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Kapitel 7 7. St.-Guilhelm-le-Désert – St.-Jean-de-la-Blaquière: Lehmverschmiert durch die Wildnis

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In den frühen Morgenstunden trete ich bei frischen Temperaturen vor die Herberge des Abbaye Carmel St. Joseph. Das Dorf St.-Guilhelm-le-Désert liegt zu dieser Stunde noch vollkommen im Schatten der umliegenden Berge. Ich verabschiede mich von Bernard und Jean. „Au revoir!“ „Buen camino!“ „Ultreia!“ Das sind die letzten Worte, die ich noch höre, bevor sich das Tor zur Herberge wieder verschließt.

Am Ortsausgang treffe ich einen alten Bauern, der mir die Streckenführung des GR 653 aus dem Seitental der Hérault-Schlucht erläutert und eine 15-Stunden Tour nach St. Jean-de-la-Blaquière ankündigt. Die Zeitangabe scheint mir für die heutige Etappe doch leicht übertrieben zu sein, aber vielleicht meint er auch die Strecke nach Lodève. Der alter Bauer zeigt auf die senkrechte Felswand am Ende des Seitentales: „Früher ist die Via Tolosana über den Fußweg durch die Felswand direkt nach St. Jean-de-la-Blaquière verlaufen. Sehen Sie?“ „Ja.“ Die zackigen Serpentinen zeichnen sich dunkel auf der hellen Felswand ab. „Die schroffen Felswände der Cevennen“ bemerke ich leichthin „sind schon sehr beeindruckend.“ Da lacht der alte Bauer lauthals auf: „Die Cevennen? Die Cevennen liegen 50 Kilometer nördlich von St.-Guilhelm-le-Désert und haben breite Täler, in denen Kastanienbäume wachsen. Das hier“ und weist er mit der Hand um sich, „Das hier sind lediglich die Ausläufer der Cevennen.“ „Ach! Gut zu wissen! Merci bien! Bonne journée!“ „Bonne route!“

Diesen guten Wunsch kann ich gut gebrauchen, denn gleich darauf beginnt der steile Anstieg an der Südflanke des Cirque de l'Infernet hinauf zum Hochplateau. In kleinen Schritten steige ich auf Schotterpfaden die engen Serpentinen an der Felswand hinauf. Und bei jedem einzelnen Schritt aufwärts spüre ich das gewaltige Gewicht des Rucksacks, das über die Schulterriemen schmerzhaft in meine Schultern schneidet. Schon kurz nach dem Einstieg in die Südflanke beginne ich, heftig zu schwitzen, obwohl im Schatten der Berghöhen, bei frischen Temperaturen, eigentlich ideale Bedingungen für eine Wandertour herrschen. Verschwitzt bleibe ich in einer Kehre stehen, atme tief durch und blicke auf die Felswand am Ende des Tales, in der sich der ursprüngliche Pilgerweg der Via Tolosana abzeichnet. Es kostet mich einige Überwindung, an die Felskante heranzutreten, um in die schwindelerregende Tiefe hinabzublicken. Dennoch wage ich einen kurzen Blick und weiß spätestens jetzt, dass jeder kleine Fehltritt auf dem lockeren Geröll fatale Folgen haben kann. Mit kleinen Schritten setze ich mich wieder in Bewegung. Quälend langsam steige ich die steilen Serpentinen des Cirque de l'Infernet weiter aufwärts, schwer atmend, immer wieder unterbrochen durch kleine Pausen. Mit letzter Kraft wuchte ich schließlich mich und den schweren Rucksack über einen Felsen auf das Hochplateau. Nach diesem kräftezehrenden Aufstieg von fast 400 Höhenmetern richte ich mich schweißnass auf und ringe um Luft. Die beeindruckende Fernsicht über das Hochplateau kann ich in diesem Augenblick nicht wirklich genießen – auch wenn die hellen Felsen der Cevennen, pardon, der Ausläufer der Cevennen im Licht der Sonnenstrahlen schimmern. Trotzdem herrlich!

