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Erotische Abenteuer des Fürsten
ОглавлениеIch habe Frau Schayani nicht gesagt, dass sich meine Mutter mir bei ihren Besuchen nach dem Tod meines Vaters nicht nur einmal, sondern mehrmals nackt gezeigt hat. Und ich glaube heute, dass sie sogar zum Inzest bereit gewesen wäre und nur mein völliges Desinteresse diesen verhindert hat.
Mich bewegt seitdem die Frage, wie kommt eine Frau, die ihr Kind nicht angenommen hat, dazu, sich inzestuös damit vereinigen zu wollen? Soll die sexuelle Liebe die vorenthaltene Mutterliebe wieder gut machen? Empfand meine Mutter ihre Trennung von meinem Vater und mir als Schuld und hatte uns gegenüber ein schlechtes Gewissen und Hemmungen, mit uns weiter vertraut umzugehen? Wollte sie mich auch in diesen Schuldstrudel hineinziehen, um mit mir auf einer Ebene der Gleichheit kommunizieren zu können? Suchte sie also die Gemeinsamkeit, die Komplizen einer schlechten Tat scheinbar verbindet, mit mir? Oder war sie von ihrem neuen Partner sexuell unerfüllt geblieben, sie hatte auch keine weiteren Kinder bekommen, und brachte sie ihre sexuelle Not dazu, selbst mit ihrem eigenen Kind kopulieren zu wollen? Hatte ich sie durch meine erotisch gefärbten Briefe, die ja nur die Rückgewinnung der verlorenen Mutter zum Ziel gehabt hatten, auf solche Gedanken gebracht? Ich habe diese Fragen tausendfach in meinem Gehirn gewälzt und konnte zu keiner Erklärung dieses rätselhaften Verhaltens kommen. Vielleicht hätte Frau Dr. Schayani eine Antwort, aber ich weiß nicht, ob ich ihr diese Frage bei ihrem nächsten Besuch stellen werde.
Es würde mir auch schwer fallen, Frau Schayani diese Frage zu stellen, weil ich mich mittlerweile nicht mehr nur für sie als Psychotherapeutin interessiere, sondern auch als Privatperson. Ich habe Hubertus gebeten, mich mit seiner Enkelin zum Tee zu besuchen, um einige psychologische Themen, für deren Erörterung bei den Besuchen von Frau Schayani keine Zeit bliebe, zu erörtern.
Ich hatte tatsächlich einige solcher Probleme, wie z.B. das Problem der Schlaflosigkeit gerade in solchen Zeiten, da ich mich bemühte solide und gesund zu leben und mich mit Alkohol und fettem Essen zurückzuhalten. Mich beherrschte auch eine beständige Unruhe. Ich konnte es nicht mit mir allein aushalten und musste dauernd Gesellschaft um mich haben und irgendwelche Programme unterhaltsamer Art absolvieren.
Auch war ich sehr sprunghaft in meinen Aktivitäten. Wenn ich mir vorgenommen hatte zu arbeiten, so packte ich oft schon nach einer halben Stunde meine Papiere wieder zusammen, griff zu meiner Flinte und durchstöberte meinen Wald nach irgendetwas Jagdbarem. Aber auch diese Aktivität brach ich bereits nach kurzer Zeit wieder ab und besuchte einen befreundeten Maler, um mit ihm über Gott und die Welt zu diskutieren.
Ich erhoffte von der jungen Studentin einige Erklärungen für diese Phänomene und vielleicht auch einige Tipps, wie ich damit fertig werden könnte. Gleichzeitig hoffte ich auf unauffällige Weise das Gespräch in Richtung Frau Professor zu lenken, um vielleicht einige Informationen über das Privatleben meiner Ärztin zu erhalten. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, falls die Professorin noch frei sein sollte, sie für meine generativen Absichten zu benutzen, falls meine Gesundung so weit fortschreiten sollte, dass ich mich auch ohne Furcht vor einem Kreislaufkollaps oder Herzinfarkt, wieder sexuell betätigen könnte. Aber mein Vertrauen in ihre therapeutische Kompetenz und freundliche Menschlichkeit war so groß, dass ich doch eine persönliche Beziehung zu ihr wünschte: als gute Freundin, vielleicht auch gelegentliche Reisebegleitung oder Gastgeberin an meiner Seite bei unseren traditionellen gesellschaftlichen Veranstaltungen auf meinem Schloss, und vielleicht – wer weiß schon immer, was noch alles in seinem Hinterkopf vorgeht – doch noch als Geliebte, Ehefrau und Mutter meiner legitimen Kinder. Kurz: die Bekanntschaft mit Frau Schayani tat mir gut, aber verwirrte mich auch.
Der gute Hubertus war natürlich sehr stolz, dass ich seiner Enkelin zutraute, mich quasi neben Frau Schayani psychologisch zu beraten. Und auch seine Enkelin war mutig genug, meinem Ansinnen entgegenzukommen.
Sie sei zwar noch Studentin, wenn auch bereits im zehnten Semester, aber sie habe doch schon bei ihren Praktika in verschiedene „Seelenklemptnerbetriebe hineingerochen“, wie sie burschikos formulierte, und einige Erfahrungen gemacht, die ihr unter Umständen die Fähigkeiten vermittelt hätten, die eine oder andere psychische Ungewöhnlichkeit zu verstehen und zu behandeln. Sie gewähre ihre Hilfe allerdings nur unter Vorbehalt und ohne Honorar. Das Risiko liege beim Patienten.
Mir gefiel diese klare und freimütige Sprache und da die psychotherapeutische Behandlung sowieso nicht der Hauptanlass für diesen Kontakt war, so sprach ich sie von aller Haftung für eventuelle Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen frei und vertraute mich „bedingungslos“ ihren Dispositionen an.
Gegen meine Schlafstörungen verordnete sie mir darauf frühes Aufstehen, tägliche harte körperliche Arbeit – „Sie haben doch genug Wald. Da wird es doch ausreichend Arbeit für Sie geben! Bäume fällen, Hochstände für die Jagd errichten, Wildäcker anlegen, Schonungen pflanzen, Wege anlegen, Ge- und Verbotsschilder aufstellen usw.“ – und ein ausgewogenes, maßvolles Essen und Trinken!
Meine Unruhe versuchte sie mit Yoga und täglicher Meditation unter Kontrolle zu bringen, und meine Sprunghaftigkeit, indem sie mir nahe legte, mir klare wirtschaftliche Ziele zu setzen, diese auch zeitlich zu fixieren und jeden Tag eine Etappe festzulegen, die ich auf dem Weg zu diesen Zielen zurückzulegen hätte. Jeden Abend hätte ich mir Rechenschaft darüber abzulegen, ob ich meine Tagesetappe geschafft hätte oder nicht, und müsste mich bei mangelnder Planerfüllung noch so lange mit der Sache beschäftigen, bis das Etappenziel erreicht sei.
Das würde in Kürze dazu führen, dass ich auch zu den planmäßigen Arbeitszeiten soviel Sitzfleisch aufbringe, um erst nach Erreichen des Etappenziels meinen Schreibtisch zu verlassen. Mir leuchteten diese klugen und elanvollen Anweisungen ein, aber ich hatte doch Bedenken, dass ich bei meiner eingeschränkten Gesundheit die Willenskraft und auch die Form entwickeln könnte, sie ohne Punkt und Komma umzusetzen. Aber ich würde die gleichen Fragen auch Frau Schayani stellen und könnte mir dann aus den Vorschlägen der Professorin und der Studentin diejenigen aussuchen, die ich mir noch zu realisieren zutraute. Ich nähme an, dass das fortgeschrittene Alter und die familiäre Erfahrung von Frau Schayani etwas weichere Lösungen meiner Probleme nahe legten als die stürmische Kraft und pulsierende Energie einer brausenden Jugendlichkeit.
„Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen“, antwortete darauf Lisa, Hubertus Enkelin, „aber seien Sie sich nicht zu sicher, dass Professor Schayani Sie allzu sehr schonen wird. Sie schont auch sich selbst nicht. Sie hat Familie, drei Kinder und einen berufstätigen Mann, der ebenfalls Professor ist, allerdings der Chirurgie.
Daneben betätigt sie sich noch gemeinsam mit ihrem Mann in einer religiösen Bewegung, die wie das Christentum oder der Islam ebenfalls monotheistisch ausgerichtet ist. Sie verbindet allerdings keinen Alleinvertretungsanspruch damit, sondern erstrebt eine solidarische Beziehung zu allen Religionen wie zwischen allen Menschen. Sie respektiert das Eigenrecht allen Lebens und der Natur und befürwortet eine Kultur der Lebensbejahung und der Lebensfreude. Daher tritt sie für naturgemäße, ökologische Verhältnisse ein und für einen angemessenen, solidarischen Umgang mit allem Lebendigen auf dieser Erde.“
Da ich anscheinend doch gewisse generative Absichten in Bezug auf Frau Schayani gehabt hatte, erkundigte ich mich nach dem Aussehen ihrer Kinder und wollte unbedingt wissen, ob sie schielten. „Nein“, informierte mich Lisa, „sie sind alle außergewöhnlich gut aussehende, gesunde und ganz normale Geschöpfe. Sie sind darüber hinaus sehr musisch begabt und sehr sportlich. Ihr Vater, ein wahrer Recke, war Europameister im Ringen und obwohl sie andere Sportarten bevorzugen, so sind sie doch alle sehr kräftig und robust.“
Fast lag mir die Frage auf der Zunge, ob Lisa den Eindruck habe, dass Frau Schayani die Schar ihrer Kinder noch vergrößern wolle, eventuell auch - nach einer möglichen Trennung von ihrem Recken – mit einem anderen Mann. Aber der Gedanke an eine mögliche Auseinandersetzung mit einem Europameister im Ringen erstickte eine solche Frage bereits im Keime. Lisa, die offensichtlich mein Interesse ahnte, machte dann auch allen Spekulationen meinerseits ein Ende, indem sie ganz nebenbei bemerkte, dass Frau Schayani eine sehr glückliche Ehe führe und sich ihr auch aus religiösen Gründen irgendwelche amourösen Extravaganzen verböten.
So hatte unsere gemeinsame Teestunde für mich ein sehr klares, wenn auch nicht erwünschtes Ergebnis und ich musste die bereitwillige Zurschaustellung des hinreißenden Busens von Frau Schayani als ein therapeutisches Mittel angesichts meiner depressiven seelischen Situation und körperlichen Misere interpretieren und nicht als einen erotischen Reiz und eindeutiges Zeichen einer sexuellen Bereitwilligkeit gegenüber meinem deutlich geäußerten, wenn auch zur Zeit selbstmörderischen sexuellen Verlangen. Ich dankte also Lisa für ihre gute Beratung und schenkte ihr als Dank für ihre Bemühung eine kleine antike griechische Vase aus altem Familienbesitz, die einer meiner Vorfahren als Souvenir von einem griechischen Antiquitätensammler geschenkt bekommen hatte.
