Читать книгу Indiskretionen - Jan Pelzer - Страница 8
Gute Vorsätze
ОглавлениеWieder ist eine Woche vergangen und Frau Schayani ist dieses Mal nicht mit zwei Katzen oder drei Hunden oder zwei Kanarienvögeln erschienen, sondern mit zwei Mönchen. „Ich muss ja immer etwas Lebendiges mitbringen“, sagte sie, „damit Sie die Lust am Leben nicht verlieren und immer wieder neue Impulse, neue Kontakte, neue Beziehungen bekommen!“
„Sie müssen aber auch meinen Neigungen entgegenkommen“, antwortete ich, „wissen Sie denn, ob ich die Menschen den Katzen, Hunden und Kanarienvögeln vorziehe?“ „Deswegen habe ich ja zwei besonders vertrauenswürdige und ehrenwerte Menschen mitgebracht, den Abt des Klosters Schwepptal und seinen Wirtschaftsleiter Pater Kallmann“, erwiderte sie. „Beide sind bereit, Sie in die Gemeinschaft ihrer Brüder für eine begrenzte Zeit aufzunehmen, und möchten Sie aus diesem Grunde persönlich kennen lernen und auf ihre Eignung für eine zeitweise Mitgliedschaft in ihrem Orden begutachten. Sie können natürlich auch einen reinen Ferienaufenthalt in ihrem Kloster buchen. Aber dann bleiben Sie vom Ordensleben ausgeschlossen und hätten eigentlich keinen Grund, in ein Kloster zu gehen.“
„Keine Angst! Wir verlangen keine asketischen Fähigkeiten und erwarten auch nicht, dass Sie vollständig an unserem Gebetsleben und Tagesrhythmus teilnehmen oder sich als Gärtner in unserem Klostergarten betätigen. Wir wollen nur sicher sein, dass Sie bereit sind, auf die Privilegien Ihrer Geburt und Ihres Vermögens eine Zeit lang zu verzichten und sich als einfacher Bruder in unsere Klostergemeinschaft einzufügen“, erklärte mir der Wirtschaftsleiter, ein rundlicher, fröhlicher Mann, dem man durchaus ansehen konnte, dass er auch den weltlichen Genüssen eines guten Essens oder geistigen Getränks nicht abgeneigt war. Jedenfalls empfand ich sofort Sympathie für diesen geistlichen Manager und beeilte mich sehr, ihm zu versichern, dass ich es als eine große Wohltat empfände, die Haut des Fürsten eine Zeit lang abzustreifen und mich in das härene Gewand eines Klosterbruders zu hüllen, um wenigstens für einige Wochen dem Druck der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Probleme zu entfliehen, die in meiner fürstlichen Existenz meine ständigen Begleiter geworden seien.
Darauf erklärte der Abt, ein schlanker, junger, klarer, nüchterner Mann, bei dem Redlichkeit und Sachlichkeit in jedem seiner Worte spürbar waren: „Wir können natürlich keine Wunder wirken, aber wenn Sie bereit sind, ein wenig unseren Lebensrhythmus zu teilen, so können Sie vielleicht doch für eine geraume Zeit Ihre Probleme vergessen und Ihr Denken auf wesentliche und positive geistige und seelische Inhalte richten, die für viele unserer Besucher ein Halt, eine Stütze geworden sind, um dem Ansturm des Alltags mit Gelassenheit und innerer Ruhe standhalten zu können. Vielleicht können Ihnen auch Gespräche mit meinen Mitbrüdern helfen, Ihren weltanschaulichen Standort zu klären und zu stärken, so dass Sie eine geistige Position finden können, die manche Ihrer weltlichen Probleme relativieren mag.“
„Man kann aber auch wirtschaftliche Probleme erörtern“, ergänzte der Wirtschaftsleiter, „so dass auch etwas für die Lösung Ihrer und auch unserer wirtschaftlichen Probleme getan werden kann. Wir können sicher voneinander lernen. Es sei mir in diesem Zusammenhang gestattet, darauf hinzuweisen, dass es mir gelungen ist, die defizitäre Situation der Finanzen unseres Klosters zu beseitigen und seine wirtschaftliche Gesundung zu bewirken, so dass es vielleicht auch Ihnen nützlich sein könnte, meinen Rat in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu hören und auch zu befolgen. Es wäre übrigens ein sehr erwünschtes Zeichen Ihrer Freundlichkeit gegenüber unserem Orden, wenn Sie uns nach Ihrer vorübergehenden Mitgliedschaft in unserer Firma erlaubten, Ihren Aufenthalt bei uns publik zu machen und für Werbezwecke zu verwenden, denn Sie wissen, gute Werbung ist heute der halbe Geschäftserfolg.“
Nach diesen Reden der zwei Mönche, die mir gut gefallen hatten, , war ich natürlich bestrebt, meine skeptische Bemerkung zu Beginn unseres Gesprächs sofort rückgängig zu machen und ich verstieg mich tatsächlich zu einer Formulierung wie der, dass mein vorhin geäußertes Misstrauen gegenüber der Gesellschaft von Menschen natürlich nicht für Mönche gelte und dass mir ihre Eröffnungen wie ein Rettungsring erschienen, der einem Ertrinkenden zugeworfen werde, und dass mich ihre Anwesenheit sehr erfreue und ich selbstverständlich bereit sei, ihre Erwartungen, was meine Anpassung an ihren Tagesrhythmus betreffe, soweit es mir möglich sei, zu erfüllen und dass ich es ihnen selbstverständlich freistelle, mit meinem Namen für ihr Kloster und seine Erzeugnisse Reklame zu machen, wenn ich wieder ins Privatleben zurückgekehrt sei.
Darauf erwiderte der Wirtschaftsleiter, dass ihre Mission mit diesem Verhandlungsergebnis eigentlich erfüllt sei und sie mich und mein Schloss wieder verlassen könnten, aber sie hätten sich für diesen Tag frei genommen und hätten also noch Zeit, wenn es mir recht sei, meine Gesellschaft zu genießen und über die offizielle Übereinkunft hinaus auch noch einige privat-persönliche Bande mit mir zu knüpfen, um mir das Gefühl zu geben, meinen Erholungsurlaub bei Freunden zu verbringen, und ihnen natürlich ebenfalls die Freude zu vermitteln, den Besuch eines guten Freundes des Ordens in ihrem Kloster erwarten zu dürfen.
Das würden sie in der Tat gerne bereits zum nächsten freien Termin tun. Der sei in einer Woche. Ich könne, wenn ich wolle, zunächst einen Aufenthalt für drei Wochen buchen und je nach meinen Bedürfnissen und Möglichkeiten diesen Aufenthalt um jeweils eine Woche verlängern. Solange ich bei ihnen sei, gelte natürlich strengste Diskretion und es sei auch nötig, dass ich mich unter fremdem Namen bei ihnen einschreibe, denn auch ihre Klosterbrüder sollten meine wahre Identität nicht wissen. Ich nahm das Angebot und die Bedingung gerne an und ich erklärte mich auch mit ihrer weiteren Anwesenheit sofort einverstanden.
Ich fragte sie, ob es ihnen recht sei, wenn Hubertus sie durch die Räumlichkeiten meines Schlosses führe und ihnen auch in den Schlosspark und die Stallungen Einblick gebe. Sie fanden den Vorschlag ganz gut, meinten aber, dass es für unsere zukünftigen Beziehungen doch förderlicher sei, wenn ich selber die Führung übernehmen könnte und diese auch mit einigen Insiderinformationen für sie lehrreicher und einprägsamer gestalten könne, als dies auch dem besten angestellten Schlossführer möglich sei.
