Читать книгу Auf der Via Tolosana - Jan-Peter Schneider - Страница 12

Kapitel 10 10. Le Bousquet d'Orb – St.-Gervais-sur-Mare: Segelregatta am Küchentisch

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Als ich mich am nächsten Morgen an den Frühstückstisch setze, schlägt mir bereits der aromatische Geruch von schwarzem Tee und frisch gebackenem Vollkornbrot entgegen. Die Duftwolke, die ich tief in mich aufsauge, weckt die letzten Lebensgeister aus ihrem Dämmerzustand. Francine kommt mit ihrem Wuschelkopf aus der Küche. „Bonjour!“ „Bonjour! Wie hast du geschlafen?“ „Ja, ganz gut, danke.“ Ich schenke mir den heiß dampfenden Tee in die Tasse. „Wandern wird ja immer beliebter.“ erklärt Francine, während ich Feigenkonfitüre auf eine Scheibe Vollkornbrot schmiere. „Einige sind nur noch auf Wanderung, ihr ganzes Leben lang.“ „Vor ein paar Jahren hatte ich ein älteres Paar, beide schon über 70 Jahre alt, zu Gast. Kurz nach ihrer Hochzeit sind die beiden zu Fuß in Kalifornien aufgebrochen, haben den gesamten Mittleren Westen bis zur Ostküste durchwandert. In Boston haben sie dann ein Flugzeug nach Lissabon genommen, um dort ihre Wanderung fortzusetzen. Nachdem sie die Pyrenäen überquert hatten, sind sie dann auch in Le Bousquet d'Orb vorbeigekommen. Und die beiden wollten bis nach Jerusalem weiterwandern.“ „Kaum zu glauben.“ schüttele ich erstaunt mit dem Kopf. „Das Vollkornbrot schmeckt übrigens sehr lecker!“ „Das habe ich selbst gebacken. Mit Vollkornmehl aus dem Bioladen.“ „Sehr gut! Auch die Feigenkonfitüre hat einen ausgezeichneten Geschmack.“ „Und dann hatte ich einmal einen chilenischen Soldaten zu Gast. Ein großer, kräftiger Mann.“ nimmt Francine den Faden wieder auf und deutet mit ihren Händen die kräftige Gestalt des Soldaten an. „Der wanderte in seinem Urlaub auf der Via Tolosana und legte dabei täglich Etappen von 40 bis 50 Kilometer zurück. Auf dem Rücken trug er dabei einen 40 kg schweren Rucksack. Den konnte ich noch nicht einmal aufheben.“ „Wenn man in einem körperlich guten Zustand ist und gewohnt ist, sich mit schwerem Marschgepäck im Gelände zu bewegen, ist das durchaus vorstellbar.“ erwidere ich. „Aber auf jeden Fall eine beeindruckende Leistung!“ „Hast du den Kinofilm „In the wilderness“ gesehen?“ fragt Francine, während ich den heißen Tee schlürfe. „Nein.“ erwidere ich. „Ein junger Mann macht sich auf, lässt alles hinter sich zurück, um in der Wildnis Alaskas zu leben.“ „Nein, den Kinofilm kenne ich nicht. Aber ich habe einmal im Fernsehen eine Dokumentation über einen jungen Mann gesehen, der ein Leben in der Wildnis führen wollte, dort aber nicht genügend Nahrung gefunden hat und am Ende in einer alten Karosse verhungert ist. Erst Monate später haben dann Jäger seine Leiche aufgefunden.“ „Das war kein Wagen, sondern ein ausrangierter Linienbus.“ korrigiert mich Francine. „Auf der Suche nach Abenteuer und einem selbstbestimmten Leben in der Natur hat der junge Mann mitten im Winter in diesem ausrangierten Linienbus sein Lager aufgeschlagen. Nur mit einem Jagdgewehr ausgestattet, ist er in der rauhen Wildnis auf Pirsch gegangen. Einmal ist es dem jungen Mann sogar gelungen, einen Elch zu erlegen. Als er aber den Elch gerade ausweiden wollte, ist ein Wolfsrudel über seine Jagdbeute hergefallen. Daher musste er sich vor allem von Früchten und Kräutern ernähren, die er in der Wildnis gesammelt hat.“ erklärt Francine. „Im Frühling war der junge Mann – aufgrund des Tauwetters – aber nicht mehr in der Lage, den angeschwollenen Fluss zu überqueren und war somit in der Wildnis gefangen. Deshalb hat er sich erneut in den Linienbus zurückgezogen.“ „Ja, stimmt. Ich glaube, wir sprechen tatsächlich von derselben Geschichte.“ erwidere ich leicht überrascht, während ich trockene Feigen und Aprikosen in das Müsli mische. „In the wilderness.“ Als ich dann Müsli mampfe, fragt Francine mich plötzlich nach dem Créanciale. „Ach, das hätte ich beinahe vergessen!“ Mit einem flinken Griff in die Seitentasche des Rucksacks, der bereits in der Nähe des Frühstückstisches steht, ziehe ich das Créanciale hervor. Francine holt unterdessen einen Stift aus der Schublade, um auf die Schnelle eine kleine Zeichnung für das Créanciale anzufertigen. Mit geübten Strichen skizziert Francine einen Wanderer, der – mit Wanderstab und Rucksack ausgestattet – in Begleitung eines Hundes unterwegs ist. „Merci bien!“ Nach dem reichhaltigen Frühstück muss ich schließlich aufbrechen, wenn ich den heutigen Etappenort St.-Gervais-sur-Mare noch bei Tageslicht erreichen möchte. „Bonne route!“ „Merci bien! Au revoir!“