Auch wenn ich Frau Schayani aus dem Repertoire möglicher Ehekandidatinnen streichen musste, versuchte ich doch, durch frühes Aufstehen und leichtere körperliche Arbeit im Rahmen meiner Möglichkeiten die Therapievorschläge von Lisa zu befolgen. Ich hatte mir vorgenommen, meinen französischen Park in einen englischen Garten zu verwandeln, und legte neue gewundene Wege fest, die die alten geraden ersetzen sollten. Auch besprach ich mit meinem Gärtner, wie der gerade Kanal in eine natürliche, mäandernde Flussform gebracht werden könne.
Dieser berechnete die Kosten. Die Summen, die ich für diese Veränderung hätte aufbringen müssen, erreichten so astronomische Ausmaße, dass wir es vorerst dabei bewenden lassen mussten, den einen oder anderen Bewässerungsgraben davon abzuzweigen, was allerdings erst im Herbst nach der Ernte von meinen Landarbeitern bewerkstelligt werden könnte. So blieb es dabei – nach sorgfältigem Vermessen meines Geländes – ,zunächst nur Pläne für die Umgestaltung des Parks im Herbst zu machen, eine Tätigkeit, die mich sogar mit meinem Schreibtisch versöhnte und mir noch zusätzliches Sitzfleisch verschaffte, um auch meine geschäftlichen Angelegenheiten weitgehend in die Hand zu nehmen.
Behandelte Frau Schayani meine tiefenpsychologischen Probleme, so betrafen die Maßnahmen Lisas die Oberflächensymptome, und da ich merkte, wie heilsam mein neues Engagement sich auch auf meine Schlaflosigkeit und meine Unruhe und Sprunghaftigkeit auswirkten, beschloss ich, die Zahl meiner Therapeuten mit Einschluss meines Arztes von bisher zwei auf drei Personen zu erhöhen.
Ich ließ also Lisa über Hubertus mitteilen, dass die Beachtung ihrer Vorschläge die ersten Erfolge erbracht hätten und dass ich ihre weitere therapeutische Betreuung einmal wöchentlich zu den für Psychotherapeuten üblichen Tarifen wünsche.
Hubertus war überglücklich, dass es ausgerechnet einem Mitglied seiner Familie gelungen sei, eine leichte Verbesserung meines Befindens zu bewirken, und er versprach mir die weitere Betreuung durch Lisa bereits, bevor er sie in meinem Namen um ihre weitere Hilfe gebeten hatte. Als Lisa sich zur Fortsetzung der Behandlung bereit erklärte, wusste ich also nicht, ob sie es mir oder Hubertus zuliebe getan hatte, was mich ein wenig irritierte.
Ich war also in jeder Hinsicht in einer besseren Form, als Frau Dr. Schayani zur üblichen Zeit kam. Sie hatte dieses Mal ein Reitkostüm an und sagte, dass es sie sehr freue, wenn es mir mein Zustand gestatte, mit ihr einen kleinen Ausritt zu machen. Sie habe sich zu diesem Anlass bereits in die passende Garderobe geworfen und könne diese auch ertragen, wenn ich mich noch nicht stark genug für die Beherrschung eines Pferdes fühle.
Als Ersatz für die Stimme der Natur, die wir bei einem Ausritt vernehmen könnten, habe sie ein Kanarienvogelpärchen mitgebracht. Und sie enthüllte einen Vogelbauer, den sie in der rechten Hand trug und in dem zwei Kanarienvögel auf der Stange saßen.
Ich erklärte mich zum Ausritt bereit, wenn mein jetziger Zustand stabil bleibe und wir vorher unsere therapeutischen Bemühungen durchgeführt hätten. Sie reagierte auf diese Bemerkung positiv und gab mir Recht, indem sie einräumte, dass unsere Gespräche innerhalb der vier Wände meines Salons doch intensiver und verständlicher ablaufen könnten als auf dem Rücken der Pferde, obwohl der Gesang der Kanarienvögel uns auch gelegentlich stören könne. Sie habe diese aber in der gleichen Absicht mitgebracht wie ihre Katzen bei der ersten Sitzung, d.h. sie sollten mir die Hauptgesprächspartner sein und mich von ihrer Gegenwart ablenken. Im Übrigen hätte ich ihr versprochen, eine Liebesgeschichte zu erzählen und dazu passe das jubelnde Gezwitscher ganz gut.
Ich hatte ein drängendes Problem auf der Seele und war ungeduldig, dieses zur Sprache zu bringen. Daher ging ich zu meinem Sofa, legte mich darauf und forderte sie mit einer Geste auf, ihren gewohnten Platz einzunehmen. Sie stellte noch den Vogelbauer auf das Beistelltischchen am Fußende des Sofas, so dass ich die Vögel im Auge und Ohr hatte, und nahm Platz.
„Bevor ich Ihnen die Geschichte von Carlotta und mir berichte, muss ich noch einmal auf die Beziehung zu meiner Mutter zurückkommen“, begann ich ganz unvermittelt, „und zwar bewegt mich seit diesem Verhalten, dass sie nach dem Tod meines Vaters bei ihren Besuchen auf unserem Schloss sich mir, wenn wir abends zu Bett gingen – sie im Elternschlafzimmer, ich im angrenzenden Kinderzimmer – , die Frage, warum sie sich mir dort mehrmals nackt gezeigt hat.“
„Das ist ein ziemlicher Überfall, mit dem Sie mich überraschen, und Ihre Problemdarstellung ist sehr lapidar, so dass sich verschiedene Deutungen dieses Verhaltens anbieten“, reagierte sie. „Es kann einfach eine unbefangenere Art gewesen sein, mit ihrem Körper umzugehen, die sie vielleicht durch ihren Aufenthalt in Frankreich gesehen und übernommen hatte. Es kann sich auch beim Ausziehen der Tageskleidung und dem Überstreifen des Nachthemdes ganz zwanglos ergeben haben. Es kann aber auch eine Verhaltensperversion gewesen sein, die die normale Mutter-Sohn-Beziehung nicht kennt. Hatten Sie denn den Eindruck, dass Ihre Mutter sich in einem Erregungszustand befand oder in einer nicht ganz normalen emotionalen Verfassung?“
„Ja, diesen Eindruck hatte ich!“, antwortete ich. „Waren Sie denn zu diesen Zeitpunkten in einer normalen emotionalen Verfassung, oder waren Sie vielleicht gerade unsterblich verliebt, vielleicht in Ihre Carlotta, oder auf sonstige Weise in einer außergewöhnlichen Situation?“, fragte sie weiter. „Ja, das war ich. Einer meiner besten Freunde hatte mir meine damalige Geliebte ausgespannt und ich stand unter einem hohen Leidensdruck und lebte wie unter einer erhöhten Stromspannung.“ „Da hätten wir vielleicht einen Ansatz für die Deutung des Verhaltens Ihrer Mutter“, mutmaßte sie. „Warum war Ihre Mutter denn zu Ihnen gekommen?“, bohrte sie weiter, „waren es geschäftliche Angelegenheiten, die sie regeln wollte, oder kam sie aus persönlichen Gründen, um Sie oder andere Verwandte und Freunde zu treffen?“
„Es waren eindeutig persönliche Gründe. Mein Vater hatte mich als Alleinerben eingesetzt und so hatte sie mit den hiesigen Geschäften nichts mehr zu tun“, stellte ich klar. „Dann hatte sie vielleicht Angst, dass Sie ihr völlig entgleiten würden, weil Sie in Ihrem Liebeskummer ihrer Anwesenheit überhaupt keine Beachtung mehr geschenkt haben werden. Vielleicht hatte sie auch vorher schon empfunden, dass sie durch ihre Flucht aus Ihrem Familienverband ihren Einfluss, ihre Macht über Sie verloren hatte, und wollte diese durch ihre körperliche Attraktivität wieder zurückgewinnen. Es ist eine häufige Verhaltensstruktur von uns Frauen, dass wir unsere körperlichen Reize einsetzen, wenn wir in einer ungünstigen Position in einer Beziehung sind, und auch Ihre Mutter wird davon keine Ausnahme gemacht haben.“
„Das könnte eine mögliche Erklärung für ihr Verhalten gewesen sein“, sagte ich, „und es wäre mir lieb, wenn es so wäre. Denn ich hatte schon Angst, dass sie Geschlechtsverkehr mit mir gewünscht hätte. Aber eine andere Erinnerung scheint Ihre Hypothese zu bestätigen. Denn in dieser Zeit passierte es, als ich aus irgendeinem Grund am Boden kniete, dass sich meine Mutter, dieses Mal in bekleidetem Zustand, spontan auf meinen Rücken setzte und zwar in einer sehr heftigen, rücksichtslosen Art, so dass sie auch meine Wirbelsäule hätte verletzen können!“ „Das bestätigt allerdings meine Annahme, dass Ihre Mutter in der direkten und übertragenen Bedeutung des Wortes Sie ‚besitzen’ wollte, weil sie bemerkt hatte, dass Sie sich mittlerweile von ihr in jeder Hinsicht emanzipiert hatten.“
„Dann kann ich dieses Problem als geklärt betrachten, was mich sehr erleichtert, denn ich habe es Jahre lang mit mir herumgeschleppt und allein keine Erklärung finden können!“ „Manchmal gibt es auch keine Erklärungen für unsere Verhaltenweisen und auch die Situationen mit Ihrer Mutter hätten aus dem Ruder laufen können, weil unsere Dispositionen immer mehrere Handlungsmöglichkeiten enthalten und manche Handlung in gar keinem Verhältnis mehr zur ursprünglichen Disposition stehen kann. Wir müssen uns damit abfinden, auch mit der Ungewissheit leben zu können, und das sogar als normal akzeptieren.
In dieser Angelegenheit scheint aber die Sache ziemlich gewiss zu sein, dass Ihre Mutter Sie wie eine Puppe besitzen wollte, was allerdings auch keine normale Mutterbeziehung war, denn dieser mütterliche Besitzanspruch verhindert die Entwicklung der Selbständigkeit des Kindes. Und wenn vom Vater diese Besitzansprüche gestellt werden, dann wird das Kind selten ein unabhängiger Erwachsener werden.