Ich bedauerte, dass ich ihnen ihren Wunsch nicht erfüllen könne, da Frau Dr. Schayani zu mir gekommen sei, um eine psychotherapeutische Sitzung mit mir abzuhalten, und dass ich diese Behandlung bräuchte, um mich seelisch wie körperlich einigermaßen über „Wasser“ halten zu können.
„Eigentlich fällt eine solche Therapie als Seelsorger auch in unser Fach, aber leider haben wir nicht die psychologische und medizinische Ausbildung, um unseren bedürftigen Glaubensbrüdern diesen Dienst zu erweisen. Wenn Sie daher keine Einwände haben, so würden wir gerne als stillschweigende, fachlich interessierte Studenten an dieser Sitzung teilnehmen. Vielleicht ergeben sich dadurch für uns Einsichten und Methoden, die auch wir anwenden können, wenn seelisch kranke oder leidende Menschen unsere Hilfe bei ihren Aufenthalten in unserem Kloster suchen“, bemerkte der Wirtschaftsleiter.
„Dann schließen wir einen Kompromiss – das Einverständnis unseres Patienten vorausgesetzt – und er führt uns durch das Schloss, während er die Erzählung von seiner Brasilienreise mit der damals fünfzehnjährigen Pianistin Carlotta Key fortsetzt“, schlug Frau Schayani vor. Aber ich konnte mich nicht damit einverstanden erklären. „Wenn die Patres schon eine Instruktionsstunde über eine psychotherapeutische Sitzung erleben wollen, so sollten sie auch einer regelrechten beiwohnen, also mit Couch und mit den Reaktionen und Impulsen des Therapeuten“, sagte ich. „Wenn danach noch Zeit ist, so bin ich gerne bereit, die Schlossführung daran anzuschließen.“
Mit diesem Vorschlag konnten sich alle einverstanden erklären, und so bewegte ich mich zu meinem Sofa, Frau Schayani zu ihrem Stuhl und die beiden Patres blieben diskret am Esstisch sitzen und zogen irgendwelche Notizblöcke aus ihren Kutten, um einige für sie interessante Beobachtungen aufzuschreiben.
Frau Schayani klärte darauf den Zusammenhang meiner Erzählung und berichtete, dass ich auf einer meiner Reisen nach Brasilien die damals noch unbekannte Pianistin Carlotta Key kennen und schätzen gelernt hätte und diese, da sie damals vor sechs Jahren noch ein Kind von 15 Jahren und allein als Blinde Passagierin auf dem Schiff gewesen sei, unter meine Fittiche genommen hätte und als ihr Konzertveranstalter und Reisebegleiter in Brasilien fungiert hätte.
Offensichtlich sei für mich die Beziehung zu der jungen Frau aber tiefer und persönlicher gewesen, als es solche beruflichen oder geschäftlichen Beziehungen normalerweise seien, und ich sei durch den offensichtlichen Bruch dieser Beziehung seelisch sehr betroffen, leide immer noch unter diesem Bruch, und sie als Psychotherapeutin versuche den Knackpunkt unserer Liaison gemeinsam mit mir herauszufinden, um die Geschichte mit mir verarbeiten zu können oder aber Anknüpfungspunkte für die Fortsetzung dieser Beziehung zu finden.
Bisher sei deutlich geworden, dass die unterschiedliche soziale Herkunft von Carlotta und mir allerhand Anlässe zu Verstimmungen und Komplikationen gegeben habe. Auch habe es wahrscheinlich zwischen uns Unterschiede in dem Verständnis dieser Beziehung gegeben, Carlotta habe mich wahrscheinlich doch mehr als Manager und Leibwächter angesehen, während ich unausgesprochen tiefere Gefühle für sie entwickelt hätte und sie als eine mögliche Lebensgefährtin und vielleicht sogar Ehefrau in Aussicht genommen hätte.
Eine sehr starke Belastung unserer Beziehung habe sich durch das Engagement von Carlotta für die fünf- oder sechsjährige Tochter einer brasilianischen Dirne ergeben. Carlotta habe nach Kenntnisnahme der häuslichen Verhältnisse dieses Kindes von mir erwartet, dass ich dem Kind einen Platz in einem katholischen Internat bezahlte, um dem Kind eine Ausbildung zu sichern und es aus der für seine Entwicklung schädlichen Umgebung zu lösen. Meine Weigerung gegenüber diesem Ansinnen habe nach meiner Meinung den ersten unüberbrückbaren Riss in unserer Beziehung ergeben.
Nach dieser Einführung setzte ich meinen Bericht fort. „Ich hatte nicht die Spur von einem sozialen Engagement und Carlotta war bis zu den Haarspitzen für soziale Probleme sensibel und für ihre Lösung engagiert. Das zeigte sich auf unserer ganzen Reise. Bereits auf meiner Yacht, auf der ich sie von Rio nach Blumenau mitnahm, bestand sie darauf, dass wir gemeinsam mit der Crew frühstückten und die anderen Mahlzeiten einnahmen. Als ich mich am Anfang weigerte, zog sie in den Mannschaftsraum und teilte dort die Mahlzeiten mit meiner Mannschaft. Also blieb mir nichts anderes übrig, als auch im Mannschaftsraum zu erscheinen und dort meine Mahlzeiten einzunehmen.
Das führte natürlich hinter meinem Rücken zu spöttischen Bemerkungen bei der Crew, die öfter solche Sprüche hören ließen, dass Carlotta die Hosen anhabe, dass sie mit mir den ‚Jökel’ mache, dass sie mich zum Narren halte und zum Gespött der Leute. Auf dem engen Raum einer Yacht müssen einem solche Reden über kurz oder lang zu Ohren kommen und ich war zu dieser Zeit auch noch kein bisschen schwerhörig. Ich muss sagen, dieses Gerede ärgerte mich.
Ich hatte Carlotta versprochen, möglichst viele Häfen anzulaufen, die wir bei unserer Fahrt nach Süden passieren mussten. In diesen Hafenstädten besuchten wir häufig Geschäftsfreunde oder auch adelige Verwandte von mir. Schon bald bemerkte ich, dass diese Besuche sie langweilten, vor allem wenn wir ältere wohlhabende Familien besuchten, die bereits im Ruhestand waren. Sie fand solche ‚Luxusexistenzen’, die nur noch auf der Suche nach ‚besonderen Reisen, besonderen Speisen, besonderen Weisen oder besonderen Kreisen’ waren, läppisch und oberflächlich und verurteilte die nach ihrer Meinung egoistische Leere und genusssüchtige Extravaganz dieser Personen.
Am Anfang gelang es mir noch, ihre provokante Energie auf die Musik abzulenken und sie zu einem kleinen Konzert in den Wohnzimmern meiner Freunde zu bewegen, die natürlich alle ein Klavier oder einen Flügel hatten. Aber bald weigerte sie sich, ein paar Musikstücke zum Besten zu geben, weil diese Leute sowieso nicht zuhören könnten und sich, während sie spiele, weiter über die Nützlichkeit von Honig und Lebertran für die Gesundheit unterhielten (was vielleicht einmal passiert war!).
Dafür packte sie ihr ganzes provozierendes Repertoire aus. Das heißt, sie zeigte meinen verdutzten Kompagnons Fotos, die sie mit einer Sofortbildkamera in den Favelas von Rio von Straßenkindern gemacht hatte.
Dann fragte sie, wie viele Räume sie in ihrem Haus hätten und ob sie sie alle bewohnten, was natürlich nie der Fall war. Und dann kam immer dieselbe Aufforderung. Sie seien doch reich und wüssten sowieso nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Sie hätten auch genug Platz im Haus. Da könnten sie doch einige Straßenkinder bei sich aufnehmen, sie aufziehen und ihnen eine berufliche Ausbildung geben. Das würde ihrem unnützen Dasein doch wieder einen Sinn geben und könnte ihr museales Haus mit neuem Leben füllen und auch ihre erloschenen Gefühle wiederbeleben.