Gleich am Ortsrand geht es auf unwegsamen Wanderpfaden steil aufwärts durch einen Kastanienwald. Obwohl ich nur mit kleinen Schritten langsam in die Höhe steige, gerate ich schon bald ins Schwitzen. Vielleicht macht mir bereits die dünne Höhenluft zu schaffen, auf jeden Fall atme ich schwer, während ich mich in Richtung Gebirgskamm kämpfe. Nach einem beschwerlichen Aufstieg erreiche ich schließlich am Bergrücken den Waldrand und kann auf eine – fast unberührte – bewaldete Bergwelt blicken. An einem dieser Berghänge steht eine Reihe von Windkraftanlagen, deren Rotorenblätter sich sanft im Wind drehen. Auf dem Mont Meguillou, fast direkt gegenüber, ragt der Tour de Guet, ein Wachturm der Feuerwehr, hoch über die Baumwipfel des Mischwaldes hinaus. Der GR 653 führt mich bergab bis zu einem Picknickplatz am Col de Clares. Von dort geht es auf einem Forstweg Richtung Col de Peyrenale und Col Liovrel, wo ich unbeabsichtigt ein Reh aufschrecke, das sich bergauf in das Dickicht des Bergwaldes flüchtet. Wenig später erreiche ich eine Aussichtsplattform, die einen hervorragenden Ausblick auf die kargen Bergflanken bietet, auf denen sich die Schatten der rasch vorbeiziehenden Wolken abzeichnen. Bei kühler Brise, die Jacke habe ich mir bereits übergezogen, steige ich hinauf zum Col de Sevies. Kurz vor dem Gipfel, an einem gegenüberliegenden Bergkamm, fallen mir erneut einige Windräder auf, die sich dort bei heftigen Böen schnell im Wind drehen. Auf einem steil ansteigenden Forstweg erreiche ich schließlich den höchsten, wenngleich wenig spektakulären Punkt der Etappe. Von dort führt die Via Tolosana auf verschwiegenen Forstwegen talwärts. Als ich auf die Landstraße D163 stoße, biege ich nach rechts ab, aber schon hundert Meter später schwenke ich wieder nach links, auf eine Graspiste in Richtung Col de Lairac. Während ich auf einer Schotterpiste in Serpentinen hinunter zu einer Zisterne steige, spüre ich langsam Hunger und Müdigkeit in mir aufsteigen. Auf der anschließenden steinigen Piste muss ich höllisch aufpassen, mit dem Rucksack, dessen Riemen schmerzhaft auf die Schulterknochen drücken, das Gleichgewicht zu behalten. Auf lockerem Geröll hopse ich von Stein zu Stein, bis ich nach einer gefühlten Ewigkeit in das Dorf Mècle gelange. Zwischen den traditionellen Steinhäusern tollen junge Hunde übermütig herum, während eine alte Frau gebeugt über den Brunnenplatz schleicht. Nach einem Schluck vom kalten Brunnenwasser raffe ich mich zum letzten Streckenabschnitt nach St.-Gervais-sur-Mare auf. Auf einem Trampelpfad marschiere ich durch einen jungen Wald, bevor ich in der Nähe der Ruinen des Clocher de Neyran, mit schwerem Rucksack, den abschüssigen Pfad ins Tal hinabschwanke. Am späten Nachmittag schließlich überquere ich die Steinbrücke über den Fluss Mare und betrete damit die ehemalige Bergbau-Siedlung St.-Gervais-sur-Mare.