Man kann durch Beobachtung der Natur viel über diese Eltern-Kindbeziehung lernen! Wir haben in den Ferien in Südfrankreich Rotkehlchen beobachtet, die brüteten. Zunächst haben die Eltern das Kind gefüttert, wie man es kennt, aber als das Junge flügge war und wir etwas Vogelfutter auf die Terrasse unseres Ferienhauses gestreut hatten, haben sich Eltern und Junges um das Futter gestritten. Natürlich muss bei Menschen solch eine Situation nicht in Streit ausarten, aber die Eltern müssen die Rechte des Kindes auf sein Eigenleben respektieren und die Kinder vice versa auch! Aber fahren Sie in Ihrer Erzählung fort, denn ich bin sehr neugierig, was Sie mir über Ihre Affäre mit der besagten Carlotta zu berichten haben.“
„Man sagt mir allerhand unmoralische Affären nach“, begann ich, „aber diese Beziehung möchte ich ausdrücklich davon ausnehmen. Ich war auch schon etwas älter, als ich Carlotta begegnete. Es muss bald nach dem Tod meiner Mutter gewesen sein – also vor ungefähr sechs Jahren. Ihr Tod hatte mich doch mehr getroffen, als ich es vermutet hätte. Und so beschloss ich, nachdem die Bestattungsfeierlichkeiten vorbei waren, die Tapeten zu wechseln und eine mehrwöchige Reise nach Brasilien zu machen. Ich wollte auf diesem Wege meine Farm besuchen und mich in das Nachtleben von Rio de Janeiro stürzen, um auf andere Gedanken zu kommen und meine ‚Vorfahren’ so total wie möglich zu vergessen.
Ich fuhr also mit dem Schiff von Hamburg bis Rio de Janeiro. Bereits am ersten Tag der Reise gab es eine große Aufregung unter der Schiffsbesatzung und den Passagieren, als ein Mädchen dabei erwischt wurde, wie es in der Schiffsküche Lebensmittel stehlen wollte. Man ging der Sache nach und es stellte sich heraus, dass das Mädchen sich als ‚Blinder Passagier’ auf das Schiff gestohlen hatte und seine Ernährung mit Diebstählen aus der Schiffsküche, die nicht immer besetzt war, bestreiten wollte.
Da wir nicht mehr in Zeiten leben, in denen Blinde Passagiere in einem Rettungsboot auf dem Ozean ausgesetzt werden, so bestand die Strafe der jungen Person, die von zu Hause ausgerissen war, um die weite Welt kennen zu lernen und um sich mit ihrer musikalischen Begabung durchzuschlagen, darin, dass sie jeden Abend im Musiksalon unseres Schiffes einige Stunden zu singen und Klavier zu spielen hatte.
Mit diesen Darbietungen könne sie sich die Überfahrt und Verpflegung verdienen, entschied der Kapitän. Allerdings werde keine Gage – nur ein kleines Taschengeld bezahlt – und die Rückreise werde sie auch nicht auf diesem Schiff antreten können, sondern sie müsse sich das Geld für die Rückfahrt in Rio verdienen, um sich ein Schiffsticket zu kaufen und auf ordentliche Weise die Rückkehr zu ihren Eltern anzutreten, die man selbstverständlich sofort informieren werde. Vielleicht könnten diese ihr auch die Rückreise bezahlen. Dann sehe alles anders aus. Das bezweifelte allerdings Carlotta, da ihre Eltern, ein Hausmeisterehepaar in einer Schule für lernbehinderte Kinder, zu arm seien.
So weit war also der Sprachgebrauch zu diesem Fall auf dem Schiff bekannt, und man kann sich denken, dass am Abend desselben Tages der Musiksalon mit Neugierigen bis zum Rand gefüllt war. Auch ich hatte meinen Platz in der animiert tuschelnden Menge. Jeder hatte eine andere Vorstellung von dem Mädchen, und die meisten stellten sich ein ausgemergeltes, blasses und eingeschüchtertes Geschöpf vor, das ihnen auf kindliche Weise ein paar Volksliedchen vorträllern würde und sich vielleicht noch soeben auf dem Klavier dabei begleiten könnte.
Umso überraschter waren wir alle, als ein pausbäckiges, kraftvolles, selbstbewusstes, bäuerliches Mädchen im Matrosenanzug mit frischem Gesicht und blondem Lockenkopf aus der Seitentür trat, das Publikum knapp grüßte, um sich sofort ans Klavier zu setzen und in die Tasten zu hauen, dass uns ‚Hören und Sehen’ verging.
Das etwa fünfzehnjährige Mädchen spielte also nicht ‚Hänschen klein’ oder ‚Fuchs, du hast die Gans gestohlen’, sondern Liszt, den Mephisto Walzer, Beethoven, die Mondscheinsonate, Chopin, die zweite Sonate, Bach, Schumann, Schubert. Und die, wie sich jetzt zeigte, junge Virtuosin spielte hinreißend, mitreißend, beseelt, erzeugte einen Kosmos von Gefühlen und einen Klangzauber, der uns Zeit und Raum vergessen ließ. Technische Schwierigkeiten schien es nicht für sie zu geben und sie musste über ein phänomenales Gedächtnis verfügen, denn sie spielte alles auswendig.
Nachdem sie einige Stücke, völlig in sich versunken und nur mit der Musik fühlend und lebend, gespielt hatte, was einen Orkan von Ovationen bei dem hypnotisierten Publikum auslöste, wendete sie sich dem Publikum zu und kündigte ihre Stücke an. Schließlich, nach dem donnernden Schlussapplaus, wendete sie sich noch kurz ans Publikum und bat um Verständnis dafür, dass sie als Blinder Passagier an Bord gekommen sei. Aber dies sei die einzige Chance gewesen, ihrem unmusikalischen und ländlichen Milieu zu entfliehen und die Welt zu erkunden und vor allem der ‚Welt der Musik’ zu begegnen und sich musikalisch weiterzubilden.
Der Organist ihres Dorfes, bei dem sie bis jetzt Unterricht gehabt habe, habe ihr erklärt, dass er ihr nichts mehr beibringen könne, und ihre Eltern hätten leider kein Geld, ihr ein Musikstudium zu bezahlen oder ihr, solange sie noch nicht bekannt sei, passende Musiksäle zu mieten, damit sie vor Publikum auftreten könne.
Daher habe sie es sich seit ihrem dreizehnten Geburtstag zur Gewohnheit gemacht, sich in gewissen zeitlichen Abständen in der benachbarten Kleinstadt in den Zug zu setzen und in die weite Welt zu fahren. In einer der vom Zug angesteuerten Großstädte habe sie den Zug dann verlassen und sich ein größeres Hotel gesucht, in dem auch ein Klavier zu finden gewesen sei. Sie habe sich dann in der Regel daran gesetzt und gespielt, bis der Geschäftsführer gekommen sei, der ihr dann meistens, nachdem er auf ihren Wunsch mit ihren Eltern telefoniert und deren Zustimmung eingeholt habe, angeboten habe, in dem Hotel zu wohnen und zu essen und abends Konzerte zu geben.
Fast immer habe sie solch ein Hotel gefunden und sei dann 14 Tage dort geblieben, um zu konzertieren. Ihre Eltern hätten sich mit der Zeit denn auch mit ihren ‚Ausbrüchen’ aus der Enge des Landlebens abgefunden. Sie habe in diesen 14 Tagen durch großzügige Spenden ihrer Zuhörer auch immer so viel Geld verdient, dass sie die Rückfahrkarte habe bezahlen und das Haushaltgeld ihrer Mutter habe aufbessern können, und diese ihre Angewohnheit, nach jeweils 14 Tagen wieder nach Hause zu fahren, habe sie bisher noch nie gebrochen. Diese Fahrt sei allerdings eine Ausnahme, aber sie habe ihren Eltern bereits angekündigt, dass sie in drei Monaten wieder zurück sei, und ihre Eltern wüssten, dass sie sich auf ihre Versprechen verlassen könnten.
Unter den Zuhörern waren viele tuttige Muttis, die in besorgte Ausrufe ausbrachen wie: ‚Hast du denn keine Angst, dich so mutterseelenallein in fremden Städten rumzutreiben? Was machst du, wenn irgendein Sittenstrolch dich in sein Auto ziehen will oder nachts in einer einsamen Straße überfällt? Wo bleibst du, wenn du kein Hotel findest?’ Aber die junge Virtuosin lachte nur und meinte, sie bleibe nie lange alleine und finde in jeder Stadt neue Freunde und Freundinnen. Im Übrigen könne sie Karate und sie, die Zuhörer sollten sich mal ihre Pranken ansehen. Sie könne damit nicht nur in die Tasten hauen, sondern, wenn nötig, auch auf empfindliche Körperteile. Und was das Übernachten betreffe, so gebe es ja immer noch die Bahnhofsmission, Jugendherbergen und kirchliche wie kommunale Einrichtungen, wo sie Unterschlupf finden könne. Sie habe zudem ihren Schlafsack immer dabei und sei als Pfadfinderin immer in der Lage, ein geschütztes Eckchen zu finden, wo sie übernachten könne.
Die biederen Hausmütterchen konnten sich zwar auch bei diesen Aussagen nicht beruhigen, aber die Männer zollten ihr spontanen Beifall und einer der Zuhörer, der die letzte Zigarre aus einer Zigarrenkiste genommen hatte, schrieb mit dickem Filzstift auf den Deckel: ‚Spende für Carlotta!’ und reichte sein Kistchen wie einen Klingelbeutel herum. Und kaum einer der Zuhörer und Zuhörerrinnen ließ das Kistchen ohne einen Beitrag an sich vorüberziehen. Der Zigarrenmann überreichte das gut gefüllte Kistchen darauf Carlotta, und als er ihren begehrlichen Blick auf seine Zigarre, die er in der anderen Hand hielt, wahrnahm, auch noch die Zigarre, worauf Carlotta sich höflich bedankte, die Zigarre in den Mund steckte, sich von ihrem Verehrer Feuer geben ließ und sich wieder ans Klavier setzte.
Sie spiele als Dank für die Großzügigkeit des Publikums noch einige Jazzimprovisationen über Themen von Gershwin, kündigte sie an. Und darauf ging die ‚Post ab’, dass keiner der Zuhörer das Musikzimmer verließ und wir in bester Stimmung mit Pfeifen, Singen, Klatschen und dem Gestampfe unserer Füße ihr Spiel begleiteten. Wir machten einen solchen Krach, dass sogar der Kapitän unseres Luxusliners auf der Bildfläche erschien und sich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass keinerlei Beschädigung seines Schiffes zu befürchten sei, an dem allgemeinen Getöse beteiligte, indem er sich zwei leere Gläser von dem nächsten Tisch griff und diese im Takt aneinander stieß, so dass sie wie eine begleitende Triangel klangen.