Meinen Freunden blieb nichts anderes übrig als ihr grundsätzlich Recht zu geben und ihr Engagement zu loben, aber sich mit den Beschwerden des Alters herauszureden, die die Bewältigung einer solch schweren Aufgabe unmöglich machten, so dass sie nur mit Geld, aber nicht mehr persönlich das Schicksal dieser Kinder erleichtern könnten. Und meine Freunde fühlten sich hierauf wirklich meistens verpflichtet, in ihr Portemonnaie zu greifen und Carlotta eine nicht zu knauserige Spende zukommen zu lassen.
Mir war dieses Benehmen von Carlotta mehr als peinlich, und da ich wusste, dass ich sie mit Worten nicht davon abbringen konnte, so versuchte ich ihr die Bilder wegzunehmen und diese in meinem Safe zu verstecken. Aber Carlotta bemerkte den Diebstahl und da sie sicher sein konnte, dass ich der Dieb war, so stellte sie mich vor die Wahl, entweder die Bilder herauszurücken oder ihren Abgang vom Schiff in Kauf zu nehmen. Da rückte ich ihr die Bilder schnell wieder heraus, denn ich konnte mir meinen Brasilienaufenthalt ohne sie nicht mehr vorstellen.
Trotzdem baute sich in mir eine geheime Wut auf Carlotta auf. Und nach einem weiteren Besuch bei adeligen Verwandten, die Carlotta mit ihrem Tick um 1000 Cruzeiros erleichtert hatte, bot sich mir die Gelegenheit zur Strafe. Denn das Wetter war mit mir im Bunde. Es hatte an diesem Tag eine Sturmwarnung gegeben und Carlotta hatte mir dringend nahe gelegt, das Angebot meiner Verwandten anzunehmen und bei ihnen zu übernachten. Aber da ich ziemlich seefest bin und mir die Seekrankheit noch nie etwas anhaben konnte, Carlotta aber auch schon bei weniger starkem Seegang einige Empfindlichkeit gezeigt hatte, so wollte ich ihr doch einmal beweisen, wer unter außergewöhnlichen Bedingungen eher kühlen Kopf behalten und den Elementen trotzen könnte.
Also schob ich irgendeinen geschäftlichen Termin vor, den ich im nächsten Hafen nicht versäumen dürfe, und ordnete die planmäßige Abfahrt mit der Yacht an. Da der Seegang im Hafen sehr mäßig war, konnte ich Carlotta dazu bewegen, das Schiff wieder zu betreten, musste ihr aber versichern, dass der Seegang auch außerhalb des Hafens nicht erheblich stärker war. Es war denn auch mein Glück, dass in den ersten drei Stunden unserer Fahrt der Wind noch Atem holte und das Meer in Frieden ließ, so dass es mich nicht Lügen strafte.
Aber nach drei Stunden begann der Himmel sich zu verfinstern und heftige Böen stießen und schlugen das Schiff. Der Chef meiner Crew, Kapitän Paulsen, ließ sofort die Segel einholen und die Ausleger ausfahren, um die Lage unserer Amanda V, so gut es ging, zu stabilisieren und um ein Kentern zu vermeiden. Carlotta verfolgte diese Manöver schon mit eingeschränkter Aufmerksamkeit und war merkwürdig in sich gekehrt. Sie begann auch schon zu würgen und sich den Bauch zu halten, in dem die Seekrankheit sich bereits bemerkbar machte.
Als Kapitän Paulsen sie aufforderte, unter Deck zu gehen, da die Gefahr bestehe, dass sie über Bord gehen könne, ignorierte sie seine Anweisung, legte sich mit dem Bauch auf eine der Bänke, die auf dem Deck standen, vergrub ihren Kopf in ihren Armen und weigerte sich noch ein Wort zu sprechen. Ich ordnete sofort an, sie auf der Bank festzubinden, damit sie nicht doch von einem über Bord schwappenden Brecher erfasst und ins Meer geschleudert werden konnte. Sie ließ das auch alles willenlos über sich ergehen. Ich blieb bei ihr, sicherte mich allerdings auch mit einer Leine.
Als dann die ersten großen Brecher kamen, versuchte ich mich vor sie zu stellen, um sie gegen das Wasser zu schützen, aber ich konnte mich nicht auf der Stelle halten und so wurde sie auch nass. Da jetzt auch der Himmel seine Schleusen öffnete und das Wasser von oben und unten kam, konnte ich Carlotta doch überzeugen, dass es unter Deck komfortabler sei und somit verschwanden wir zwei – so schnell wir konnten – unter der Deckluke.
In meinem Salon legte sich Carlotta sofort auf das Sofa und ich setzte mich zu ihren Füßen, um sie festzuhalten, falls sie bei einer plötzlichen Schräglage des Schiffes herunterzufallen drohte. So konnte ich es durch rechtzeitiges Eingreifen dreimal verhindern, dass sie durch meinen Salon kollerte, und ich war, als sich der Sturm nach zwei Stunden legte, heilfroh, dass Carlotta bis auf die Seekrankheit kein weiterer Schaden zugestoßen war. Nach einer weiteren Stunde hatte Carlotta sich auch so weit wieder erholt, dass sie aufrecht sitzen und mir glaubhaft versichern konnte, dass dieses die erste und letzte Reise mit meiner Yacht gewesen sei. Sie wolle aber bis Blumenau dabei bleiben und mich dann auf meine Farm begleiten, die ja hoffentlich nicht so ein willfähriges Spielzeug für den Wind sei wie mein Schiff.
Ich beruhigte sie mit der Auskunft, dass das Hauptgebäude meiner Farm ein altes Jesuitenkloster sei, das bis jetzt der Abnutzung durch die Zeit und das Wetter mit Hartnäckigkeit getrotzt habe und dies nach meinem Dafürhalten auch noch einige weitere Jahrhunderte zu tun gedenke.
Nach diesem Ereignis hatte ich das Gefühl, dass Carlotta mich doch etwas mehr respektierte, als sie es vorher getan hatte, auch etwas umgänglicher wurde, wenn wir Freunde besuchten, und auch wieder bereit war, ein kleines Konzert zu geben, wenn es gewünscht wurde.
Ihre Sammeltätigkeit für die Ausbildung von Straßenkindern behielt sie allerdings bei, was mich weiterhin von einer Verlegenheit in die andere stürzte. Denn meine Freunde informierten sich bereits untereinander darüber, dass Carlotta mich begleite und diese Tatsache dazu benutze, um Spenden für den Internatsaufenthalt von ‚Straßenkindern’ zu sammeln. Einige Freunde wollten sich auch den Anblick von Carlottas Fotos ersparen und hatten bereits bei unserer Ankunft ein Beutelchen bereitgestellt, in dem ihre Spende enthalten war. Sie taten dann so, als seien sie begeistert von Carlottas sozialem Engagement, was sie mit vollem Herzen unterstützten und weshalb sie bereits eine Spende erübrigt hätten.
Carlotta zeigte ihnen dann trotzdem ungerührt die Bilder des Elends, die sie in den Favelas von Rio gemacht hatte, und unterstrich die schaurige Anschaulichkeit der Fotos noch durch ihre detaillierten Schilderungen der Wohnsituationen, der familiären Situationen und der Einkommensverhältnisse dieser Menschen, so dass die meisten meiner Freunde durch diese ungeschminkten Berichte geschockt wurden und froh waren, wenn wir ihr Haus oder ihre Wohnung wieder verließen und sie sich ohne atmosphärische Störungen wieder den idyllischen Welten hingeben konnten, die sie sich in ihren Gärten und Wohnräumen geschaffen hatten.
