Читать книгу Auf der Via Tolosana - Jan-Peter Schneider - Страница 7
Kapitel 5 5. Montpellier – Montarnaud: Tränenreiche Diskussion im Kerzenlicht
ОглавлениеBei frischen Temperaturen trete ich am frühen Vormittag fröstelnd vor die Herberge. Mit dem Rucksack auf dem Rücken schüttele ich mich erst einmal warm. Dann trotte ich gemächlichen Schrittes durch die engen Gassen der Altstadt von Montpellier. Auf dem Vorplatz der Église Saint-Roch bleibe ich verwundert stehen. Auf der Hausfassade gegenüber scheint sich nämlich die Rosette der Église Saint-Roch in einem Glasfenster zu spiegeln, doch beim zweiten Blick stellt sich heraus, dass die vermeintliche Spiegelung lediglich Teil eines gelungenen Trompe l'oeil bildet, das dem Betrachter eine lebendige Straßenszene mit Hausbewohnern am geöffneten Fenster und jungen Leuten am Treppenaufgang vorgaukelt. Tatsächlich hat ein Fassadenmaler mit der perspektivischen Darstellung der Figuren, aber auch mit Schattenwürfen und Lichtreflexen die Illusion eines dreidimensionalen Raumes geschaffen. Kurz darauf wandere ich die Rue Foch hinauf und passiere schließlich den Triumphbogen zu Ehren von Louis XIV.. Mit diesem Arc de Triomphe feierte der französische König bereits 1693 seinen Sieg über die Protestanten in den Hugenottenkriegen, obwohl der katholische Glaubenskrieg weiterhin ganze Landstriche seines Königreiches verwüstete und seine Bevölkerung zutiefst spaltete. Auf dem Place Royale de Peyrou ziehe ich dann noch an der grandiosen Reiterstatue von Louis XIV. vorbei, bevor ich dem Aquädukt Saint-Clément stadtauswärts folge. In dem auf den oberen Arkaden errichten Kanal leitet der Aquädukt aus dem 18. Jahrhundert bis heute Trinkwasser aus der Quelle von Saint-Clément in ein auf dem Place Royale de Peyrou gelegenes Wasserreservoir, das die Springbrunnen und öffentlichen Wasserentnahmestellen der Stadt Montpellier versorgt. Bei seinem Entwurf hat sich der Architekt Henri Pitot de Launay erkennbar von dem Pont de Gard inspirieren lassen. Denn beim Aquädukt Saint-Clément steht die Wasserleitung – fast wie bei seinem architektonischen Vorbild aus der römischen Epoche – auf über 20 Meter hohen Arkadenbögen.
Nach über einer Stunde erreiche ich in der Nähe des Fußballstadions „Stade de la Mosson“ endlich die Stadtgrenze. Aber ich finde partout nicht den Fußweg nach Grabels, der mich endgültig aus Montpellier führen soll. Ich schaue mich noch einmal um, aber weit und breit ist keine rot-weiße Markierung zu erkennen. Zum Glück findet in der Nähe des Stade de la Mosson gerade ein Markt statt, auf dem sich zu dieser frühen Stunde schon einige Kunden tummeln. Ich spreche also einen zuverlässig wirkenden Marktbesucher an, doch der kennt weder den Grande Randonnée 653 noch die Via Tolosana. Und ein Weg am Ufer des Mosson fällt ihm – auch nach längerem Nachdenken – nicht ein. Schade! „Merci bien!“ Die Marktstände verstellen leider den Blick auf das angrenzende Strauchwerk, in dem irgendwo der Zugang zum gesuchten Fußweg versteckt liegen muss. Als ich mich gerade auf die Suche begeben möchte, kehrt der Mann noch einmal zurück. „Hier in der Nähe liegt ein Park. Wenn Sie am Parkeingang, den abfallenden Fußweg hinuntergehen, gelangen Sie zum Bach Mosson.“ „Merci bien!