Als Carlotta ihre Improvisationen beendet hatte, zollte er ihr begeistert Beifall und nahm sein vorher ausgesprochenes Verdikt mit Bedauern zurück. Er habe wirklich nicht ahnen können, sagte er, dass Carlotta solch eine begnadete Musikerin sei, wie er es eben erlebt habe. Somit sei ihr täglicher Auftritt in dem Musikzimmer nicht ein wohl gemeinter Gnadenakt von seiner Seite, um vor seiner Reederei ihren Aufenthalt auf dem Schiff zu rechtfertigen, sondern sie sei eine ganz außergewöhnliche Attraktion für Mannschaft und Passagiere und unter dieser Voraussetzung betrachte er es als eine Gunst ihrerseits, wenn sie die Rückreise selbstverständlich kostenlos auf seinem Schiff antrete. Carlotta dankte höflich, winkte aber ab und erklärte, dass in diesem Falle der Hauptzweck ihrer Reise, die lateinamerikanische Musik kennen und spielen zu lernen, nicht erreicht werde. Und dass sie von diesem Vorhaben nicht ablasse. Wenn er aber in drei Monaten wieder in Rio lande, so sei sie mit Freude bereit, sein Angebot anzunehmen. Und da es sich hier um eine teils erfundene, teils wahre Erzählung handelte, konnte der Kapitän ihr mitteilen, dass er in drei Monaten wieder Rio anlaufen werde, und so war ihre Rückreise gesichert.“
An dieser Stelle unterbrach mich meine Ärztin. „Sie sollen mir keine erdichteten Geschichten erzählen“, warf sie ein, „sondern nur reale Begebenheiten. Ich will ja nicht Ihre Qualitäten als Erzähler analysieren, sondern den Menschen Friedrich von Frost und Zeul!“ „Vielleicht gehören die Lust zu erzählen und der Wille, dem sinnlos um sich selbst kreisenden Zickzack unserer banalen Realität etwas Sinn und Ziel und Abrundung zu geben auch zu diesem seltsamen Menschen von Frost und Zeul“, erwiderte ich – etwas frustriert zu ihr aufsehend. „Akzeptiert“, kommentierte sie, „Sie sind jetzt hier als Erzähler und banale Realität zugleich anwesend, aber Sie sollten mir ein Zeichen geben, wann der Erzähler und wann der Berichterstatter das Wort führt.“ „Das werde ich nicht tun, weil bei jedem Menschen beide untrennbar eins sind, weil beides bei jedem Menschen zu seiner Person gehört. Denn ein Erzähler ohne Realitätsbezug ist ein Spinner und ein purer Realist ist ein Apparat und kein Mensch mehr.“ „Danke für die Aufklärung“, erwiderte sie launig. „Ich werde mir das hinter die Ohren schreiben, obwohl ich Sie eher für einen Experten auf erotischem Gelände gehalten hätte! Also setzen Sie Ihren Erzählbericht oder Ihre Berichterzählung ohne Hemmungen fort und bedenken Sie nur, dass Sie bis zum frühen Abend beendet sein muss! Denn dann verlangt meine Familie nach meinen tiefschürfenden Analysen ihrer mit viel Einsatz praktizierten Kochkünste!“
Ich fuhr also in meinem Bericht fort: „Die junge Virtuosin hatte alle Anwesenden mit ihrem Auftritt fasziniert. Und wer nicht durch Kindbett, Taufe, Hochzeit oder Beerdigung verhindert war, kam am nächsten Abend zu ihrem zweiten Konzert. Das sensationelle Ereignis des Vorabends hatte sich auf dem ganzen Schiff herumgesprochen, und so drängten auch viele Passagiere, die am Vorabend noch nicht dabei gewesen waren, in den Musiksaal.
Bald stellte sich heraus, dass er für die Einlass heischende Menge zu klein war, und so wurde das Konzert in den großen Speisesaal verlegt. Der Kapitän höchstpersönlich organisierte mit einigen Seeleuten den Transport des Klaviers dorthin und so konnten alle Interessierten an dem Ereignis teilnehmen. Auch dieses Konzert wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis, denn Carlotta spielte die zwei Klavierkonzerte von Chopin. Das Amüsante daran war außer ihrem furiosen Spiel, wie sie das fehlende Orchester ersetzte, denn sie pfiff, brummte, näselte, trompetete, sang die der Klavierstimme vorausgehenden oder nachfolgenden, manchmal auch begleitenden Hauptstimmen des Orchesters so vehement und naturgetreu, dass wir vor Bewunderung und Vergnügen alle aus dem Häuschen waren. Und obwohl der Kapitän beim Betreten des Speisesaals Eintritt genommen hatte, um mit dem Geld die Kosten für Carlottas Überfahrt abzugelten, waren die Spenden der begeisterten Zuhörer nach dem Konzert so reichlich, dass Carlottas Kosten für einen komfortablen Aufenthalt in Rio in den nächsten drei Monaten gesichert waren.
Sie bedankte sich wieder mit einigen Jazzimprovisationen und wählte dieses Mal einige bekannte Melodien von Spirituals als musikalisches Material, so dass wir bei den gelegentlich unisono vorgetragenen Ohrwürmern mit unseren bruchstückhaften Textkenntnissen einfielen und als Israel in Egypt’s Land schmachteten oder uns als Nobodies unsere troubles verkündeten.
So ging es während der sechstägigen gemächlichen Überfahrt, die durch einige Zwischenlandungen auf den Kanarischen Inseln, den Azoren, in New York und Boston unterbrochen wurde, jeden Abend, und ich hörte zum ersten Mal alle Stücke von Bachs ‚Wohltemperiertem Klavier’, Schumanns ‚Kinderszenen’ und Schuberts ‚Impromptus’. Ich begann, die Musik sogar etwas zu verstehen und begann die Gefühle, die Gedanken und die Charaktere ihrer Schöpfer hinter den Tönen zu ahnen. Und es wurden wesentliche Begegnungen mit dem Menschsein dieser Personen. Mir gingen Welten auf, die mir bisher unbekannt gewesen waren. Welten der Freude und der Trauer, des Entzückens und des Erschreckens, des Glaubens und der Demut, der Reinheit und der Poesie. Und ich übertrug diese Wahrnehmungen auf die junge, unbewusste Prophetin am Klavier und empfand zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie Hochachtung, wie Respekt, wie Verehrung für einen Menschen.
Gerne hätte ich diese erstaunliche Kindfrau kennen gelernt, aber sie war stets so umlagert, dass es mir nicht gelang, mich bis zu ihr durchzukämpfen. Außerdem fürchtete ich, dass mir mein Ruf als Weiberheld und Lebemann, der mir nun einmal anhing und der mich ansonsten nicht weiter berührte, mir in dieser Beziehung schaden könne. Also ließ ich die Finger davon und genoss ihre Gegenwart aus der Ferne.
Als ich in Rio von Bord ging, stand sie allerdings am Kai und drückte uns Passagieren, die wir fast alle ihr Publikum gewesen waren, die Hand, um sich für unseren Enthusiasmus und unsere Großzügigkeit zu bedanken. Auch mir gab sie in diesem Sinne die Hand, aber es war kein Zeichen einer persönlichen Wiedererkennung oder Aufmerksamkeit damit verbunden, während sie mit jüngeren Männern oder Frauen, auch Jugendlichen sehr persönliche Bemerkungen austauschte, gelegentlich auch mit ihnen lachte und scherzte. Diese Gleichgültigkeit mir gegenüber, der ich ja nicht inkognito gereist war, knickte die Standarte meiner Eitelkeit bis zur Bodenberührung und ich kam mir wirklich so unbedeutend und mittelmäßig vor, wie ich es ohne meine Adelstitel und Güter wahrscheinlich ohnehin für alle Welt gewesen wäre.
Nun, meine Herzbeschwerden waren damals noch nicht so weit fortgeschritten, dass ich auf meine Amüsiergewohnheiten hätte verzichten müssen, und so stürzte ich mich Hals über Kopf in das brausende Nachtleben von Rio. Ich hatte von meinen früheren Besuchen viele weibliche und männliche Bekanntschaften, die ich mit auf meine Streifzüge nehmen konnte, entschied mich aber schließlich nur für eine attraktive Tanzlehrerin, die in einer der berühmten Sambaschulen von Rio unterrichtete, sich aber gerne für mich frei nahm. Der Lohn für ihre Begleitung bestand meistens in einer schicken Robe, die wir bereits am ersten Tag in einer der teuren Luxusboutiquen in der Innenstadt einkauften und deren Wert für gewöhnlich alle Dienste abdeckte, die mir die junge Frau erwies.
Normalerweise standen meine Auslagen für meine Partnerin in keinem Verhältnis zu ihren Gefälligkeiten, aber dieses Mal sollte sich meine Investition wirklich lohnen. Denn in der dritten Nacht unseres Amüsiermarathons waren wir in einer Szenekneipe für brasilianische Folklore gelandet, in der auch gelegentliche Jazzsessions stattfanden, und hier ereignete sich wirklich das Wunder, das ich jede Nacht herbeigesehnt hatte. Denn nach einigen Gesangsnummern einheimischer Gruppen und Solisten trat tatsächlich Carlotta ans Klavier und begann die soeben vorgetragenen brasilianischen Lieder virtuos auf dem Klavier zu verjazzen. Ich war wie vom Schlag getroffen und einen Augenblick handlungs- und bewegungsunfähig.
Meine hübsche Begleiterin bemerkte meine Betroffenheit sofort und sprach mich auch gleich darauf an. ‚Du kennst diese junge Musikerin bereits?’, fragte sie mich. Ich berappelte mich aus meiner Starre und bejahte ihre Frage. ‚Du bist in sie verliebt?’, fragte Viktoria weiter. Ich nickte zustimmend. ‚Du möchtest ihre Bekanntschaft machen, aber du traust dich nicht?’, fuhr sie fort. Auch diese Frage musste ich positiv beantworten. ‚Dann warten wir ab, bis ihr Programm zu Ende ist, und ich gehe in ihre Garderobe, um sie zu einem Cuba Libre an unserem Tisch einzuladen’, schloss Viktoria. Und ich war vor Glück und Aufregung ganz stumm und gab ihr nur durch mein Lächeln zu erkennen, dass sie mir aus der Seele gesprochen hatte.“
Meiner Therapeutin fielen vor Müdigkeit und meinen für ihre Analyse ziemlich entlegenen Erzählungen fast die Augen zu, so dass ich mich verpflichtet fühlte, sie zu fragen, ob ich meinen Bericht abkürzen und ihr diese Randereignisse ersparen sollte. Aber die Professorin zeigte Haltung. „Ich merke ja“, sagte sie, „dass die Erzählung dieser Einzelheiten Ihnen Spaß macht und vielleicht sogar zu Ihrem Heilungsprozess beitragen kann. Also legen Sie sich keine Einschränkungen auf, sondern berichten Sie alles, was Sie berichten wollen. Die eine oder andere charakteristische Information ist übrigens auch in der Darstellung dieser Randereignisse enthalten.“
„Meine Frage war auch nur eine Geste der Höflichkeit“, sagte ich darauf, „denn jetzt beginnt sofort der Hauptteil meiner Geschichte.“ Viktoria machte nämlich ihr Versprechen wahr, ging nach Carlottas Konzert in ihre Garderobe, sagte ihr, dass ein großer Fan von ihr im Restaurant sei und sich sehr glücklich schätze, wenn sie sich noch zu einem Drink oder auch Abendessen einladen lasse.