Manche sprachen mich auch in Carlottas Abwesenheit auf ihren Tick an und meinten, dass ich diesem unappetitlichen Thema doch den Stachel ziehen könne, wenn ich die finanzielle Regelung der Angelegenheit selbst in die Hand nähme, so dass Carlotta ihrem sozialen Engagement nachgehen könne, um mit Hilfe der sozialen Einrichtungen von Rio de Janeiro einige Straßenkinder aus ihren Familien zu lösen und schnellstmöglich in ein Internat zu verfrachten. Aber ich musste ihnen dann immer erklären, dass Carlotta sich kategorisch meine Einmischung in diese Angelegenheit verbeten hatte und auch nicht bereit war, auch nur einen Cruzeiro von mir für die Versorgung eines Straßenkindes anzunehmen. Kurz und gut: ich war sehr froh, als wir endlich auf meiner Farm angekommen waren und ich an keinen weiteren Sammelaktionen von Carlotta mehr teilnehmen musste.
Die ersten Tage auf meiner Farm verliefen auch sehr harmonisch und fröhlich. Carlotta ritt mit mir aus, besuchte meine Zuckerrohrplantagen, durchstreifte mit mir meine Wälder und Rinderweiden und zeigte sich unendlich interessiert, alle Sparten meiner Fazenda kennen zu lernen. Sie wälzte dazu Lexika in meiner Bibliothek und lernte von mir und aus einschlägigen Lehrbüchern, die ich in den frühen Jahren meiner Besuche in Brasilien zum Lernen benutzt hatte, Portugiesisch und vergaß auch nicht, zu meinem Vergnügen und ihrer Vorbereitung auf ihre Konzerttournee zwei bis drei Stunden am Tag Klavier zu üben. Aber bei ihrer Kontaktfreude und ihren schnellen Fortschritten in der Beherrschung der portugiesischen Sprache, die sie gierig wie Muttermilch aufsog, konnte es natürlich nicht lange dauern, bis sie viele meiner Landarbeiter kontaktierte, mit ihnen zu sprechen begann und auch die eine oder andere Einladung in ihre bescheidenen Hütten annahm. Sie forderte auch mich auf, sie bei diesen Besuchen zu begleiten, aber ich schob geschäftliche Angelegenheiten vor und besuchte unterdessen alte Freunde in Blumenau.
Ich war also mehrere Tage abwesend, die sie zu ausgedehnten Besuchen bei den Familien meiner Arbeiter nutzte. Als ich zurückkam, trat mir eine verwandelte Carlotta entgegen. Sie habe sich in meiner Abwesenheit über die Lage meiner Arbeiter und die Struktur und Ausdehnung meiner Fazenda kundig gemacht, eröffnete sie mir, und sie sei entsetzt über die Verhältnisse, in denen die Familien meiner Arbeiter leben müssten, und über die unsoziale Nutzung des riesigen zu meiner Fazenda gehörigen Landes.
‚Ich habe gar nicht gewusst, dass du mehr als 15000 Hektar Land besitzt und dass der größte Teil dieses Landes brach liegt’, sagte sie mir. ‚Und deine Arbeiter leben in Verhältnissen, die man nur als menschenunwürdig bezeichnen kann! Ihre roh zusammengezimmerten Hütten oder besser: Verschläge bestehen häufig nur aus einem Raum, haben selten einen Stromanschluss und noch seltener fließendes Wasser. Es sei denn der nahe gelegene Fluss wird als ihr Trinkwasser-Reservoir, ihre Toilettenspülung und ihr Waschbecken betrachtet.
Für ihre tägliche Arbeit auf deinen Plantagen oder bei deinen Rinderherden bekommen sie keinen Cruzeiro Lohn und werden statt dessen mit einer Parzelle Land abgespeist, die die Frauen bearbeiten müssen, weil die Männer von morgens bis abends auf deinem Gelände Frondienste leisten. Viele Kinder wachsen ohne Schulbildung auf, weil sie bereits früh bei der Landarbeit mithelfen müssen und weil deine Arbeitssklaven kein Geld haben, um sie in eine der umliegenden Schulen zu schicken. Gäbe es nicht die christlichen Missionare mit ihren Ordensschulen, die sich neben ihrer Glaubensverbreitung sehr um die schulische Bildung der Kinder kümmern, grassierten hier nur Analphabetismus und Unwissenheit.
Im Übrigen ist die medizinische Versorgung deiner Schutzbefohlenen nicht vorhanden, null und nichtig. Ich habe Menschen mit Wirbelsäulenverkrümmungen gesehen, die auf allen Vieren laufen, andere tragen kiloschwere Krebsgeschwülste auf dem nackten Bauch, die Zähne der Älteren sind zu Stummeln verfault und sie können nur noch Brei und Flüssigkeit zu sich nehmen. Dazu kommen Augenerkrankungen, Rachitis, Unterernährung, ekelhafte Hautkrankheiten. Da sie ihr Trinkwasser aus dem verschmutzten Fluss nehmen müssen, grassieren Magen- und Darmerkrankungen mit häufigen Durchfällen und blutigem Auswurf aus Rachen und Darm.’
Ich musste Carlotta tatsächlich gestehen, dass ich von all diesen Missständen nichts wusste. ‚Ich habe nie die Hütten meiner Arbeiter besucht’, sagte ich ihr, ‚ich habe auch nie längere Gespräche mit den Arbeitern führen können, weil ich immer, wenn ich hier war, geschäftliche Probleme zu erledigen hatte. Ich musste Bilanzen prüfen, Änderungen in den Plantagen mit meinen Verwaltern besprechen, neue Absatzmärkte finden, Warentermingeschäfte absegnen, Steuerprobleme meistern und hatte keine Zeit, um mich noch um das Privatleben meiner Arbeiter zu kümmern. Ich dachte, dass liege bei meinen Verwaltern in den besten Händen, und habe auch nie irgendwelche Klagen oder Beschwerden von den Arbeitern gehört.’ ‚Weil du nur in deinen abgehobenen Gesellschaftskreisen verkehrst und du dich für die Alltagsprobleme der Arbeiter, die dir dein Vermögen erarbeiten und erarbeitet haben, nicht interessierst’, erwiderte Carlotta. ‚Wahrscheinlich ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass dein Sternenflug nur möglich ist, weil dir deine Arbeiter als Raumschiff dienen.’
Das war so eine der typischen Carlottaschen Formulierungen! Ich konnte ihr wirklich nicht böse sein, wenn sie mich auf eine solche Weise anfauchte, aber ich wusste auch nicht, wie ich mich verhalten sollte, um ihren Zorn zu beschwichtigen. Meine Farm wurde nach marktwirtschaftlichen Prinzipien geführt und war zur damaligen Zeit fast das einzige meiner Unternehmen, das nicht mit Verlust arbeitete. Was also sollte daran geändert werden? Und mit den Landarbeitern? Sie hatten ihre Parzelle Land bekommen. Sie lebten am Fluss, hatten Wasser, konnten Fische fangen und ihre Feldfrüchte gegen Geld eintauschen, das ihnen irgendwelche Touristen, die ihre Ausflüge auf dem Fluss machten, gerne abkauften, und wurden letztlich auf meiner Fazenda nicht schlechter behandelt als auf anderen Fazendas auch. Sollte ich diesen Zustand ändern wollen, musste ich zum Revolutionär werden, musste mich mit Gleichgesinnten verbünden und mich in den Urwald zurückziehen, um den mörderischen Milizen meiner, über solches Vorgehen empörten Fazendakollegen zu entgehen. Dazu fühlte ich mich nun ganz und gar nicht berufen. Ich sagte Carlotta dann auch einige Worte in diesem Sinne.