“ Tatsächlich entdecke ich kurz hinter den Marktständen den Parkeingang und bald darauf auch den Bach Mosson. Allerdings hinterlässt der Uferbereich des Mosson einen ziemlich vermüllten Eindruck, denn ich muss im Park an einigen überquellenden Mülleimern, zerbrochenen Flaschen, Hundescheiße und Plastikabfällen aller Art vorbeilaufen. Mit zunehmender Entfernung von der Stadtgrenze kommen jedoch die natürlichen Reize des kleinen Mosson, der sanft durch die Landschaft mäandert, immer stärker zur Geltung. Am Ortsrand von Grabels durchquere ich schließlich sogar einen Naturlehrpfad, der den Spaziergängern die reichhaltige Pflanzen- und Tierwelt am Mosson näherbringen soll. In der Siedlung von Grabels steige ich auf einem Schotterweg bergan, bevor ich auf einen Trampelpfad wechsele, der mich durch dorniges Gebüsch aufwärts führt. Auf dem höchsten Punkt blicke ich schließlich auf eine leicht wellige, aber karge Garrigue-Landschaft. Ein kalter Mistral fegt über die niedrigen Zwergsträucher hinweg, zwischen denen sich anspruchslose Rosmarin- und Lavendelpflanzen verstecken. Fröstelnd ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke hoch. In einiger Entfernung entdecke ich auf einer Anhöhe – zum ersten Mal seit Beginn meiner Wanderschaft – zwei einsame Wanderer mit Rucksack, die sich aber mit strammem Marschtempo vorwärtsbewegen und bald schon in einer Senke verschwinden. Nach einer Cart-Bahn muss ich zwei stark befahrene Autostraßen überqueren, bevor ich durch einen zwischen kleineren Weinfeldern eingequetschten Waldstreifen ziehe. Kaum habe ich dieses Dickicht verlassen, sehe ich auf einmal zahlreiche Reitpferde, die mit wehender Mähne auf ihren Pferdekoppeln herumtänzeln und dabei interessiert die vorbeiziehenden Wanderer beobachten. Auf dem Reiterhof klappern die Pferdepfleger mit blechernen Eimern, misten die Pferdeboxen aus und striegeln die Pferde im Innenhof. „Bonjour!“ Ein Pferdepfleger schleppt einen Sattel zu einer der Pferdekoppeln, um eines der Pferde zu bewegen. An einem kurzen Anstieg, hinter dem Reiterhof, entdecke ich die beiden Wanderer wieder, die zwischenzeitlich aus meinem Sichtfeld entschwunden gewesen sind. Nach dem Sticker auf einem der Rucksäcke zu urteilen, handelt es sich wohl um zwei belgische Wanderer, aber mit dem strammen Marschtempo, das die beiden an den Tag legen, kann ich natürlich nicht mithalten, und sie verschwinden erneut aus meinem Blickfeld. Bald darauf erblicke ich, von einer Anhöhe aus, den heutigen Etappenort, das kleine Montarnaud. Schon leicht entkräftet trudele ich wenig später in Montarnaud ein.
Direkt am Ortsrand entdecke ich eine Gîte, ein sympathisches Einfamilienhaus mit einem großzügigen Garten. Ich klingele an der Haustür. Kurz darauf öffnet Madame Frogé. „Bonjour, Madame! Ist denn noch ein Platz frei in der Gîte?“ „Ja, es sind noch Plätze frei.“ antwortet Madame Frogé freundlich lächelnd. Nachdem ich einen Stempel in mein Créanciale erhalten und das Zimmer bezogen habe, verlasse ich noch mal die Gîte, um mich im Lebensmittelgeschäft mit Proviant für die morgige Etappe einzudecken. Kaum bin ich in der Dorfmitte angelangt, da ziehen unvermittelt zwei Pilger, jeweils mit vollgepacktem Rucksack auf dem Rücken, an mir vorbei. Einer der beiden, ich traue meinen Augen kaum, trägt sogar eine Prozessionsstandarte vor sich her. „Bon giorno!“ „Ultreia!“ Wenige Augenblicke später sind die beiden Pilger bereits hinter der nächsten Straßenecke verschwunden. Kaum habe ich mich von dem ungewöhnlichen Anblick der Prozessionsstandarte erholt, folgen zwei weitere Pilger, wohl ein Ehepaar. „Bon giorno!“ Die Frau bleibt einen Moment stehen und plauscht – in gutem Deutsch – mit mir: Die beiden Pilger kommen aus der Nähe von Florenz und sind auf der Via Tolosana zum Col du Somport unterwegs. „Buen camino!“ „Ultreia!“ Dann setzen die beiden ihren Weg fort.