Carlotta hatte überhaupt kein Problem, auf diese Einladung einzugehen, und so kamen die beiden Frauen munter und unbefangen an meinen Tisch und ich konnte mich Carlotta vorstellen. Sie erinnerte sich sofort daran, mich auf dem Schiff gesehen zu haben, und fragte mich, ob ich in ihren Konzerten gewesen sei. Ich berichtete ihr, dass ich alle gehört hätte und wie alle Welt begeistert gewesen sei. Sie bedankte sich höflich und sprach dann über ihre nächste Programmplanung. Sie wolle gerne auch das Land etwas näher kennen lernen, sagte sie mir und fragte mich, der ich mich als häufigen Touristen in Brasilien geoutet hatte, welche Sehenswürdigkeiten und Routen zu empfehlen seien.
Ich log ihr vor, dass sich das gut treffe, da ich eben eine dreiwöchige Sightseeingtour für zwei Personen als Flugreise von Rio über Sao Paulo in den Süden zu den Iguacu Wasserfällen und von dort über Ouro Preto und Brasilia in den Norden nach Manaus zum Amazonas gebucht hätte, wozu auch eine Unterkunft in einer Lodge am Amazonas gehöre. Von Manaus, der alten Stadt der sagenhaft reichen Kautschukbarone, gehe die Reise dann an die Ostküste über Sao Louis nach San Salvador. Von dort werde die Rückreise nach Rio angetreten.
Leider, so stelle es sich aus meiner Sicht dar, aber glücklicherweise, so stelle es sich aus der Sicht meiner als Tanzlehrerin arbeitenden Begleiterin dar, habe sie als Solistin für eine berühmte Sambashow ein unvorhergesehenes Angebot mit Aussicht auf ein längeres Engagement bekommen, und habe diese längerfristige Lebensperspektive der kurzfristigeren Vergnügungsreise vorgezogen.
Ich säße jetzt mit der zweiten Karte da und könne sie nur mit großem Verlust stornieren; ob sie nicht Lust habe, die Reise mitzumachen und die Karte zu dem verbilligten Preis zu übernehmen, den mir auch mein Reisebüro nach den Vertragsbedingungen noch zurückzuzahlen habe. Carlotta durchschaute meine Lüge, das sah ich dem skeptischen Blick an, mit dem sie mich nach dieser Eröffnung taxierte, aber ich sah auch, wie sie das Angebot reizte.
Zunächst fiel Carlottas Antwort aber ganz anders aus, als ich es erwartet hatte. Sie sah Viktoria von der Seite an und meinte, das Angebot könne ihr schon gefallen, aber meine brasilianische Lebensgefährtin müsse auch damit einverstanden sein. Ich erklärte ihr, dass ich Junggeselle sei und Viktoria eine alte Bekannte sei, die die Freundlichkeit habe, mir bei meinen Ausflügen und Konzertbesuchen in Rio Gesellschaft zu leisten.
Darauf sagte Carlotta, wenn durch ihre Reisebegleitung keine zwischenmenschlichen Beziehungen gestört würden, so nehme sie mein Angebot unter folgenden Bedingungen an: erstens getrennte Zimmer, zweitens getrennte Kassen und drittens völlige Freiheit, sich jederzeit selbständig zu machen und ihre musikalischen Studien der brasilianischen Folklore fortzusetzen oder auch Konzerte zu improvisieren, wenn sich ihr eine Gelegenheit dazu biete.
Ich wäre auch auf ungünstigere Bedingungen eingegangen und erklärte ihr, dass ich es sehr anständig von ihr fände, dass sie ihre Unkosten selber tragen wolle, und hätte größtes Verständnis für ihre musikalischen Studien. Vielleicht könne ich ihr auch bei der Organisation von Konzertauftritten behilflich sein, da einer meiner alten Freunde in Rio De Janeiro Impresario sei und mit Sicherheit Beziehungen zu Konzertveranstaltern in allen Städten habe, die wir berühren würden, so dass sie das Angenehme mit dem Nützlichen auf der Reise verbinden könne und die Reise sowohl als Konzert- wie als Sightseeingtour absolvieren könne.
Es treffe sich auch gut, dass die gebuchte Reise erst in sechs Wochen stattfinde, so dass bei einer sofortigen Kontaktierung meines Freundes noch genug Vorlauf für die Organisation und Werbung bleibe. In der Zwischenzeit könne sie mich auf meiner Yacht, die im Hafen von Rio vor Anker liege, in getrennten Zimmern und mit getrennten Kassen und völliger Freiheit in den Süden nach Blumenau begleiten und die restliche Zeit vor der Reise mit mir ebenfalls nach ihren Bedingungen auf meiner Fazenda in der Nähe des Rio Grande verbringen, um das Landleben zu genießen und sich auf dem dort vorhandenen Bechstein Flügel für die Konzertreise vorzubereiten.
‚Wenn Sie meinen, mich mit Ihren Besitzungen beeindrucken zu können, so sind Sie schiefgewickelt, und wenn Sie ein Promoter für Kinderprostitution sein sollten, so nehmen Sie sich in Acht. Ich kenne da keine Gnade und bringe Sie mit diesen, meinen Löwenpranken eigenhändig um, bringe Sie vor Gericht, in die Presse, ins Kittchen oder Zuchthaus. Machen Sie sich da keine Illusionen! Ich sage Ihnen das von vornherein, weil ich Sie nicht kenne und Sie mich auch nicht und Sie mir Angebote machen, wie sie eigentlich nur der Erbauer von diesem Frauenschloss Chenonceau, der französische König Henry II., seiner Lieblingsmätresse, der Diana von Poitou, gemacht haben wird oder dieser indische Maharadscha, dieser Erbauer des Tadsch Mahal seiner Lieblingsfrau. Ihre Angebote sind erste Sahne für mich, ein Volltreffer im Lotto, ein Supergau meiner heimlichsten und sehnlichsten Wünsche, und ich kann nicht so naiv sein wollen, um einen fundamentalen Glauben daran zu entwickeln, dass Sie alle diese Tischleindeckdichs nur aus purer Kunstbegeisterung für mich aus dem Hut gezaubert haben.’
‚Ich habe Ihnen versprochen, Ihre Bedingungen zu akzeptieren, und dies in Gegenwart meiner Freundin Viktoria, die das alles vor jedermann bezeugen kann, wenn Sie mich wegen nicht eingehaltener Versprechen verklagen wollen. Aber ich bin, obzwar mit 44Jahren kein unbeschriebenes Blatt mehr, dennoch ein Mann, dem man vertrauen kann, der Hochachtung vor Ihnen hat, der Sie bewundert und verehrt und der sich bestimmt nicht den Schmerz antun wird, gegen diese, vielleicht einzige gute Regung in seinem Leben zu versündigen. Ich müsste mich in Zukunft bis zur Bewusstlosigkeit verachten, und ich habe den schalen Geschmack dieser Selbstverachtung zur Genüge auf der Zunge gehabt, um endlich einmal eine Beziehung zu einem Menschen sauber und anständig durchzuhalten.’
‚Also kann ich davon ausgehen, dass Sie eine gewisse Zuneigung zu mir haben?’, fragte Carlotta. ‚Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber räumen Sie mir so viel Kredit ein, dass meine Einstellung zu Ihnen etwas Gutes ist und etwas Gutes will und dass ich nichts für Sie tun werde, das ich mir nicht von Ihnen hätte genehmigen lassen. Ich möchte auch mit Ihren Eltern sprechen und ihnen unser Projekt vorstellen und auch sie um ihr Einverständnis bitten.’
‚Dann sagen Sie ihnen aber die ganze Wahrheit!’, forderte mich Carlotta auf. ‚Welche ganze Wahrheit?’, fragte ich, ‚ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich in einer menschlichen Beziehung - nämlich Ihnen gegenüber - zum ersten Mal so etwas wie das Bedürfnis empfinde, gut zu sein, Ihnen zu dienen, Sie hoch und wert zu halten!’
‚Aber wie kann ich Ihnen das glauben, wenn Sie mich bereits mit einer Lüge ködern wollen!’, konterte Carlotta. ‚Mit einer Lüge?’, fragte ich wieder, ‚ich lüge nicht, wenn ich Ihnen das sage, welches von meinen Worten soll denn gelogen sein?’ ‚Jetzt machen Sie mir doch nichts vor! Sie haben doch keine Sightseeingtour durch Brasilien gebucht! Jeder weiß, dass Sie eine Farm in Brasilien haben und eine Vorliebe für das Nachtleben in Rio. Sie sind aus solchen Gründen hierher gekommen und nicht, um sich als Tourist hier rumzutreiben. Sie kennen doch schon alle diese Sehenswürdigkeiten längst. Sie haben nur einen Vorwand gesucht, um mich anzusprechen und – sage ich es mal aus Ihrer Perspektive – in den länger dauernden Genuss meiner Gesellschaft zu kommen.
Geben Sie es zu und lügen Sie mich nie mehr an! Ich durchschaue Sie, ich bemerke jede Lüge. Und wenn Sie auch nur ein einziges Mal noch versuchen sollten, mich zu belügen, so bin ich fort, verschwunden auf Nimmerwiedersehen.’ Ich war gestellt und es war mir Recht. Ich sagte: ‚Sie haben mich nicht erst heute besiegt. Sie beherrschen mich, mein Denken, mein Fühlen seit dem ersten Konzert, das ich von Ihnen gehört habe. Sie haben meine Lüge durchschaut. Ich gebe es zu.’
‚Es freut mich, dass Sie auch ehrlich sein können. Das könnte schon eine Basis für eine gemeinsame Zeit hier in Brasilien sein. Aber ich muss noch eines von vornherein klarstellen. Die Sympathien, die Sie mir anscheinend entgegenbringen, können Sie von mir nicht erwarten. In meinen Augen werden Sie einen Status wie ein ehrenamtlicher Reiseleiter und Konzertveranstalter haben und ich werde Ihnen dafür dankbar sein und Sie auch bei Ihren repräsentativen Verpflichtungen gerne unterstützen und begleiten, aber was darüber hinaus geht, also Intimitäten muss ich mir verbitten.’
‚Ich würde mich auch in einer Funktion als Ihr Kofferträger, Stiefelputzer oder Kammerjäger wohl fühlen und empfinde die Positionen als Reiseleiter und Konzertveranstalter schon als sehr gehoben’, antwortete ich. ‚Sie versprechen doch einen Status auf Augenhöhe mit der göttlichen Virtuosin und stehen auch der möglichen Entwicklung dieser Beziehung zu einer verständnisvollen Freundschaft nicht im Wege.’