Nach kurzer Verschnaufpause raffe ich mich auf, schultere den schweren Rucksack und breche zum nächsten Teilstück dieser strapaziösen Etappe auf. Auf dem Hochplateau durchquere ich nun eine karge Garrigue-Landschaft auf dem Weg zum Roc la Bissone. „…...Viele unser Zuhörer haben sicherlich keine konkrete Vorstellung von den Arbeitstagen in den Fabrikhallen und …... Wohnverhältnissen in den Arbeitervierteln. Vielleicht könnten Sie unseren Zuhörern einmal kurz erklären, wie die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in der Zeit der Industrialisierung in Europa aussahen? - Also ….. waren miserabel: Die Arbeiter schufteten sechs Tage in der Woche 10 bis 12 Stunden täglich. In den Fabriken kam es – aufgrund des unzureichenden Arbeitsschutzes – täglich zu schweren Arbeitsunfällen, wobei 10 % der davon betroffenen Arbeiter noch Minderjährige waren. In den Wohnvierteln der Arbeiter herrschten unzumutbare hygienische Verhältnisse: Krankheiten wie Tuberkulose, Pocken, Bleivergiftung gehörten zum Alltag einer Arbeiterfamilie. Aufgrund der niedrigen Löhne konnten sich die Arbeiter …..... medizinische Versorgung nicht leisten. In der Epoche der Industrialisierung lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Arbeiters in Europa bei kaum 40 Jahren. - Zu Beginn seiner politischen Betätigung trat Jean Jaurès als republikanischer Abgeordneter des Wahlkreises Castres im Parlament auf. Wie kam es, dass er wenige Jahre später bei einer Teilwahl als sozialistischer Kandidat im Wahlkreis Carmeaux antrat und das Mandat errang? -. ......... in seiner ersten Legislaturperiode fiel der junge Abgeordnete Jean Jaurès im Parlament als talentierter Redner auf, der sich durch seine geistige Unabhängigkeit und seine besondere humanistische Grundeinstellung auszeichnete. Die Ideale der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ waren für ihn keine bloßen Parolen, sondern ein politisches Programm für seine praktische Tätigkeit als Abgeordneter. Durch …..... Herkunft aus einfachen Verhältnissen war Jean Jaurès sicherlich für die Verhältnisse der Arbeiter und Bauern in besonderem Maße sensibilisiert und empfand einen tiefen Widerwillen gegen die krassen sozialen Gegensätze in ........................... Gesellschaft. Schon bei den nächsten Parlamentswahlen sollte ihm seine Parteinahme für die sozialen Belange der Arbeiter den Sitz im Parlament kosten. - Warum denn das? - Im Parlament, insbesondere aber in der Fraktion der Republikaner, hat man schon bald – teilweise mit Fassungslosigkeit und Entsetzen – die besondere Sensibilität von …...... Jaurès für die sozialen Verhältnisse der Arbeiterklasse registriert, die ihn in zunehmendem Maße in politischen Gegensatz zu den übrigen republikanischen Abgeordneten brachte. Bei den Parlamentswahlen 1889 stellten daher politische Gegner in seinem Wahlkreis Castres II einen starken Gegenkandidaten auf, um den noch jungen Abgeordneten Jean Jaurès politisch kaltzustellen.“ Der Himmel ist mittlerweile bedeckt, als ich beim Abstieg nach Le Barry uralte Mauerruinen aus neolithischer Zeit passiere. In der Ebene, die sich vor mir ausbreitet, fällt mir am Horizont eine Reihe von Windrädern auf, die fast schon mit dem dunstigen Himmel verschwimmen. „Der entscheidende Wendepunkt für Jean Jaurès war dann ….............. Streik der Minenarbeiter 1892 in Carmaux, den er als journalistischer Beobachter für die Zeitung „La Dépêche“ begleitete. Der Leiter der Fabrik Le Marquis de Solages, monarchistischer …......... im Parlament, hatte den Arbeiter Jean Baptiste Calvignac entlassen, nachdem dieser bei den Kommunalwahlen in Carmaux zum Bürgermeister gewählt wurde. Mit dem Streik forderten die Minenarbeiter – gegen den Fabrikherrn, gegen den Präfekten und dessen Gendarmerie – die Wiedereinstellung von Jean Baptiste Calvignac. Nach zehnmonatigem ….... erkämpften die Arbeiter die Wiedereinstellung von Calvignac, Le Marquis de Solages trat als Abgeordneter zurück. …............ Teilwahl im Januar 1893 suchten die Sozialisten in Carmaux daher einen Kandidaten und entschieden sich für Jean Jaurès.“ Nach der kleinen Ortschaft Le Barry marschiere ich zwischen ausgedehnten Weinplantagen zum Dorf Le Mellade, in dem ich kurz die Wasservorräte auffülle. Bei kühlem Wind ziehen sich dunkle Regenwolken immer bedrohlicher zusammen. „Die Wahl zum sozialistischen Abgeordneten von Carmaux bildete für Jean Jaurès den logischen Schlusspunkt einer politischen Entwicklung, die sich bereits zu Beginn seiner politischen Karriere abgezeichnet hatte. - Für welche politische Themen setzte sich der Sozialreformer Jean Jaurès in seiner Zeit als Abgeordneter ein? Welche Positionen vertrat er im Arbeits- und Sozialrecht? - Der Sozialreformer Jean Jaurès setzte sich für die Begrenzung der Arbeitszeiten, die Verbesserung der Arbeitssicherheit und – teilweise auch gegen heftige Kritik aus den Reihen der Sozialisten – für die Einführung der Rentenversicherung …. Arbeiter und Bauern ein, die zu gleichen Teilen durch Beiträge von Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Staat finanziert wurde und den Arbeitern und Bauern ab dem 65. Lebensjahr eine Rente zusicherte. Am Vorabend des 1. Weltkrieges forderte Jean Jaurès die Stärkung der Gewerkschaften, den Abschluss von Tarifverträgen, die Einführung eines Mindestlohnes sowie die Einführung einer Arbeitslosenversicherung. Das ist der Kernbestand des sozialen Europa...........“ Mit sorgenvollem Blick auf die Wetterlage eile ich nach Arboras in der Hoffnung, dort erst einmal einen Unterschlupf vor dem kurz bevorstehenden Regenschauer zu finden. Zu meiner Erleichterung bietet sich in Arboras das „Café + Atélier – Les Hommes d'Argiles“ dazu an, doch mein Klopfen bleibt leider unbeantwortet. Von der anderen Straßenseite ruft mir eine Frau zu, dass das Café seine Pforten in dieser Saison noch nicht geöffnet hat, als der Café-Betreiber, ein Tonkünstler in Arbeitskleidung, unerwartet doch noch die Tür öffnet. „Bonjour!“ Tatsächlich soll das Café erst in zwei Wochen öffnen. Der Café-Betreiber bietet mir aber freundlicherweise an, die Marquise aufzuziehen und einen Klappstuhl aufzustellen. Das Angebot nehme ich selbstverständlich gerne an. Keine Sekunde zu früh, denn kaum habe ich unter der Marquise Platz genommen, schon setzt ein heftiger Regenguss ein. Das Glück ist vollkommen, als der Café-Betreiber mir eine Tasse Kaffee mit Madelaine serviert. Während die Regentropfen lautstark auf die Marquise trommeln und auf die Straße niederprasseln, genehmige ich mir – mit einem wohligem Schauder – einen Schluck Kaffee. Rasch sammelt sich das Regenwasser auf der Straße in großen Wasserlachen, teilweise strömt es in breiten Bächen die Straße abwärts, während die Regentropfen unablässig auf die Marquise platschen. Beim Anblick dieses heftigen Regenschauers beiße ich umso zufriedener in die Madelaine. Als sich die Regenwolke dann endlich doch abgeregnet hat, schultere ich den lästigen Rucksack und setze die Etappe fort. Allerdings hat der Regenguss die staubigen Pisten am Rande der Äcker in matschige Feldwege verwandelt. Bei jedem Schritt sinke ich tief in den lehmigen Boden ein. Schon bald hängt ein dicker Erdklumpen an den Wanderschuhen und die Wanderhose ist lehmverschmiert. Aus der Talebene mit den Weinfeldern steigt die Via Tolosana nun in Serpentinen auf einem Waldweg einen Pass hinauf. Doch ein erneuter Regenschauer zwingt mich dazu, eiligst Schutz unter dem nächstbesten Baum zu suchen. Auf einem trockenen Sitzplatz, an einer Wegkreuzung, warte ich ab, bis der Landregen allmählich nachlässt. Bei leichtem Nieselregen setze ich dann zum letzten Teilstück der heutigen Etappe an. Auf einem wilden, unberührten Naturlehrpfad kämpfe ich mich durch das dichte Gestrüpp eines Eichenwaldes. Die Schlingpflanzen, die sich um die Eichen ranken, und die dornigen Sträucher klammern sich an mich und meinen Rucksack. Immer wieder verheddere ich mich und muss mich mühsam aus dem Klammergriff der Vegetation befreien. In dieser abenteuerlichen Wildnis schlängele ich mich, einsam und allein, langsam durch das Dickicht des Eichenwaldes.