Am Abend in der Gîte sitze ich im flackernden Kerzenlicht mit zwei anderen Wanderern gemütlich zusammen, die noch dazugekommen sind, Annick, eine junge Studentin, und Kai, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar und Schnauzer. Die Studentin berichtet, dass die Germanistik-Fakultät dieses Semester ein Seminar zum Thema „Mordfall Jesu“ anbietet: „Die Aufgabe der Seminarteilnehmer besteht darin, die Darstellung von Prozess und Kreuzigung Christi in den Evangelien mit Hilfe der historisch-kritischen Auslegung unter Berücksichtigung außerbiblischer Quellen auf Plausibilität zu untersuchen.“ „Mordfall Jesu! Das ist doch abwegig!“ empört sich Kai, mit großen, dümmlich Augen hinter seiner Brille. „Das war ein regulärer Strafprozess nach römischem Recht. Die Anklage lautete auf staatsfeindlichen Aufruhr, Anstiftung zum Aufstand und Majestätsbeleidigung. In Anbetracht dieser schweren Delikte war das Todesurteil nur konsequent. Von einem Justizmord kann nicht die Rede sein!“ erklärt Kai im Brustton der Überzeugung. „Mordfall Jesu“, schüttelt Kai verständnislos mit dem Kopf. Ich nippe leicht am Weinglas. Annick jedoch reagiert pikiert: „Bei dem Seminar geht es doch ausschließlich darum, verschiedene Aspekte im Zusammenhang mit der Kreuzigung zu untersuchen, und nicht darum, den Seminar-Titel mit juristischer Spitzfindigkeit zu kritisieren. Und überhaupt,“ gibt Annick schnippisch zurück „sind denn Geißelung und Dornenkrone mit einem regulären Strafprozess vereinbar?“ „Selbst wenn im Rahmen des Ermittlungsverfahrens verschärfte Verhörmethoden zur Anwendung gekommen sein sollten,“ blitzen die Augen des Juristen auf, „würde es sich dabei lediglich um unbeachtliche Verfahrensfehler handeln, die kein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen würden. Der Grundsatz des fairen Verfahrens müsste nämlich – angesichts der Schwere der im Raum stehenden Straftatbestände – in der Abwägung des Einzelfalles ganz sicherlich zurücktreten. Im übrigen“ fügt der Jurist aus Karlsruhe hinzu „konnte sich Jesus als einfacher Einwohner der Provinz Judäa nicht auf das römische Bürgerrecht berufen, das ihm im Rahmen des Strafprozesses gewisse Privilegien gewährt hätte. Denn die Provinz Judäa war römisches Besatzungsgebiet, in dem lediglich das gewöhnliche Feindrecht zur Anwendung kam.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob die Rechte von Jesus Christus im Prozess ausreichend gewahrt wurden.“ erklärt Annick weinerlich, während sich ihre Kulleraugen mit Tränen füllen. „Im Rahmen der Hauptverhandlung hatte der Angeklagte doch ausreichend Gelegenheit, zum Tatvorwurf Stellung zu nehmen.“ stellt Kai klar, während er mit großen, verständnislosen Augen auf Annick blickt. „In der richterlichen Vernehmung durch Pontius Pilatus räumte der Angeklagte doch selbst ein, dass er sich die Königswürde anmaßte. Kaiser Augustus hatte aber nach dem Tod von Herodes das Tragen des Königstitels in dem einstigen Königreich Judäa ausdrücklich verboten. Mit der Anmaßung der Königswürde hatte Jesus daher die Autorität des römischen Kaisers öffentlich in Frage gestellt.“ Eine betretene Stille tritt ein. „Der Mann legt Gesetz und Recht wahrlich meisterhaft aus, wie es wohl nur deutsche Juristen nach gründlichem Studium beherrschen.“ denke ich bei mir und entkorke die nächste Flasche Wein „In einem schwierigen Abwägungsprozess führt er alle relevanten sachlichen Gesichtspunkte – immer unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit selbstverständlich – einer zutreffenden rechtlichen Würdigung zu.“ Ich fülle die Weingläser nach. „Er wendet das Recht mit deutschem Augenmaß auf den konkreten Einzelfall an.“ „Abgesehen davon, „ fügt der Jurist aus Karlsruhe dümmlich, aber zugleich tiefernst hinzu „stellte der Einzug in Jerusalem auf einem Esel eine ungeheuerliche Provokation dar, die den Bestand der römischen Herrschaft auf dem Gebiet des einstigen Königreiches Judäa in seinen Grundfesten erschütterte. Mit seiner Kritik an dem Tempelkult am Vortag des Pessach-Festes schürte Jesus doch vorsätzlich Unruhen und Aufruhr in Jerusalem und führte damit eine gefährliche Destabilisierung der politischen Verhältnisse in den Gebieten des einstigen Königreiches Judäa herbei.“ Annick schaut ihn fassungslos an. „Aus Gründen des Staatsräson“ fügt er ungerührt hinzu „musste Pontius Pilatus hart durchgreifen und die Todesstrafe gegen den Rädelsführer verhängen.“ „Todesstrafe!“ ruft Annick empört aus. „Sicherlich ein hartes Urteil.“ räumt Kai unumwunden ein. „Aber das harte Strafmaß macht den Strafprozess noch lange nicht zum Justizmord. Ansonsten müsste man ja jede Hinrichtung in Florida oder Peking als Justizmord anprangern.“ Mit großen tränengefüllten Augen schaut Annick ihn an. „Das Todesurteil gegen den Nazarener“ stellt der Jurist aus Karlsruhe ungerührt fest „war rechtlich einwandfrei.“ „Lasst uns anstoßen!“ fordere ich Annick und Kai auf und hebe das Glas „Auf die Via Tolosana!“ „Auf die Via Tolosana!“