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Kapitel 2 2. Saint Gilles du Gard – Vauvert: Zwischen Weinreben und Kirschbäumen

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Am späten Vormittag breche ich vom Maison des Pélérins zur zweiten Tagesetappe auf. Bedächtig laufe ich die Rue de la République hinab durch das mittelalterliche Stadttor von Saint Gilles du Gard. Bei strahlend blauem Himmel und angenehmen Temperaturen gelange ich schon bald auf den Sentier de Cougourlier, der mich durch blühende Apfel-, Pfirsich- und Aprikosenplantagen und manche noch kahle Weinfelder führt. In sämtlichen Obstplantagen und Weinfeldern haben die Landwirte mittlerweile Wasserrohre im Erdboden verbuddelt. Auf diese Weise ist jeder einzelne Obstbaum, jede einzelne Weinrebe im Wurzelbereich mit einem Wasseranschluss ausgestattet und wird bei Bedarf gezielt mit Wasser versorgt. Auf einer kleinen Weide nebenan hüpfen Lämmer blökend um ihre frierenden Mutterschafe. Der Schafzüchter lässt sich kurz bei der Schafschur stören und versichert mir, dass ich mich weiterhin auf der Via Tolosana in Richtung Vauvert befinde. Beruhigt setze ich meinen Weg auf dem Sentier de Cougourlier fort. Auf beiden Seiten des Weges breiten sich nun unzählige, geordnete Reihen von frühlingshaft kahlen Weinreben aus. Beinahe könnte man meinen, die Weinplantagen würden sich bis zum Horizont erstrecken, derart gründlich haben die Winzer das flache Mündungsdelta der Rhône für den Weinanbau genutzt. Inmitten dieser ausgedehnten Anbaugebiete erheben sich die palastartigen Weingüter der Winzer. Plakative Schilder am Rande der Straße laden interessierte Weinkenner zur Verkostung in den Weinkellern ein. In glühender Mittagshitze stoße ich auf den Canal du Rhône-Languedoc, einen breiten Wasserkanal aus Beton, durch den unablässig – fast geräuschlos – beträchtliche Wassermengen strömen. Damit wird sicherlich der gewaltige Wasserbedarf der Landwirtschaft für die Bewässerung der Reisfelder, der Obstplantagen und der Weinfelder gedeckt. Beim Anblick des Wasserkanals muss ich unwillkürlich an den römischen Pont du Gard denken, der – nur wenige Kilometer entfernt – zusammen mit seinen Aquädukten über mehrere Jahrhunderte die Wasserversorgung der Stadt Nîmes absicherte. Auf drei Etagen mit einer Gesamthöhe von 49 Metern überquert der Pont du Gard bis heute das Flusstal des Gardon. Auf der obersten Ebene flossen täglich etwa 20.000 m³ Quellwasser durch eine Röhre aus wasserundurchlässigem Beton in Richtung Nîmes. Zusätzlich dichteten die Bauingenieure die Betonröhre mit einer rötlichen Paste aus Wein, gelöschtem Kalk und Fett ab, um etwaige Leckagen des Aquäduktes auszuschließen. Auf der Gesamtstrecke von 50 km haben die Bauingenieure dabei – mit Blick auf die Vermessungstechnik – eine wirklich staunenswerte Leistung vollbracht, denn das durchschnittliche Gefälle des Aquäduktes betrug lediglich 24 cm auf einem Kilometer Wasserleitung. Eine ingenieurstechnische Meisterleistung! In Gedanken versunken marschiere ich noch mehrere Kilometer an dem schnurgeraden Wasserkanal aus Beton entlang, ehe mir eine rot-weiße Markierung signalisiert, dass ich den Canal du Rhône-Languedoc auf einer Brücke überqueren muss. Auf der anderen Kanalseite gelange ich in leicht hügeliges Terrain mit zahlreichen Apfel-, Pfirsich- und Kirschplantagen, die bereits in voller Blüte stehen. In den Bäumen brummen Bienen, Hummeln und andere Insekten von Blüte zu Blüte, um an dem schmackhaften Nektar zu saugen. In den kahlen Weinstöcken nebenan sind wohl noch einige Winzer mit Schnittarbeiten zu Gange, denn auf dem Feldweg stapelt sich bereits das aufgeschichtete Schnittholz zum Abtransport. Während ich mich, bei prallem Sonnenschein, den nächsten Anstieg hinauf quäle, verfluche ich meinen Rucksack, der allem Anschein nach enorm an Gewicht zugelegt hat. Von der Viehweide nebenan glotzen mich dabei Rinder mit großen Augen unverblümt an. Auf einer anderen Weide dürfen sich unterdessen glückliche Schweine grunzend in Schlammlöchern suhlen. Der zähe Anstieg zieht sich gewaltig in die Länge. Erst am späten Nachmittag erreiche ich endlich den Hügelrücken, von dem ein Hohlweg in einen verwunschenen Eichenwald führt. Nach der fast unerträglichen Hitze beim Aufstieg genieße ich den angenehm kühlen Schatten, den die breit ausladenden, knorrigen Eichen spenden. Auf dem Hohlweg geht es abwärts in ein idyllisches Tal, dann steigt der Weg wieder an, bis ich, vom Waldrand aus, in einiger Entfernung – endlich – den Ortsrand von Vauvert ausmachen kann. Gegen Einbruch der Dämmerung erreiche ich schließlich den heutigen Etappenort.