‚Auf diesen Wortlaut können wir uns einigen und einen zeitlich befristeten Pakt für gemeinsame Unternehmungen hier in Brasilien feierlich unter Zeugen und Garanten seiner Unverletzlichkeit besiegeln!’, beendete Carlotta unsere Verhandlungen, indem sie auch Viktoria, die unser Gespräch mit Interesse verfolgt hatte, darin einbezog.
Viktoria bemerkte scherzhaft, jetzt wisse sie, wie man mit mir verhandeln müsse, um sich seine Begleitung angemessen entgelten zu lassen. Sie werde beim nächsten Mal jedenfalls auf einem unvermeidlichen Turn mit meiner Yacht bestehen. Ich beteuerte in meiner Freude über die bevorstehende gemeinsame Zeit mit Carlotta, dass dies bereits eine ausgemachte Sache sei, und fing mir darauf einen missbilligenden Blick von Carlotta ein, der mich sehr nachdenklich machte und mir für die Zeit unseres Zusammenseins irgendwelche Versprechungen gegenüber anderen Frauen kategorisch untersagte.“
Frau Schayani hatte die ganze Zeit damit zu kämpfen, dass ihr die Augen nicht zufielen. Die Munterkeit der Kanarienvögel und ihr eigener Wille hinderten sie aber immer wieder daran einzuschlafen. Jetzt fühlte sie sich aber sichtlich an der Grenze ihrer Belastungsfähigkeit und sie sagte: „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber ich hatte gestern eine lange Sitzung im Senat der Universität bis tief in die Nacht.
Entweder kürzen Sie Ihre Erzählung ab und berichten nur noch das Wesentliche Ihres Problems mit Ihrer Carlotta oder wir tauschen die Positionen und Sie gestatten mir, mich auf Ihre Couch zu legen und ein Stündchen zu schlafen, denn ich bin sehr müde.“ „Unterbrechen wir die Sitzung“, antwortete ich und erhob mich von der Couch. Gönnen wir uns zwei Stunden Ruhe und dann treffen wir uns wieder in diesem Zimmer.“ Darauf trennten wir uns, um ein Mittagsschläfchen zu halten.
Nach zwei Stunden trafen wir uns wieder im Salon, genossen den guten Kaffee, den Trines Enkelin aufgeschüttet hatte, und taten auch ihrem selbst gebackenen Streuselkuchen alle Ehre an, um danach unsere Unterhaltung fortzusetzen.
Ich erzählte meiner Therapeutin, wie ich am nächsten Tag mit Carlotta meinen Freund, den Impresario, besucht hatte, der nach einigen Proben von Carlottas Können sofort bereit war, an den Orten unserer Sightseeingtour Konzerte für sie zu organisieren und auch die Werbung und den Kartenvorverkauf in die Hand zu nehmen.
„Danach gingen wir in ein Reisebüro, um unsere Tour zu buchen, und Carlotta konnte auch ihren Anteil selber bezahlen. Ich wollte ihr dann noch ein schönes Kleid für ihre Konzertauftritte kaufen; aber nachdem ich dummerweise gesagt hatte, als sie zögerte, dass eine hübsche Garderobe immer mein Dankeschön für die weiblichen Begleitungen bei meinen Aufenthalten in Brasilien gewesen sei, lehnte sie kategorisch ab. Sie wolle sich nicht von mir abhängig machen und sie wolle sich auch nicht in die Prozession meiner ehemaligen Reisebegleitungen einreihen. Sie verstehe sich nicht als Angehörige des Dienstleistungsgewerbes, setzte sie dann noch spitz und bissig hinzu.
Ich hielt wohlweislich den Mund und bat sie, für den nächsten Tag ihren Koffer zu packen, damit wir an Bord meiner Yacht gehen könnten, um die Reise nach Blumenau anzutreten. Wir verabredeten uns für den nächsten Vormittag um 10 Uhr vor Carlottas Jugendherberge, um mit einem Taxi gemeinsam zum Yachthafen zu fahren, wie ich es vorschlug; aber Carlotta wollte lieber den Bus benutzen, weil ihr das Taxi zu teuer sei. Und so musste ich mich mit ihrem Vorschlag abfinden.
Hiermit deutete sich schon die erste Struktur unserer dauernden Konfliktsituation während unserer gemeinsamen Reise an. Denn Carlotta wollte alle Besichtigungen, Transporte, Übernachtungen und Speisen, die wir während dieser Reise genossen, auf die billigste Art ergattern. Ihre Eltern gehörten in Deutschland zu den Geringverdienern und freuten sich über jede Mark, die sie von ihren Reisen mitbringe, und daher verbiete es sich ihr, auch nur einen Pfennig unnützerweise auszugeben, eröffnete sie mir.
Somit wurde ich tatsächlich gezwungen, während unserer Reise in Campingwagen, Zelten, Jugendherbergen und Schlafcontainern zu übernachten und mich mit dem billigsten Fastfood zu mästen, das in den billigsten Supermärkten nach Überschreiten der Verfallsdaten zu herabgesetzten Preisen verschleudert wurde. Ich musste fast alle Besichtigungen der Sehenswürdigkeiten in den Städten, die wir heimsuchten, zu Fuß machen, oder mich bei größeren Entfernungen in überfüllte Straßenbahnen, Zugabteile oder Omnibusse quetschen. Dabei hatte sie mir empfohlen, mir einen Rucksack zuzulegen, damit ich immer meine zwei Liter Wasser mit mir herumtragen könne, um nicht auszutrocknen.
Besuche bei prominenten Verwandten oder Freunden, die ansonsten zu meinen Reisehighlights gehörten, langweilten sie und ödeten sie an, aber Aufenthalte in den billigsten Kneipen mit der lautesten Musik, dem ordinärsten Bier und den mumifiziertesten Bouletten machten sie an. Auch kostenlose Weinproben oder Proben von Schmalzgebäck oder Proben von Würsten und Schinken, von Paella und Chili con Carne, die zum kostenlosen Probieren auf irgendwelchen Theken lagen, zogen sie unwiderstehlich an.
Dabei konnte es häufig passieren, dass sie völlig gesättigt war, wenn wir einen großen Supermarkt von vorn bis hinten und von unten bis oben abgegrast hatten. Ich hielt mich am Anfang noch vornehm mit der Probiererei zurück, musste aber schließlich aus Hunger und Durst wohl oder übel mitmachen, wenn mir diese Art der Verköstigung auch nicht den geringsten Genuss bereitete und furchtbar auf den Magen schlug.
In unserer Zeltlodge am Amazonas bekam ich durch den Genuss des Wassers, das sie im Haupthaus aus dem Wasserhahn in meine zwei leer getrunkenen Wasserflaschen gefüllt hatte und das sie gut vertragen konnte, einen solchen Durchfall, dass mein Anus vom ununterbrochenen Gebrauch des Klopapiers ganz blutig geworden war.
Jetzt pflegte mich Carlotta aber so hingebungsvoll, besorgte mir Kamillentee, Zwieback und erstklassiges Wasser, dass ich schnell wieder auf die Beine kam und ihr auch nicht böse sein konnte. Sie cremte auch jeden der achtzig Insektenstiche, die ich mir in unserer verbilligten Zeltlodge geholt hatte, mit einer den Juckreiz mildernden Salbe ein und bot mir nach dieser ‚seriösen Intimität’ freundlicherweise das ‚Du’ an, weil eine solche Körperpflege unter Fremden, die sich ‚siezten’, doch eher unüblich sei.
Die andere Konfliktstruktur hatte mit unserem sozialen Status zu tun. Ich war in materiellem Überfluss aufgewachsen und hatte kein Auge für soziale Missstände und materielle Not. Zwar unterhielt mein Vater einen karitativen Mittagstisch für die Armen unserer Umgebung, aber diese Armenspeisung hatte er nicht selbst eingerichtet, sondern als traditionelle Einrichtung unserer Vorfahren übernommen.
Er hätte sie, was seine soziale Einstellung betraf, gerne abgeschafft, aber da meine Altvorderen ein solches Vorhaben vorhergesehen hatten, so hatten sie diesen sozialen Mittagstisch mit einer potentiellen Stiftung verbunden, die in dem Augenblick den Fortbestand des Mittagstisches sichern sollte, falls einer ihrer Nachkommen ihn abschaffen wollte. In diesem Fall sollten die Einnahmen aus mehreren Immobilien für die Aufrechterhaltung der Armenspeisungen verwendet werden und diese Immobilien aus dem privaten Besitz entflochten und einer öffentlichen Stiftung zugeführt werden. Da die Immobilien erheblich mehr einbrachten, als für die Aufrechterhaltung der sozialen Einrichtung nötig war, und zudem die Qualität der Speisen nicht festgelegt war, hatte keiner meiner Vorfahren die Dummheit besessen, daran zu rühren. Nachdem der Besitz meiner Mutter mit dem Besitz meines Vaters vereinigt worden war, lieferte diese soziale Einrichtung auch ein kleines Alibi für den scheinbar überbordenden Reichtum der Familie.
Kurz, ich war im Hinblick auf soziale Probleme ein völlig unterbelichtetes Negativ. Ich kannte kein soziales Mitgefühl für die Not anderer Menschen, ich kannte keine soziale Verantwortung für die mir anvertrauten Angestellten oder Schutzbefohlenen. Ich kannte nur mein egoistisches Interesse an einem Luxusleben mit den entsprechenden kostenintensiven Vergnügungen. Tausend Mark waren für mich das übliche Taschengeld, das ich für irgendwelche überflüssigen Genüsse oder Einkäufe täglich auszugeben gewöhnt war, und bei diesen Ausgaben war kein Pfennig, den ich einem am Wege hockenden Bettler geschenkt hätte.
Ich bewegte mich natürlich auch nicht in Gebieten und mit Menschen, die nicht im Überfluss schwammen, sondern bevorzugte als häufigste Gesellschaft einseitig meine Adelskaste oder Finanzhaie, die noch viel reicher zu sein vorgaben (und es häufig auch waren), als ich es zu sein schien.
Carlotta dagegen war in kleinen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern lebten beständig an der Armutsgrenze und mussten allerhand Erfindungsreichtum aufbringen, um durch nebenamtliche Tätigkeiten sich einige zusätzliche Einnahmen zu verschaffen. Carlottas Vater arbeitete nachts häufig als Taxifahrer und ihre Mutter hatte sich als Putzfrau in ihrer Schule verdingt, so dass sie doch gelegentlich etwas mehr Geld hatten, als zum puren Lebensunterhalt nötig war, so dass für Carlotta ein Klavier gekauft werden konnte und die Bezahlung ihrer Klavierstunden gesichert war.