Das kam bei ihr nun gar nicht an. ‚Soweit ich das von deinen Verwaltern erfahren habe, liegen fast neun Zehntel deines Landes brach. Der größte Teil davon könnte beackert werden. Du brauchst dieses Land nicht, weil du nach deiner eigenen Aussage mit dem Zehntel, das bearbeitet wird, gute Profite machst. Also könntest du doch wenigstens die Hälfte deiner Brache an bedürftige Bauern verteilen oder ihnen doch wenigstens ohne Pacht auf Lebenszeit zur Nutzung überlassen.’ ‚Und wo nehme ich dann meine Landarbeiter her?’, fragte ich. ‚Die hätten ja als Erste eine solche Landzuteilung verdient und ich müsste sie dann auch als Erste mit Land ausstatten.’ ‚Ganz richtig’, sagte Carlotta, ‚aber du könntest sie verpflichten, so lange ihre Arbeit zu tun, bis Ersatz für sie gefunden ist. Und solch ein Ersatz würde sich ja leicht finden lassen, wenn die neuen Arbeiter wüssten, dass sie in zehn Jahren auch mit einer Landzuteilung rechnen könnten.’
‚Das brächte mich um mein ganzes Land! Oder glaubst du, dass die Flut noch zu stoppen wäre, wenn einmal der Damm gebrochen ist? Wenn ich einen Teil meines Landes unter die landlosen Bauern verteile, so werden ihnen Tausende folgen und den restlichen Teil besetzen. Wahrscheinlich würden sie mir von meinem Zehntel auch noch was wegnehmen. Und keine Macht der Welt könnte von ihnen oder ihren Kindern das Land noch einmal zurückfordern, auch die staatliche Justiz nicht. Ich müsste ebenso wie meine Kollegen eine Söldnertruppe engagieren und bezahlen, um meine Rechte mit Gewalt zu verteidigen und dann wäre der Bürgerkrieg da.’
‚Alles Vermutungen, Theorien, die du nicht beweisen kannst und die deine Untätigkeit rechtfertigen sollen’, antwortete Carlotta. ‚Du müsstest auch mit kleinen Schritten anfangen, so dass dein Vorgehen überhaupt nicht überregional bekannt würde’, meinte sie, ‚aber du müsstest anfangen, sonst ist wegen dieser schreienden sozialen Ungerechtigkeit mit viel größerer Wahrscheinlichkeit mit einem Bürgerkrieg zu rechnen als im Falle einer von dir initiierten Landreform. Und dann läufst du wirklich Gefahr, deinen ganzen Besitz zu verlieren.’
‚Ich werde den Teufel tun und freiwillig meinen Besitz abgeben und auf meine Rechte verzichten!’, erwiderte ich. ‚Alle meine geschäftlichen Tätigkeiten sind darauf ausgerichtet, Geld zu verdienen und meinen Besitz zu vergrößern. Es wäre doch verrückt, wenn ich jetzt anfinge, mein Land, meinen Besitz zu verschenken. Eine Umgestaltung der Besitzverhältnisse des brachliegenden Landes kann auch nur im Rahmen eines Gesamtplanes organisiert werden. Da sind auch volkswirtschaftliche Gesichtspunkte zu beachten. Für bestimmte landwirtschaftliche Produkte gibt es schon jetzt Absatzschwierigkeiten. Wenn von heute auf morgen sich die landwirtschaftliche Produktion verdoppeln oder verdreifachen würde, sänken die Preise so in den Keller, dass sich für keinen Bauern, ob Klein- oder Großagrarier die Arbeit noch lohnen würde. Unsere Wirtschaft müsste kollabieren und wir hätten ein größeres Heer von Arbeitslosen und Hungerleidern als heute. Also überlassen wir die Regelung dieser Angelegenheiten weiter den Politikern, aber kümmern wir uns um das Wohlergehen unserer eigenen Arbeiter!
Ich werde die Verwalter anweisen, dafür zu sorgen, dass die Arbeiter menschenwürdige Behausungen bekommen mit Strom und fließendem Wasser und dass auch ein Arzt und eine Krankenschwester für die Fazenda eingestellt werden und dass eine Fazenda eigene Schule eingerichtet wird, so dass diese schrecklichen Missstände, von denen du mir berichtet hast, verschwinden. Ich kann auch noch ein Zweites tun und die Parzellen meiner Arbeiter auf die doppelte Größe verändern lassen, aber mehr kann ich nicht tun – außer darauf hinzuweisen, dass diese Veränderungen auf dein Konto gehen, dass du sie veranlasst hast.’
Als ich dies gesagt hatte, gab mir Carlotta zum ersten Mal einen Kuss. ‚Ich wusste ja, dass du nicht so schlecht bist wie dein Ruf. Aber ruf jetzt bitte deine Verwalter zu dir und setz deine Pläne sofort ins Werk.’ Ich gab denn auch sofort die nötigen Anweisungen, und Carlotta und ich waren die nächsten Tage ununterbrochen damit beschäftigt, die sozialen Veränderungen, die ich so unbedacht in den Mund genommen hatte, in Gang zu bringen.
Es dauerte dann doch länger, als ich gedacht hatte, aber nach einem halben Jahr waren alle Vorhaben verwirklicht. Sie kosteten mich nicht wenig, brachten mir auf die Dauer aber sogar Gewinn. Denn das Arbeitsklima wurde dadurch auf meiner Fazenda erheblich verbessert und damit auch die Qualität und Produktivität des ganzen Betriebes, der heute zu den besten in ganz Brasilien auf diesem Sektor gehört. Von da ab verschonte mich Carlotta auf meiner Fazenda mit weiteren revolutionären Ideen, und wir hatten eine sehr harmonische und sogar glückliche Zeit miteinander, obwohl auf sexuellem Gebiet nichts zwischen uns passierte.
Wir flogen von Blumenau wieder zurück nach Rio und traten unsere Reise an. Carlotta hatte sich einen weißen Tropenanzug zugelegt, den sie fast immer trug. Aus Solidarität folgte ich ihrem Beispiel und so absolvierten wir unsere Reise ganz in Weiß. Carlotta hatte sich die Haare nicht mehr schneiden lassen, seit sie in Brasilien war, und trug ihre Haarpracht schulterlang, so dass sie mit ihren blonden Locken und ihrem weißen Anzug wie ein Engel aussah.
Zunächst machte sie mit ihrer Erscheinung kein Aufsehen, da wir zuerst die Wasserfälle von Iguacu besuchten und uns also in die Schar der üblichen Touristen einreihten. Als sie aber in Ouro Preto ihr erstes Konzert mit den Goldberg Variationen von Bach gegeben hatte, schwärmte die Presse bereits von ‚Engelsmusik’, von ‚himmlischen Harmonien’, von der ‚Harfenistin des Herrn’, die ‚auf die Erde hernieder gestiegen’ sei und den Konzertsaal in Ouro Preto für anderthalb Stunden in ein ‚überirdisches Paradies’ verwandelt und die Zuhörer in ein ‚Elysium der reinsten Freude’ entrückt habe.
Carlotta wollte sich aber nicht in die Engelsrolle zwängen lassen und spielte in Brasilia Gershwin, Strawinsky und Ungarische Tänze von Dvorak und Brahms. Aber die Begeisterung des Publikums und der Presse hielt an. Bilder von ihr tauchten im ganzen Land auf, in Zeitungen, Illustrierten und Wochenschauen. Und da ich ständig an ihrer Seite war, so kam auch ich zu den Ehren öffentlicher Würdigungen. Einige findige Reporter hatten auch bald die bescheidenen Änderungen herausgefunden, die auf meiner Fazenda im Gange waren. Und sie entdeckten auch, dass diese Änderungen auf Betreiben Carlottas in Gang gesetzt worden waren.
