümmerten Gegenwärtigkeit.

Sie spüren, dass es mit mir zu Ende geht und wollen Abschied nehmen oder mir in meinem Leiden beistehen. Aber was vorbei ist, ist vorbei und mir sind diese Begegnungen, obwohl ich es mir nicht anmerken lasse, mehr als peinlich. Immerhin zeigen sie, dass ich diesen Menschen doch etwas bedeutet habe, ja, dass sie mir immer noch Sympathie entgegenbringen, mich, wie einige versichern, immer noch lieben und bereit seien, auch mein Unglück mit mir zu teilen – so wie sie so frei gewesen seien, mein Glück mit mir geteilt zu haben. Anscheinend haben sie mich doch nicht als den bis ins Mark verdorbenen Bösen empfunden, zu dem mich unsere Skandalmedien seit Jahren abstempeln.

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