Ich hatte Carlottas Eltern angerufen und ihnen unser Vorhaben mitgeteilt. Ich hatte auf den großen Kunstliebhaber, Kunstmäzen und Kinderbeschützer ‚gemacht’, also ihnen zu verdeutlichen versucht, dass es für ein 15jähriges Mädchen – auch von der Burschikosität Carlottas – ziemlich gefährlich sei, sich ohne männlichen Schutz im fremden Land herumzutreiben, und hatte ihnen versichert, dass ich mit meinem Namen dafür hafte, dass Carlotta bei mir sicher, in guter Hut sei.
Die Eltern, die meinen schlechten Ruf offenbar kannten, wollten zunächst Einwände machen, aber nachdem ich ihnen erklärt hatte, dass ich sie wohl nicht angerufen hätte, wenn ich schlechte Absichten hätte, und dass bei dem Interesse der Medien es für sie ein Leichtes sei, mich in der ganzen Welt zu einer Unperson zu machen, wenn sie irgendwelche Übergriffe meinerseits, die Carlotta ihnen mitteilen würde, an die Presse weitergäben, legten sich ihre Bedenken. Mit dieser Argumentation und nachdem ihnen Carlotta die drei Bedingungen durchgegeben hatte, die die Grundlage unserer Reisegemeinschaft waren, beruhigten sich die Eltern und gaben mir ‚grünes Licht’.
Indem ich – auch auf Carlottas Drängen hin – Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen hatte, war für mich der erste Schritt getan, um vermehrten Umgang mit Gesellschaftsschichten zu finden, die ich bisher gemieden hatte. Schon die Besichtigungsrouten an unseren Zielorten, die –wie gesagt – von Carlotta nach Maßgabe der billigsten Verbindung ausgesucht wurden, führten mich durch Gegenden und in Gesellschaften, die für mich bisher terra incognita, unbekanntes Land, gewesen waren. Sie hatte einen besonderen Blick für vernachlässigte Kinder und benutzte mich, der ich mir einige Portugiesisch-Kenntnisse angeeignet hatte, als Dolmetscher, um mit diesen Kindern ins Gespräch zu kommen.
Ein Mädchen von fünf oder sechs Jahren, das einen halb verhungerten Eindruck machte und auf der hinteren Plattform des Busses, mit dem wir zum Opernhaus in Manaus fuhren, lag und bettelnd seine Hände nach uns ausstreckte, musste ich nach seinen Eltern und seinem Zuhause fragen.
Als wir hörten, dass das Kind, immer wenn seine Mutter Besuch von fremden Onkels hatte, weggeschickt wurde, um zu betteln und tage- und nächtelang nicht nach Haus kommen sollte, bis es die Summe von 10 Cruzeiros zusammenhätte, gab Carlotta ihr das Geld und entschloss sich auf der Stelle, das Kind nach Hause zu begleiten.
Ich versuchte Carlotta diesen Entschluss auszureden und versprach ihr, noch hundert Cruzeiros auf die milde Gabe draufzulegen, wenn sie von ihrem Vorhaben ablasse; aber Carlotta sagte, wir könnten uns nicht von der Verantwortung für dieses Kind durch irgendwelche läppischen Almosen loskaufen, die dem Kind übrigens nach der nächsten Haltestelle wieder abgenommen würden, sondern müssten uns überzeugen, ob die häuslichen Verhältnisse des Mädchens mit unserer Hilfe so geändert werden könnten, dass es eine Chance habe, gesund aufzuwachsen. Ansonsten müssten wir die Sozialbehörden von Manaus benachrichtigen und darauf dringen, dass das Kind in einer sozialen Einrichtung untergebracht werde.
Ich hielt dagegen. ‚Und die Oper von Manaus? Dieses exotische Gebilde, das die legendären Kautschukbarone mitten in den Urwald gebaut haben, um die berühmtesten Primadonnen und Stimmakrobaten ihrer Zeit mit irrsinnig hohen Gagen in den Dschungel zu locken und ihnen zu akklamieren?’ ‚Vergangene Herrlichkeit’, meinte Carlotta, ‚aber immer noch deine Welt! Ich lebe im Hier und Jetzt, in einer Welt mit diesen misshandelten, unterernährten und analphabetischen Kindern und ich kann nicht ruhigen Gewissens schlafen, wenn ich nicht tue, was in meiner Macht steht, um ihnen zu helfen. Ich hätte das Gefühl, mein sicheres und angenehmes Leben auf Kosten ihres Leidens und Elends aufzubauen, ja, ihre Not durch meinen Mangel an Mitleid und Solidarität noch zu verschlimmern. Ich will nicht zu diesen Schmarotzern des menschlichen Leidens gehören, wie diese kapitalistischen Ausbeuter der ‚Dritten Welt’, die ihre Rohstoffe klauen und sich die veredelten Produkte dann zu überhöhten Preisen von ihnen abkaufen lassen. Willst du solch ein Schmarotzer bleiben, dann steige in das nächste Cadillac-Taxi und hau ab, damit ich dich nie, nie wieder sehe!’
Ich wollte mich nicht von Carlotta trennen, also gab ich ihr Recht. Was das für zukünftige Diskussionen zwischen uns zu bedeuten hatte, konnte ich nicht vorhersehen. Also stellte ich mich der aktuellen Situation und bot der Kleinen erst mal einen Schluck aus meiner Wasserflasche an und Carlotta fütterte sie mit einer Banane. Dann fragten wir sie nach ihrem Namen und ob sie uns den Weg zu ihrer Wohnung zeigen könne, und machten ihr klar, dass wir sie nach Hause bringen wollten. Die Kleine, sie hieß Elvira, fasste Zutrauen zu uns, und, nachdem ich ihr noch einen Zehner in die Hand gedrückt hatte, sagte sie uns, dass wir mit ihr bis zur Endhaltestelle fahren müssten, und dann sei es nicht mehr weit.
Ich fragte Elvira, ob sie auch einen Papa habe. Sie sagte: ‚Ja, er wohnt bei uns und holt die fremden Onkels ins Haus, aber meine Mama hat zu ihm gesagt, als er mich feste hauen wollte, weil ich seine Flasche Bier umgestoßen hatte, fass das Kind nicht an, es ist nicht dein Kind, es ist mein Kind. Er hat mich dann sofort losgelassen und ich bin zu meiner Mama gerannt und sie hat mich in die Arme genommen und mich beruhigt und gestreichelt.’
‚Ist er böse?’, fragte Carlotta. ‚Nein, nur wenn er zu viel Bier und Schnaps getrunken hat. Er hat mich auch ab und zu in den Kindergarten gebracht oder mitgenommen, wenn er einkaufen gegangen ist. Meine Mama geht nicht mehr aus der Wohnung heraus. Er hat mich auch mit auf die Kirmes genommen und in den Park und hat mit mir gespielt.’
‚Ist dein Papa groß und stark?’, wollte ich jetzt wissen, um das Risiko, das wir eingingen, einigermaßen abschätzen zu können. ‚Nein, er ist ganz dünn und zittert manchmal. Mama sagt immer ‚mein Hänfling’, ‚mein Zitterälchen’ oder mein ‚Ladenschwengelchen’ zu ihm. Wenn sie wütend auf ihn ist, sagt sie auch ‚du Hornochse’, ‚du Mistkäfer’ oder ‚du Schnapshusar’ zu ihm und droht ihm, dass sie ihn in den Hamsterkäfig steckt oder an die Wand klatscht, wenn er ihr noch einmal die ‚Knete’ klaut oder die ‚Fluppen’ versteckt. ‚Mama ist stark wie ein Bär’, schwärmte sie ‚und sie haut alle zu ‚Klumpatsch’, die mir was tun wollen. Aber euch tut sie nichts’, fügte sie treuherzig hinzu, ‚denn ihr seid lieb zu mir!’
In Anbetracht der Tatsache, dass Carlotta Löwenpranken hatte und Karate konnte und ich einen Schlagring unter meinen Manschetten trug und Träger des schwarzen Gürtels war, konnte man dem Besuch bei Elviras Mutter mit einiger Zuversicht entgegensehen. Es war denn auch von der Bushaltestelle nicht mehr weit bis zu dem Mehrfamilienhaus, in dem Elviras Eltern wohnten.
Das Haus war sogar einigermaßen ansehnlich und gehörte offensichtlich zu einer Siedlung, die irgendeine Wohnungsbaugesellschaft für Arbeiterfamilien am Stadtrand errichtet hatte. Die Wohnungstür, die uns nach mehrfachem Schellen und einer halbstündigen Wartezeit dann zögernd geöffnet wurde, gab aber einen Mief von Zigarettenrauch, Hamstergestank und abgestandenem Bier frei, der uns den Eintritt nicht sehr einladend erscheinen ließ. Elvira hatte uns aber schon begeistert als lieben Onkel und liebe Tante vorgestellt, die ihr Bananen, Mangos und Wasser gegeben hatten und ‚hört und staunt 20 Cruzeiros’. Es war der ‚Hänfling’, der uns die Tür geöffnet hatte und uns jetzt höflich die Hand gab und uns in das Wohnzimmer führte.
Hier thronte in einem viel zu kleinen Sessel ein wahrer Fleischberg von Dame mit struppigen Fransen von Haaren, die über das vierschrötige Ackergaulgesicht in alle Richtungen hinausgingen. Die Haut ihres Gesichtes war grobporig, weißlich und jetzt offenbar aus Aufregung etwas gerötet und ihr fetter, plumper Körper erlaubte ihr nicht einmal aufzustehen, um uns zu begrüßen. Gekleidet war sie in eine Art Negligé, worunter sich, wie es sich auch dem zurückhaltendsten Auge nicht verbergen konnte, kein weiteres Kleidungsstück verbarg. Die Dame rauchte und war offensichtlich nicht begeistert davon, dass Elvira Onkel und Tante mitgebracht hatte. Sie bot uns aber immerhin an, uns auf das klapprige Sofa zu setzen, das ihrem Sessel gegenüber stand, und fragte uns, wo wir Elvira aufgegabelt hätten.
Dann ließ sie sich von Elvira das erbettelte Geld geben und schickte sie ins Schlafzimmer, um die Betten zu machen. Darauf rutschte sie ihr Negligé so zurecht, dass ich, der ihr gegenüber saß, den Urwald ihrer Scham nicht übersehen konnte, da sie, wie mir schnell bewusst wurde, mich wohl als in jeder Hinsicht potenten Kunden einstufte und sich ein eindeutiges Angebot nicht versagen konnte. Als sie aber mein Desinteresse bemerkte und Elvira aus dem Schlafzimmer wieder zurückkam, verhüllte sie ihren Venusberg wieder und steckte sich die nächste Zigarette an, die sie ihrem Hänfling, der auf ihre diesbezügliche Frage jeden Besitz einer Zigarette geleugnet hatte, mit einem blitzschnellen Griff aus der Jackentasche gezogen hatte.