Dieses hatte ungeahnte Auswirkungen auf viele landlose Bauern und in Armut lebende Stadtbewohner, die in Carlotta so etwas wie einen weiblichen Messias zu sehen begannen. Kurz: Carlotta fiel auf und fokussierte die Hoffnungen vieler Not leidender Menschen auf ihre Person. Als wir einige Tage in einem Hotel in Manaus abstiegen, weil Carlotta ein Konzert in dem Opernhaus von Manaus geben sollte, waren wir von Tag zu Tag mehr erstaunt, wie viele Bettler und kranke Menschen sich in der Straße versammelten, in der das Hotel lag.
Ich hatte einer allein erziehenden, obdachlosen Mutter, die jeden Spätnachmittag ihren Platz auf der Treppe des Hotels bezog, um unter dem die Treppe überwölbenden Baldachin in der Nacht gegen Regen geschützt zu sein, auf Drängen Carlottas 100 Cruzeiros geschenkt und damit eine Kettenreaktion ausgelöst. Am nächsten Tag hatten sich bereits fünf allein stehende Mütter versammelt, um mich ganz gezielt anzusprechen und um Geld für einen Kinderwagen, ein Paar Schuhe, ein Kleid, eine Babybadewanne, eine Nähmaschine zu bitten.
Der Portier des Hotels riet mir, keine der Frauen anzuschauen und ihnen keinen Cruzeiro zu geben, weil ich sonst eine Völkerwanderung in diese Straße auslösen könnte, eine Menschenlawine, die niemand mehr unter Kontrolle halten könne und die letztlich alle Geschäfte, die an der Straße lägen, plündern und wie die Heuschrecken nur noch kahl gefressene Theken zurücklassen würden.
Es gelang mir auch tatsächlich, das Spalier der Frauen blind und taub zu passieren, aber Carlotta, die sich ja mittlerweile Kenntnisse der portugiesischen Sprache angeeignet hatte, blieb bei jeder stehen, ließ sich ein Kind in den Arm drücken und die Not und die Bedürfnisse jeder einzelnen haarklein auseinanderlegen. Wie aus dem Nichts tauchten dann auch die ersten Reporter auf, und damit war es auch um meine Blindheit und Taubheit geschehen. Ich musste mich also zu Carlotta stellen, mir auch rechts und links von den Frauen ein Kind in den Arm drücken lassen und mir ihre katastrophale Lage mit drastischen Worten schildern lassen. Die Frauen merkten natürlich, dass sich die Situation erheblich zu ihren Gunsten gewendet hatte, und erhoben jetzt sehr viel weitreichendere Forderungen.
Sie hatten auch begriffen, dass die Frau, die die Nähmaschine haben wollte, sich damit eine eigene Existenz aufbauen wollte, und jetzt kamen die anderen auf dieselbe Idee. Die Frau mit dem Kinderwagenwunsch ergänzte ihre Liste um eine Heißmangel, die Frau mit dem Schuhwunsch wollte jetzt eine Schuhreparatur- und Putzausrüstung, die Frau mit dem Kleiderwunsch wollte jetzt eine Strickmaschine, und die Frau mit der Babybadewanne eine große Waschmaschine.
Alle wollten mit diesen Geräten ihren eigenen kleinen Betrieb eröffnen und baten mich um meine Bürgschaft für die Anmietung eines kleinen Geschäftlokals, um dort ihre Dienste anzubieten. Ich sah Carlotta an und Carlotta nickte mit dem Kopf. Das hieß, ich solle die Wünsche der Frauen erfüllen. Als sie das helle Entsetzen auf meinem Gesicht sah wegen dieser Zumutung, sagte sie auf Deutsch: ‚Sie müssen das Geld nur vorstrecken. Mein Konzert ist ausverkauft. Ich habe daraus so viele Einnahmen, dass ich Ihnen das Geld zurückgeben kann.’
Sie sprach mich wieder mit ‚Sie’ an, was bei ihr zu einer ständigen Gewohnheit wurde, wenn sie mit meinem Verhalten nicht einverstanden war. Damit bewirkte sie auch meistens, dass ich schwach wurde und ihr nachgab. Auch jetzt konnte ich mich nicht mehr aus der Affäre ziehen und sagte den Frauen die Erfüllung ihrer Wünsche zu.
Das sollte ungeahnte Folgen haben. Denn die Reportage über dieses Ereignis stand am nächsten Morgen in der Zeitung. Und es erfüllte sich die Voraussage des Portiers: Die bedürftigen Massen kamen, aber sie plünderten nicht und sie bettelten nicht. Sie wollten nur Carlotta sehen.
Ich warnte Carlotta, das Hotel zu verlassen. Aber ebenso gut hätte ich einen Papagei auffordern können, das Krächzen zu unterlassen. Carlotta ging auf die Straße und begrüßte die Menschen und lud sie ein, ihr zum Opernhaus von Manaus zu folgen. ‚Ich muss für mein Konzert heute Abend einen Soundchek machen’, sagte sie. ‚Wenn ihr wollt, so könnt ihr dabei sein. Ich werde fast mein ganzes Programm von heute Abend spielen.’
Die Leute freuten sich und klatschten. Darauf zog Carlotta an der Spitze der Volksversammlung los und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Carlotta hängte sich bei mir ein, aber nur um mein Ohr besser zu erreichen. ‚Wie wäre es’, raunte sie mir ins Ohr, ‚wenn du während meines Konzertes für die Speisung der Menschen nach dem Konzert Vorsorge treffen könntest? Vor dem Opernhaus gibt es den großen Platz. Dort könnten Stände mit Backwaren, Früchten und Grillware eingerichtet werden. Wenn du in das Branchenverzeichnis schaust, wirst du genug Bäcker, Metzger und Obsthändler finden, die sich eine Ehre daraus machen werden, ihre Waren zum Opernplatz zu transportieren und für dein Geld dort an die Armen zu verteilen. Du gibst auf deinem Schloss ja auch ab und zu Feste für Hunderte von Prominenten, die in ihren Essgewohnheiten viel anspruchsvoller sind, als es diese armen Menschen hier sein werden. Es wird dich also bei weitem nicht so viel kosten. Und du hast die Genugtuung, auch etwas für die Armen getan zu haben. Ich trage doch schon die Kosten für die fünf Frauen!’
Sollte ich mich von diesem jungen Mädchen lumpen lassen? ‚Kein Problem’, sagte ich, ‚die Sache zu organisieren! Aber wer bürgt in dieser Zeit, in der du mit den Menschen in der Oper allein bist, für deine Sicherheit?’ ‚Chopin’, sagte sie, ‚Brahms, Villa Lobos, Johann Strauß, Gershwin!’ ‚Dann bist du allerdings in guten Händen!’, erwiderte ich. ‚Vielleicht freuen diese sich, wenn du durch eine Panik der Leute oder ihre Zuneigung so verdrückt wirst, dass du ihnen im Himmel Gesellschaft leisten kannst!’
‚Keine Sorge, ich habe die Menge im Griff!’, antwortete sie, ‚ich bin auch ein Kind der Vorstädte und weiß, wie man mit diesen Menschen umgehen muss. Ich spreche ihre Sprache und ich kenne ihre Probleme und ich nehme sie ernst. Das spüren sie. Sie werden meine besten Beschützer sein. Aber für dich ist es besser, dich aus unserer Mitte zu entfernen. Denn vielleicht gibt es unter ihnen einige ehemalige Arbeiter von deiner Fazenda, die noch die Zeiten gekannt haben, als es keinen Strom und kein fließendes Wasser, keine medizinische Versorgung und keine Schule gab.’ ‚In Ordnung’, sagte ich. ‚Widme sich jeder seiner eigenen Aufgabe, aber wenn ich das Essen organisiert habe, dann komme ich auch noch in die Oper!’ ‚Ich werde dir dann eine Bearbeitung von Telemanns Tafelmusik spielen!’, sagte sie und gab meinen Arm wieder frei.