In der Altstadt finde ich bald die Gîte, in der mich Michel, ein älterer Mann mit ergrauten Haaren, im Esszimmer empfängt. „Bonsoir!“ Michel blickt durch seine dicke, farblose Brille, und führt mich gleich über eine steile Treppe in das Gästezimmer im Obergeschoss, von dem man einen Blick auf den Fluss Mare werfen kann. Erleichtert entledige ich mich des Rucksackes. Als ich später in das Esszimmer zurückkehre, erscheint auch seine Frau Anne-Marie, kränklich blass. „Bonsoir!“ Am Abendtisch erklärt mir Michel: „Früher war das hier ein Kohle-Revier. Damals hatte St.-Gervais-sur-Mare über 3.000 Einwohner, vor allem Bergarbeiter und ihre Familien. Aber nachdem die letzten Kohlezechen geschlossen haben, ist die Einwohnerzahl stark zurückgegangen. Mittlerweile hat St.-Gervais-sur-Mare“ Michel schaut zu seiner Frau „nur noch knapp 900 Einwohner.“ Seine Frau, blässlich, nickt ihm zu. „In dem Kohlerevier wurde jahrelang hochwertige Kohle gefördert, aber als die Lagerstätten ausgebeutet waren, haben die Zechen schließen müssen. Das war schon ein ziemlich harter Einschnitt für die Region.“ Aber langsam gewinnt der Tourismus an Bedeutung.“ ergänzt Anne-Marie. „Die Zahl der Wanderer auf der Via Tolosana nimmt in den letzten Jahren zu, aber es gibt auch eine steigende Anzahl von Touristen, die für Wandertouren hier in die Region kommen.“ „Kennen Sie „Immortelle Randonnée: Compostelle malgré moi“?“ „Immortelle Randonnée?“ schaut Michel seine Frau fragend an. „Ja, das habe ich auch gelesen.“ nickt Anne-Marie blass. „Ich habe herzlich gelacht, als ich das Buch von Rufin gelesen habe. Besonders seine Beschreibung der verschiedenen Arten von Pilgern und ihrer Motive hat mich schwer beeindruckt.“ „Ja, das Buch ist sehr humorvoll geschrieben.“ bestätigt Anne-Marie. „Das hat mir auch sehr gut gefallen.“ Bald darauf stellt sich heraus, dass Anne-Marie während ihrer Schulzeit gerne das Fach Deutsch belegt hat. „In meiner Jugend hatte ich eine Brieffreundin in Freiburg, die ich auch mehrfach besucht habe. Einmal bin ich mit ihrer Familie sogar gemeinsam in den Urlaub nach Tirol gefahren.“ schwärmt Anne-Marie schon etwas lebhafter „Auf der Hinfahrt sind wir dabei auch am Rheinfall von Schaffhausen und dem Bodensee vorbeigekommen.“ Mit einem verträumten Blick erinnert sich Anne-Marie an ihre Studienzeit: „Ich habe dann Germanistik und Jura an der Universität Saarbrücken studiert.“ „Darauf müssen wir anstoßen!“ hebt Michel sein Glas Rotwein. „À la santé!“ „À la santé!“ „An der Juristischen Fakultät der Universität Saarbrücken besteht ja die Möglichkeit, das DEUG, den ersten universitären Abschluss, im französischen Recht abzulegen.“ ergänze ich. „Ja, das war eine sehr schöne Zeit, ich habe damals mit Kommilitonen aus Frankreich, Belgien, Luxemburg und der Schweiz studiert.“ sinniert Anne-Marie. „Das war zu Zeiten des Elysée-Vertrages. Ich habe damals ein Stipendium bekommen, deutlich großzügiger übrigens als das Stipendium, das Studenten heutzutage im Rahmen des ERASMUS-Programmes erhalten.“