Die Unterhaltung bestritt allein der ‚Hänfling’, der heute nicht zitterte, aber von einem offenbar alkoholbedingten Sturz ein blaues Auge und eine aufgeschrammte Backe hatte, die er uns als Folgen eines Trainingsunfalls beim Kickboxen erklärte. Er machte sich zu einem der besten Kickboxer der Stadt und pries auch seinen väterlichen Einsatz für Elvira, die er jeden Tag zum Kindergarten gebracht habe und regelmäßig zur Kirmes und in den nahe gelegenen Vergnügungspark ausführe.“
Frau Schayani rutschte schon einige Zeit unruhig auf ihrem Stuhl herum und unterbrach mich jetzt. „Ich kenne solche Verhältnisse“, sagte sie, „Sie müssen mir keinen Roman über alkoholkranke Sozialhilfeempfänger erzählen. Meine Zeit wird nämlich knapp. Sagen Sie mir klipp und klar, worauf sie hinauswollen, also welche Konsequenz dieser Besuch für Ihre Beziehung zu Carlotta gehabt hat, und sagen Sie mir bitte auch, ob Sie auch heute noch mit Carlotta in Verbindung stehen und über ihren Wohnort und ihre Aufenthaltsorte während ihrer mutmaßlichen Konzerttourneen Bescheid wissen. Sie können mir, wenn Sie es für unvermeidlich halten, beim nächsten Besuch noch etwas über Ihre gemeinsame Reise mit Carlotta in Brasilien erzählen. Heute nur noch das Notwendigste.“
Also stoppte ich den Fluss meiner Erinnerungen und fasste zusammen. „Carlotta kam nach diesem Besuch zu dem Ergebnis, dass die geschickte und gescheite Elvira bei diesen Eltern und in diesen Verhältnissen keine Chance habe, sich normal und ihrer Begabung entsprechend zu entwickeln, und verlangte von mir als einem der reichsten Männer Deutschlands, das Kind aus dieser Familie herauszuholen und ihm eine gute Ausbildung in einem von der katholischen Kirche unterhaltenen Internat in Brasilien zu bezahlen. Ich lehnte natürlich ab und verursachte damit den ersten unreparierbaren Riss in unserem Beziehungsgeflecht, was mir zunächst aber nicht bewusst wurde.
Auf Ihre zweite Frage kann ich positiv antworten. Ich kenne den Wohnsitz von Carlotta, bin auch ungefähr über ihre Tourneen informiert. Allerdings habe ich wegen Carlottas Ablehnung meiner Person keinerlei Zugang mehr zu ihr.“
„Vielleicht kann man daran etwas ändern“, reagierte Frau Schayani. „Wenn es Ihnen recht ist, werde ich versuchen, einen Kontakt zu Carlotta Key herzustellen, denn ich nehme an, es handelt sich um diese Pianistin, worauf sich vielleicht auch eine Änderung ihres Verhaltens Ihnen gegenüber ergeben könnte. Sind Sie damit einverstanden?“
Natürlich war ich damit einverstanden. Ich bestätigte ihr auch, dass Frau Key die gemeinte Virtuosin sei, bat aber Frau Schayani, mit dieser Vermittlung noch so lange zu warten, bis sie die ganze Geschichte von Carlotta und mir gehört habe, um die verschiedenen Probleme besser erörtern zu können, falls sich Carlotta auf eine Diskussion mit ihr einlasse.
Darauf sagte ich Frau Schayani noch, dass mir ihre Besuche gut täten, ihre Fähigkeit zuzuhören, ihre Solidarität mit meiner Person, ihre Fürsorge, um meinen körperlichen und seelischen Problemen Abhilfe zu verschaffen, aber dass ich mich in den Tagen, in denen sie nicht da sein könnte, mich sehr auf mich allein gestellt sehe und von Depressionen, von Zweifeln an dem Sinn meiner Weiterexistenz und von Rückfällen in Trunksucht und Verfressenheit heimgesucht werde. Ich hätte alles genossen, was es im Leben zu genießen gebe, aber jetzt könne ich mir die Genüsse nur noch unter Lebensgefahr und mit schlechtem Gewissen leisten und damit seien es keine Genüsse und keine Freudenspender mehr und alle anderen Aussichten auf harmlosere Lebenserfüllungen sähe ich als unerreichbar oder als Illusion an.
Ich hätte keine Hoffnung mehr, dass dieses unser menschliches Leben, dass dieses mein persönliches Leben noch irgendeine Aussicht auf einen höheren Sinn, auf eine Verbesserung hätte und dass die materiellen Vorteile, die für viele Menschen erstrebenswert seien, oder auch eine Vergrößerung der eigenen Machtposition mich nicht mehr reizen könnten. „Ich habe genug davon besessen und ich weiß, wie trügerisch die Sicherheit ist, die einem dadurch vorgegaukelt wird, und wie schnell sich alle Verhältnisse ändern können. Und dann bleibt dir nichts mehr, als deine eigene Verzweiflung, deine Einsamkeit, deine Ohnmacht“, sagte ich ihr.
Was auch in solchen Situationen noch bleiben könnte, sei der Glaube an eine ewige Weltordnung, seien die Zuneigung und Unterstützung durch Menschen, die einen lieben würden und die unverrückbar treu zu einem stünden, also Weib und Kinder, und vielleicht doch ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass man sich für eine bessere Welt eingesetzt habe und dass dieser Einsatz – auch wenn es im Augenblick nicht so aussehe – sich gelohnt habe und irgendwann und irgendwo Früchte tragen werde.
„Für mich gibt es nichts dergleichen. Ich glaube nicht an die Fantasiegemälde, die die Religionen von der Welt als einer durch Gesetze und Regeln strukturierten Ordnung zeichnen. Ich habe keine engen Freunde oder eine eigene Familie, die mir in Liebe und Treue anhängen. Ich habe keine Hoffnung, dass mein Leben und meine Taten irgendetwas zur Verbesserung der Welt beigetragen haben oder beitragen werden. Meine Existenz ist so überflüssig wie ein Kropf. Ich habe in jeder Hinsicht vergeblich gelebt und bin auch der Meinung, dass diese ganze blinde, ins Verderben rennende, die Natur, die Kultur und sich selbst zerstörende Menschheit von heute besser nicht gelebt hätte und freiwillig die Erde den Tieren überlassen sollte, damit die Erde sich regenerieren könnte und wieder gesunde Verhältnisse eine Chance hätten.“
„Sie sind zu einsam, zu allein“, sagte Frau Schayani, „und Sie scheinen unfähig, an transzendente Wirklichkeiten zu glauben! Sie sollten sich, wenn es sich eben machen lässt, einige Wochen in ein Kloster zurückziehen und versuchen, sich in die betreffende Klostergemeinschaft einzugliedern und mit ihr zu beten und zu arbeiten.
Wir Menschen sind von Natur aus Herdentiere und seit unserem Auftauchen immer in Gruppen, Sippen, Völkerschaften unterwegs gewesen. In solchen Gesellschaften erübrigen sich viele überflüssige Gedanken und man lebt mit seiner Gruppe und aus den Zielsetzungen der Gruppe. Und was man zum Leben der Gruppe beiträgt, das gibt einem die Gruppe an Solidarität und Fürsorge und vielleicht auch an Liebe wieder zurück und damit kann ein Leben seine volle Erfüllung finden. Wir leben nicht mehr primär in solchen Lebensgemeinschaften, sondern wir führen fast in der überwiegenden Mehrheit ein Leben als Single, als Einzelwesen, als Individuum. Und dadurch ergeben sich die vielen Probleme.
Wir müssen erst eine Welt designen, die auf das Individuum abgestimmt ist. Dann könnte sich das Individuum vielleicht auch darin wohl fühlen. Aber alle unsere sozialen Einrichtungen, die Staaten, die Religionen, die Clubs sind auf Gruppeninteressen abgestimmt. Und auch unsere emotionale und körperliche Ausstattung ist auf den Kontakt mit mehreren, mit anderen hin angelegt und nicht so, dass man mit sich selbst Genüge finden könnte.
Wahrscheinlich würde eine solche Welt, wie es die Beispiele der Inzucht und des Autismus lehren, auch bald verfallen und untergehen, weil das Neue, das, was sich höher entwickeln kann, durch die Bereicherung des Genpools der Nachkommen infolge der Außenkontakte der Elterngeneration hervorgerufen wird und nicht durch Solipsismus und Inzest. Also probieren Sie das Leben in der Gruppe und holen Sie sich vielleicht ein wenig der Existenzsicherheit, der Instinktsicherheit zurück, die Gruppenwesen auszeichnet und die Sie durch Ihre Vereinzelung, auch Ihren nur auf sich selbst gerichteten Egoismus, verloren haben.
Wenn Sie Wert darauf legen, werde ich einige mir bekannte Äbte von katholischen Klöstern anrufen und fragen, ob Sie dort für einige Wochen Aufnahme finden können.“
„Ich, in ein Kloster?“, fragte ich gedehnt. „Damit machen Sie den Bock zum Gärtner! Nachher konvertieren alle Klosterbrüder zum Hedonismus, zum optimalen Lebensgenuss und zum Atheismus, zur Gottlosigkeit!“ „Ihre elende Erscheinung macht allerdings keine attraktive Reklame für Ihre bisherige Lebensphilosophie“, antwortete sie. „Ich denke, dass umgekehrt das frische und bäuerliche Erscheinungsbild einiger Acker- und Weinbau betreibender Mönche oder auch die ehrwürdige Geistigkeit einiger gelehrter Mitbrüder eine sehr viel positivere Ausstrahlung haben werden, so dass ihre Erscheinungen eher dazu geeignet sein werden, für ihr Lebensideal zu werben, als es die Ihre kann!“
„Sehr liebenswürdig“, bedankte ich mich, Sie führen eine offene Sprache; aber Ihre Beurteilung, dass das Klosterleben attraktiver sei als ein Leben in Saus und Braus, provoziert mich. Ich möchte doch gerne die Probe aufs Exempel machen, ob ich die Mönche zu meiner Lebensart bekehren kann oder sie mich zu ihrer. Also lassen Sie Ihre Beziehungen spielen und machen Sie den nächsten Termin für einen Klosteraufenthalt für mich fest.“
„Abgemacht“, sagte Frau Schayani. „Vielleicht wird die Erfahrung des Gruppenlebens nach bestimmten Regeln auch Ihre anderen Defizite an Glaubensfähigkeit und familiärer Bindungsfähigkeit etwas verringern können.“ Darauf sagte ich nichts, erklärte mich nur mit der Beendigung unserer Sitzung einverstanden und spürte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie eine positive Energie durch meine Gefäße rinnen und auch die Andeutung einer Freude auf dieses mir noch unbekannte Terrain und Leben, das mich in einem Kloster erwarten würde.