Am späten Nachmittag erreiche ich dann, ziemlich unvermittelt, das Dorf St.-Jean-de-la-Blaquière. Auch wenn die Angaben des alten Bauern heute morgen über die Dauer der Etappe nach Lodève wohl leicht übertrieben waren, entscheide ich mich nach einem Blick auf die fortgeschrittene Uhrzeit, mein Nachtlager in der Gîte St. Jacques aufzuschlagen. Während des Abendessens gehen mir immer wieder die Zeilen von Jacques Brel, dem belgischen Liedermacher, durch den Kopf, der auf seinem letzten Album „Les Marquises“ in dem Chanson „Pourquoi ont-ils tué Jaurès?“ die Situation der Arbeiter am Fin de siècle – auf seine unnachahmliche Art – anschaulich und einprägsam darstellt: „Ils étaient usés à quinze ans, ils finissaient en débutant, les douze mois s'appelaient décembre, quelle vie ont eue nos grands-parents entre l'absinthe et les grand-messes, ils étaient vieux avant que d'être, quinze heures par jour le corps en laisse laissent au visage un teint de cendre, oui not' Monsieur, oui not' bon Maître.“ Und im Refrain wirft Jacques Brel die Frage auf: „Pourquoi-ont ils tué Jaurès? Pourquoi ont-ils tué Jaurès?“

Auf der Via Tolosana

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