Während ich in der Altstadt nach einer privaten Herberge suche, kommt mir ein dezent gekleideter, älterer Herr in schwarzem Anzug und weißem Hemd entgegen, an dessen Brust ein großes, metallenes Kreuz baumelt. Über seinem grauen Rauschebart lugen winzige Augen hinter einer Hornbrille hervor. Spontan spreche ich ihn an: „Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht helfen? Ich suche eine Unterkunft.“ Der kräftige alte Herr räuspert sich erst einmal schwerfällig, bevor er mir in bestem deutsch erwidert: „Mal schauen, ob ich Ihnen helfen kann.“ „Sie sprechen ja ganz hervorragend deutsch.“ rufe ich überrascht aus. „In meiner aktiven Zeit habe ich mehrere Jahre als Militärseelsorger beim Euro-Korps in Mühlhausen gearbeitet.“ erklärt der ältere Herr. „Ach“, sage ich, „der Verband militärischer Einheiten europäischer Staaten, der zur Verteidigung der Europäischen Union sowie der Krisenintervention bei EU-Missionen dient. Am Euro-Korps beteiligt sich, wenn ich mich nicht irre, auch die deutsch-französische Brigade.“ „Ja, so ist es.“ erwidert der ehemalige Militärseelsorger lakonisch. Langsam und bedächtig tapst er durch die Altstadt voran. „Es gibt drei Kirchen in Vauvert, die reformierte Kirche,“ der ältere Herr bleibt stehen und zeigt in Richtung einer Kapelle, bevor er einige Schritte weiter tapst „die lutheranische Kirche und die katholische Kirche.“ der ältere Herr hält erneut inne und weist in Richtung Stadtzentrum „Die zwei protestantischen Kirchen haben sich bereits vor 150 Jahren getrennt.“ Er legt eine kurze Pause ein. „Vor 150 Jahren.“ wiederholt der ehemalige Militärseelsorger. Beeindruckt nicke ich. „Zwei protestantische Kirchen in einer Kleinstadt mit 10.000 Einwohnern? Das wundert mich, denn erst neulich habe ich gehört, dass in Frankreich lediglich 2 Prozent der Bevölkerung Protestanten sind, während sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zum katholischen oder muslimischen Glauben bekennt.“ „Ja, tatsächlich.“ bestätigt der ehemalige Militärseelsorger mit einem missmutigen Lächeln. „Im Departement Gard liegt der Anteil der Protestanten aber bei 10 bis 20 Prozent.“ Auf meinen fragenden Blick fügt er hinzu: „Das ist auf die Religionskriege im 16. Jahrhundert zwischen dem katholischen König und den protestantischen Hugenotten zurückzuführen. Im Verlauf dieses Konfliktes wurden die Hugenotten in die Gebiete südlich der Cevennen abgedrängt.“ Mit kleinen Schritten tapst er vorwärts. „In Frankreich besteht, wie Sie vielleicht wissen,“ der alter Herr hält an und wendet sich mir zu „eine Trennung von Staat und Kirche. In den staatlichen Schulen wird also kein Religionsunterricht erteilt. Die Schüler haben lediglich die Möglichkeit, während ihrer Freizeit den Religionsunterricht in der Gemeinde zu besuchen. Von diesem Angebot machen aber nur wenige Schüler Gebrauch, denn viele Eltern schicken ihre Kinder nicht zum Religionsunterricht.“ seufzt der ehemalige Militärseelsorger missmutig, bevor er weitertapst. Die Nacht ist bereits hereingebrochen, als wir endlich bei der Herberge eintreffen. Ich bedanke mich herzlich beim alten Herrn für seine Hilfsbereitschaft. „Bonne soirée!“

An der Pforte der Herberge erwartet mich bereits eine kleine Frau, die sich mit „Monica“ vorstellt. Sie führt mich in den Hof eines größeren Anwesens, öffnet einen Schuppen und knipst das Licht an. Eine kleine, saubere Kammer, aber nach der langwierigen Suche bin ich erleichtert, überhaupt eine Unterkunft gefunden zu haben. Entkräftet streife ich den Rucksack ab, entledige mich der Wanderschuhe und lasse mich rückwärts in das Bett fallen. Als ich mich in der Kammer umsehe, finde ich doch tatsächlich das erst kürzlich erschienene Buch „Immortelle Randonnée: Compostelle malgré moi“ von Jean-Christophe Rufin im Regal. Aus unerklärlichen Gründen hat Rufin, Mitglied der Academie Francaise, – wie Hape Kerkeling – eines Tages den Entschluss gefasst, auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu wandern. Spontan nehme ich das Buch aus dem Regal und blättere es durch. Bei einem Glas Wein – eine Flasche Wein habe ich noch zufällig im Rucksack gefunden – schmökere ich begeistert in seinen Beobachtungen über die erste Begegnung mit der für ihn bis dahin unbekannten Pilgerwelt. Mit dem scharfem Blick eines Wissenschaftlers seziert Rufin – sehr zutreffend – die unterschiedlichen Motive der Pilger auf dem Jakobsweg und ihre typischen Eigenarten. Höchst amüsant! Bis tief in die Nacht erheitere ich mich an seinen persönlichen Erlebnissen auf dem Camino de Norte, an der baskischen und kantabrischen Küste entlang, die Rufin wirklich sehr unterhaltsam zu präsentieren versteht.

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