Carlotta gab die Neuigkeit sofort der begeisterten Menge bekannt und schlug vor, den restlichen Weg zum Opernhaus tanzend und singend zurückzulegen. Und so erlebte Manaus eine groteske Prozession von mit ihren Krücken oder auf allen Vieren tanzenden Körperbehinderten und Bettlern, von singenden, klatschenden und die Beine schmeißenden Müttern und Kindern. Natürlich wurde die Polizei auf diese Humpeltanzprozession und Katzenmusikkarawane aufmerksam, aber die gute Laune dieser Menschenmenge und ihre Friedlichkeit steckten die Polizisten an, so dass auch sie zu schunkeln und zu klatschen begannen und somit in Manaus der erste Straßenkarneval im Sommer stattfand. Ich machte noch ein paar Fotos von dem spektakulären Ereignis und suchte dann schleunigst unser Hotel auf, das ich Carlotta nach dem Aufenthalt auf der Amazonas-Lodge ausnahmsweise hatte schmackhaft machen können.
Dort half mir der Portier, die benötigten Dienste der Bäcker, Metzger und Obsthändler anzufordern und auch, nachdem ich ihm erklärt hatte, worum es ging, die Veranstaltung auf dem Opernplatz zu organisieren. Der Geschäftsführer des Hotels, der an Carlotta einen Narren gefressen hatte, gab dem Portier frei und setzte sich selber an seine Stelle. Der Portier und ich eilten danach, so schnell wir konnten, zur Oper, um dort die Regie, was die Speisung der eintausend Karnevalisten betraf, in unsere Hände zu nehmen.
Auf dem Opernplatz waren schon die ersten Lieferwagen der beauftragten Händler angekommen. Der Portier hatte mir geraten, in allererster Linie Marktleute zu beauftragen, weil diese zugleich über Buden, Tische und Kochvorrichtungen verfügten, um ihre Ware auszubreiten oder anzufertigen. Der Rat des Portiers zahlte sich aus. Die Marktleute wussten sich zu arrangieren und ihre Stände in aller Eile aufzubauen. Nach anderthalb Stunden war der Opernplatz ein perfekter Basar und ein duftendes und buntes Freiluftrestaurant, und die erwarteten Gäste konnten kommen.
Ich malte noch schnell ein Plakat für Carlotta: ‚Restaurant Carlotta eröffnet’ und ging damit in das Opernhaus. Ich ging in eine mittlere Loge, die natürlich mit Sitzenden und Stehenden überfüllt war, aber die schweigend zuhörenden Menschen machten mir Platz, ließen mich bis zur Brüstung vorgehen, so dass ich für Carlotta sichtbar das Plakat hochhalten konnte. Sie spielte entrückt Bach, die erste Englische Suite, und die Menschen hörten ihr atemlos zu. Carlotta signalisierte mir, dass sie das Plakat gesehen hatte, und ich zog mich darauf wieder an den Eingang des Theaters zurück, wo der Portier schon auf mich wartete. Er hatte noch in einem nahe liegenden Papierwarengeschäft einige Rollen Eintrittskarten gekauft, die wir den aus dem Opernhaus herausströmenden Menschen in die Hand drücken wollten und die besagten, dass sie auf dem Opernplatz berechtigt waren, nach Wunsch zu konsumieren.
Da die Türen zur großen Halle offen standen, konnten wir hören, wie Carlotta die Suite zu Ende spielte und ihre Zuhörer noch zu dem Spiritual ‚Amazing Grace’ begleitete. Dann informierte sie ihr Publikum, dass das Restaurant auf dem Opernplatz für es geöffnet sei. Darauf setzte sich mit einer Würde und Ruhe, die man diesen Menschen nie zugetraut hätte, die Karawane in Bewegung und kam zum Ausgang, wo wir, der Portier und ich, den Besuchern die Eintrittskarten in die Hand drückten und sie darauf aufmerksam machten, dass diese als Berechtigungsscheine für den Genuss des Festmenüs gedacht waren, das sie auf dem Opernplatz erwartete. Das Essen verlief ohne alle Zwischenfälle und Carlotta konnte auch einige Helfer rekrutieren, die für Sauberkeit auf dem Platz sorgten. Allmählich verlor sich auch die Menge und nur noch der Portier, Carlotta und ich und natürlich die Händler blieben übrig.
Wir gönnten uns jetzt alle gemeinsam auch noch ein gutes Essen, und es zeigte sich, dass die Händler doch noch einige der offiziell ausgegangenen Hähnchen und Schalentiere zur Paella zurückbehalten hatten, die wir jetzt mit Genuss verspeisten. Darauf bat ich alle Händler um ihre Rechnungen, die sie zum größten Teil auch schon geschrieben hatten, und beglich meine Schulden mit Schecks. Und jetzt passierte mir das Ungeschick, dass ich Carlotta gegenüber die eigentlich nur flapsig gemeinte Bemerkung machte, sie habe mich doch sehr auf Kosten getrieben und wenn das so weitergehe, dann würde ich bald Bankrott machen und mit meinen Unternehmungen in Konkurs gehen.
Alles hätte ich sagen dürfen – nur das nicht. Ich bemerkte sofort, wie Carlottas Gesicht versteinerte. ‚Wenn Sie immer noch nicht begriffen haben, dass Sie hier einen im Verhältnis zu Ihrem Vermögen lächerlichen Beitrag zu einem Projekt beigetragen haben, das der Förderung der Solidarität von Arm und Reich, von Arm und Arm, von Arm und Kultur, von Europa und Lateinamerika gedient hat und vielleicht in alle Welt ausstrahlen wird, so ist Ihre Person an meiner Seite fehl am Platz und Ihr ererbtes Geld unerwünscht. Mein Impresario hat mir mitgeteilt, dass das heutige Konzert ausverkauft ist und dass eine so große Nachfrage nach einem zusätzlichen Konzert besteht, dass ich ein zweites Mal den großen Saal des Opernhauses füllen kann. Ich werde dieses Konzert geben und mit dem Erlös meine Schulden bei Ihnen bezahlen; und danach werden sich unsere Wege trennen’, sagte sie mir mit schneidender Schärfe. ‚Außerdem ziehe ich mit sofortiger Wirkung aus meinem Einzelzimmer im Hotel aus. Es haben sich bereits genug Gerüchte um unsere gemeinsame Reise und unsere etwas ungewöhnliche Beziehung gebildet, und ich bin entschlossen, diesen Vermutungen und falschen Unterstellungen ein Ende zu bereiten. Wenn Sie mir noch etwas mitzuteilen haben, so können Sie das über meinen Impresario erledigen!’