„Während der letzten Tage sind mir sehr viele Windkraftanlagen aufgefallen.“ wechsle ich das Thema. „Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, dass Frankreich ebenfalls auf die Energiewende setzt.“ „Unsere Region ist einer der besten Standorte für Windkraftanlagen in ganz Europa, weil die Windverhältnisse hier das gesamte Jahr über zuverlässig und gleichmäßig sind.“ erklärt Michel nicht ohne einen gewissen Stolz. „Ein Onkel von mir hat lange Zeit als Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in der Region gearbeitet. Er gehörte zu den ersten Bürgermeistern, die den Bau von solchen Windkraftanlagen gefördert haben. Als mein Onkel das Amt übernommen hat, mussten in seiner Gemeinde die Wasserleitungen dringend saniert werden und eine Abwasserentsorgung existierte praktisch nicht. Mit dem kleinen Gemeinde-Budget konnten die notwendigen Investitionen allerdings nicht gestemmt werden. Seit dem Bau der Windkraftanlagen erzielt die Gemeinde hohe Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Damit kann die Gemeinde nicht nur ihre Wasserleitungen modernisieren, sondern sich sogar eine hochmoderne Abwasseraufbereitung leisten.“ Michel hält einen Augenblick inne: „Mit der Windkraft hat sich die Ortschaft finanziell saniert und gehört mittlerweile zu den wohlhabendsten Gemeinden Frankreichs.“ „Und wer betreibt die Windkraftanlagen?“ erkundige ich mich, bevor ich einen Schluck Rotwein zu mir nehme. „Wenn ich richtig informiert bin,“ erwidert Michel, „betreibt EDF die Windkraftanlage. EDF hat sich, soweit ich weiß, vertraglich verpflichtet, jedes Jahr eine bestimmte Strommenge an ein deutsches Energieunternehmen zu liefern.“ Michel schweigt einen Augenblick, bevor er hinzufügt: „Also die Energieentnahme bei den Windkraftanlagen richtet sich nicht nach der erzeugbaren Energiemenge, sondern nach dem Energiebedarf des deutschen Energieunternehmens.“ „Das ist schon etwas merkwürdig.“

Während ich mir die Etappe des morgigen Tages anschaue, wirft Michel immer wieder einen Blick auf den Computer-Monitor, der am Rande des Esszimmers platziert ist. „Was machen Sie denn da?“ „Ach,“ grummelt er, während er über seine dicke Brille auf den Monitor starrt „ich nehme an einer Segelregatta teil.“ „An einer Segelregatta?“ wiederhole ich überrascht. „Ja, an einer Segelregatta über den Pazifischen Ozean. Die Segelschiffe sind an der japanischen Ostküste gestartet und segeln nach Kalifornien.“ „Wie bitte? Im Pazifischen Ozean?“ „Ja, da findet seit gut zwei Wochen eine reale Regatta statt und begleitend dazu gibt es eine virtuelle Online-Regatta, in der die Teilnehmer in Echtzeit – auf der Grundlage der realen Wind- und Strömungsverhältnisse im Pazifischen Ozean – ihre Segelboote steuern können.“ Neugierig trete ich an den Bildschirm heran, auf dem verschiedene Punkte wie auf einer Schnur aufgereiht angezeigt werden und am rechten Rand des Bildschirms blinkt ein roter Punkt. „Sie segeln ja an der Spitze!“ rufe ich aus. „Nein,“ beruhigt Michel mich und zoomt heraus, so dass das gesamte Teilnehmerfeld der Online-Regatta auf dem Pazifischen Ozean sichtbar wird. Dann klickt er das aktuelle Zwischenergebnis der Regatta an.„Ich bin momentan auf dem 289. Platz.“ zeigt er auf den Bildschirm. „Der Spitzenreiter hat zu Beginn der Regatta eine andere Route gewählt und hat dadurch von günstigeren Windverhältnissen profitiert. Der wird wohl schon in einer Woche das Ziel erreichen.“ „Wenn man an einer solchen Online-Regatta teilnimmt, muss man ja sicherlich über sehr gute Kenntnisse des Segelsports verfügen. Sind Sie denn früher auch selbst mit dem Segelboot unterwegs gewesen?“ „Nein, ich bin vor zwei Jahren zufällig beim Internet-Surfen darauf gestoßen und seitdem nehme ich regelmäßig an solchen Online-Regatten teil. Es ist natürlich etwas anstrengend, denn ich muss auch in der Nacht mehrfach aufstehen, um die Wind- und Strömungsverhältnisse zu kontrollieren und eventuell den Kurs abändern bzw. Einstellungen an den Segeln anpassen.“ Ich schaue auf meine Uhr: „Es ist schon ziemlich spät geworden! Ich wünsche Ihnen noch viel Spaß bei der Segelregatta. Bonne nuit!“ „Bonne nuit!“

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