Das war ihre Rede und zur Verblüffung unserer ganzen Gesellschaft stand sie auf und verließ das ‚Restaurant Carlotta’, in dem es uns noch einige Minuten zuvor so gut gegangen war. Von da an war sie für mich nicht mehr zu sprechen. Sie überwies mir tatsächlich die ihr bekannte Summe, die ich für die Speisung der Tausend ausgegeben hatte. Einige Tage später und von ihrem Impresario hörte ich, dass diese Veranstaltung die zweite Probe gewesen sei – nach der Geschichte mit Elvira, –die ich nicht bestanden hätte, und dass unsere ‚Wellenlängen’ und ‚sozialen Einstellungen’ doch zu verschieden seien, um sich noch weiter ‚auf den Wecker’ zu gehen. Sie führte noch ihre Tournee in Begleitung ihres Impresarios zu Ende und ich war von weitem immer dabei, aber sie behandelte mich von da an wie einen Fremden, selbst wenn wir im Flugzeug nebeneinander saßen.“
„Sie haben es bedauert, dass Carlotta Ihnen die Freundschaft gekündigt hat?“, fragte Frau Schayani. „Bedauert ist ein zu schwacher Ausdruck“, sagte ich. „Ich war aus dem Paradies vertrieben worden, mein Lebensfaden war abgeschnitten, ich war wieder in der Hölle oder Vorhölle.
Für kurze Zeit war mir mein Leben sinnvoll, ausgefüllt, glücklich, würdig erschienen. Es war mir die Erkenntnis aufgegangen, dass unser Leben erst wesentlich wird, wenn man einer guten Sache dient. Und Carlottas Musik, Carlottas soziales Engagement waren eine gute Sache. Und Carlotta erschien mir wie ein Engel, der mir vom Himmel geschickt worden war, um Ordnung und Halt in mein konfuses, selbstzerstörerisches und letztlich unerfülltes Leben zu bringen. Und dieses Zentralgestirn, um das ich mein ganzes Leben wie ein Planet hätte kreisen können, hatte mich abgestoßen wie ein lästiges Artefakt, wie ein unnützes Kunstprodukt, das keinen Platz im Zusammenhang des Lebens hat. Ich war seelisch vernichtet und mein Körper fing von dieser Zeit an ebenso zu versagen wie mein Fühlen. Wenn ich noch eine Wahrnehmung meiner selbst hatte, dann die eines klappernden Automaten, einer rasselnden, scheppernden, aus den Fugen geratenen Maschine.“
„Haben Sie Carlotta denn nicht gesagt, dass Ihr Ausspruch in dem von Ihnen so genannten Restaurant ‚Carlotta’ nicht ernst gemeint war?“, fragte Frau Schayani. „Ich habe es einmal versucht, aber ich traf auf so ein Unverständnis, so eine Ungläubigkeit, so eine höhnische Ironie, dass ich in Zukunft geschwiegen habe“, antwortete ich. „Letztlich wurde ich durch Carlottas Verhalten auch so verwirrt, bekam solche Selbstzweifel, dass ich mir selber den gleichen Zynismus unterstellte, den Carlotta mir auch unterstellte. Ich war ehrlich der Meinung, dass ich zu geizig sei, um einmal ein Menschenleben wichtiger zu nehmen als mein Vermögen. Dieser Meinung war ich in meiner illusionslosen Selbsteinschätzung schon gewesen, bevor ich Carlotta getroffen hatte, aber in der Zeit unserer Freundschaft hatte sich diese Vorstellung verflüchtigt und begann erst wieder in mir Raum zu greifen, als Carlotta von mir verlangte, auch für andere Menschen als sie Verantwortung zu übernehmen und ihrer Not mit Geldspenden abzuhelfen.“
„Die Zeit war natürlich zu kurz, um sich so radikal zu ändern, wie Carlotta es von Ihnen erwartete, aber Sie haben danach ja bemerkenswerte Versuche gemacht, ein anderes Leben zu führen“, bemerkte Frau Schayani. „Sie konvertierten zum katholischen Glauben, Sie begannen Ihre sozialkritische Kolumne in dem bekanntesten deutschen Boulevardblatt ‚Nichts als die Wahrheit’ zu schreiben, Sie begannen Ihren brasilianischen Arbeitern Löhne zu zahlen!“
„Es waren schwächliche Versuche, selber in die Bahn einzuschwenken, die Carlotta gespurt hatte, aber ohne Carlottas Beistand, ohne Kontakt zu ihr versandeten diese bereits im Beginn halbherzigen Bemühungen. Und letztlich hat meine fortschreitende Krankheit diese Initiativen, was die Praktizierung der katholischen Religion und die Beibehaltung der Kolumne betrifft, zunichte gemacht“, bekannte ich.
„Nun seien Sie mal nicht zu selbstkritisch“, ließ sich aus dem Hintergrund Pater Kallmann vernehmen. „Ich kenne zufällig einige der Summen, die Sie für die Ausbildung des katholischen Priesternachwuchses gespendet haben, und soviel ich weiß, haben Sie in einem Flügel Ihres Schlosses die Räume für ein katholisches Kongresscenter bereitgestellt. Ich darf Ihnen hierfür, stellvertretend für unsere Firma und unseren Chef meinen herzlichsten Dank aussprechen!“
Ich antwortete hierauf etwas getröstet und daher ebenso locker wie der Wirtschaftsleiter: „Bei meinem derzeitigen Gesundheitszustand wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis ich in das Reich des Chefs einziehen werde. Daher kann ich nicht genug tun, um mir einen guten Empfang zu sichern. Sie sehen, mein ganzes Handeln ist nur von Egoismus motiviert.“
Jetzt meldete sich auch der Abt zu Wort. „Es gibt keine vollkommenen menschlichen Bestrebungen, nehmen wir die Musik mal aus; aber sollen wir alle Versuche uns zu bessern deswegen verurteilen? Ich kenne nicht die Summen, die Sie der Kirche gespendet haben, aber ich entnehme Ihrer Erzählung, dass Sie eine gewisse Liebe zu weiblicher Schönheit, Güte und Genialität haben, die Carlotta für Sie verkörpert hat und, wie man fühlen kann, immer noch verkörpert. Sie glauben also genau wie wir religiösen Profis an eine vollkommenere Form des Lebens, des Verhaltens, des Bestrebens der Menschen. Und da wir diese höhere Form des Daseins nicht in uns selbst finden können, denn wir sind ja eigentlich nicht mehr als ein ziemlich wässeriger Klumpen Materie, so muss es einen vollkommeneren Geist geben, für dessen Eindringen wir unsere Materie öffnen können, damit er sie veredele, vervollkommne und in seltenen, musikalischen Momenten auch vollende. Und indem Sie an das Vorhandensein eines solchen Geistes in Carlotta glauben und ihn lieben, glauben Sie – wie wir – auch an ein vollkommenes Sein, das in dieser Welt zu finden ist. Wir nennen es Gott; aber was tut es, wenn man es auch Carlotta, das Tadsch Mahal, die vollendete Unvollendete von Schubert oder Bachs Goldberg Variationen nennt. Sie lieben das Vollkommene und damit lieben Sie Gott. Sie sind ein wahrer Gläubiger und kein Zyniker. Und ich freue mich darauf, Sie in unserem Kloster begrüßen und willkommen heißen zu dürfen.“
Ich nahm diese Analyse ungläubig, aber unwidersprochen an und Frau Schayani meinte, dass sie mir nichts Besseres sagen könne, als es der Abt getan habe, und dass, falls wir noch eine Schlossbesichtigung machen wollten, es jetzt höchste Zeit dafür sei, da, wie mir bekannt, ihre Firma, ihre Familie immer um sechs Uhr mit dem Abendessen auf sie warte. Ich stimmte ihr zu, und so zogen wir gemeinsam durchs Schloss und mit der Freude, mit der ich meine Besucher instruierte, merkte ich, dass der Abt wirklich Recht haben könnte und ich ein wahrer Liebender sei, der nicht nur das Vollkommene liebe, sondern auch die eigene Sippe, ihre Geschichte und auch ihre menschliche Größe wie ihre menschlichen Schwächen. Und ich konnte mich in diesem Augenblick und in genau diesem Sinne auch selbst lieben und annehmen.